Flüchtlinge nach Europa

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Nanna » Sa 22. Aug 2009, 15:51

Wir müssen unterscheiden zwischen den politischen Flüchtlingen, deren Zahl sich sehr in Grenzen hält, und denen, die aus anderen, vor allem wirtschaftlichen, Gründen nach Deutschland kommt. Ich würde lieber die Restriktionen beim politischen Asyl ein wenig lockern und dafür mehr Aussieben bei den Einwanderern, also vor allem Höhergebildete ins Land lassen. Das müsste natürlich einhergehen mit einer entsprechenden Infrastruktur, die solche Einwanderer willkommen heißt, d.h. entsprechende Gehälter für Akademiker und kostenlose Intensiv-Deutschkurse für ausländische Mediziner, um nur mal zwei Beispiele zu nennen.
Benutzeravatar
Nanna
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 3338
Registriert: Mi 8. Jul 2009, 19:06

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Sa 22. Aug 2009, 16:09

Wobei gerade wiederum letzteres durchaus fatal für die Auswanderungsländer sein kann, solange diese nicht tatsächlich politische Flüchtlinge sind.
Benutzeravatar
1von6,5Milliarden
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 5236
Registriert: Sa 25. Nov 2006, 15:47
Wohnort: Paranoia

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Nanna » Sa 22. Aug 2009, 17:21

Der Gedanke kam mir nach dem Schreiben des Beitrags auch und die Frage hat sich mir gestellt, ob das nicht wieder eine neue Form von Imperialismus darstellt, wenn man anderen Ländern permanent ihre Elite mit Bedingungen abzieht, zu denen diese nicht konkurrenzfähig sind. Andererseits gehen viele ausländische Studenten aus Heimatverbundenheit nach einer Ausbildung in den Industrieländern wieder zurück in ihre Herkunftsländer.

Egal, wie man es dreht und wendet, um ein starkes Bildungssystem kommt man auf keinen Fall herum. Am sinnvollsten wäre es ja sicherlich, wenn die eigenen Leute so gut ausgebildet wären, dass wir gar keinen Fachkräftemangel hätten.
Benutzeravatar
Nanna
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 3338
Registriert: Mi 8. Jul 2009, 19:06

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon ujmp » Sa 22. Aug 2009, 20:03

Nanna hat geschrieben:...ob das nicht wieder eine neue Form von Imperialismus darstellt, wenn man anderen Ländern permanent ihre Elite mit Bedingungen abzieht, zu denen diese nicht konkurrenzfähig sind.

Sehe ich nicht so. Die Leute, die herkommen wollen, sind völlig frei, stattdessen ihre Heimatländer mit aufzubauen, es ist deren Entscheidung, niemand zwingt sie zu etwas.
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Nanna » Sa 22. Aug 2009, 20:28

Das klingt immer so schön, wenn man es so formuliert. Aber würdest du im Supermarkt das minderwertige Produkt eines kleinen Produzenten kaufen, weil er aus deinem Heimatland kommt? Die meisten Menschen greifen dann doch aus wirtschaftlichen Gründen zum billigeren und besseren Produkt, auch wenn ein ausländischer Konkurrent damit Arbeitsplätze im eigenen Land gefährdet. Einem Unternehmen muss man keinen Vorwurf machen, wenn es einen kleinen Konkurrenten "totrüstet", aber hier werden ja ganze Länder zur Ader gelassen. Diese internationale Problematik auf die Einzelentscheidungen einiger weniger, mögen sie auch in noch so verantwortungsvollen gesellschaftlichen Positionen sitzen, zu reduzieren, halte ich für zu kurz gegriffen. Schaut man sich den Einzelnen an, kann man natürlich an das Verantwortungsbewusstsein appellieren, aber im großen Rahmen, wo es mehr um Statistiken und breite Menschenströme geht, muss man sich schon die dahinterliegende Mechanik ansehen. Und wenn ich mir da das Ködern ausländischer Hochqualifizierter mit Mitteln, die weitab von den Möglichkeiten des Heimatlandes sind, ansehe, entdecke ich durchaus Merkmale des informellen Imperialismus. Man kann natürlich so argumentieren, dass das Unterwandern fremder Gesellschaften, Volkswirtschaften und politischer Systeme immer auch an der Korrumpierbarkeit der dortigen Menschen lag, aber das ändert nichts daran, dass es eiskalt funktioniert, und zwar so gut wie immer. Dass Gesellschaften sich kollektiv gegen imperialistische Unterwanderung immunisieren konnten, große Gesellschaften noch dazu, ist mir aus der Geschichte jedenfalls nicht bekannt. Und wieso sollte man den Menschen dort auch Vorwürfe dafür machen, dass sie die Chancenlosigkeit ihrer Situation verlassen und in die Metropolen der Welt ziehen und ihre Einzelentscheidungen auch noch moralisch-patriotisch überladen? Wenn wir etwas gegen solche Entwicklungen tun müssen, dürfen wir nicht einfach sagen "Was kümmert es uns, wenn in anderen Ländern die dortigen Eliten durch unsere Gedankeklosigkeit ausbluten, ist ja deren Charakterschwäche", wir müssen uns die dahinterliegenden Prozesse ansehen und uns überlegen, wie wir dafür sorgen können, dass die gesellschaftlichen Eliten dieser Länder trotzdem stabil bleiben. Schließlich bekommen wir einen wertvollen "Rohstoff" im Austausch. Und zuletzt hat es auch eine ganz realpolitische Dimension, wenn Staaten unter Elitenabwanderung zerbrechen und nicht aus instabilen Strukturen herauskommen, keine Zivilgesellschaften aufbauen können und im schlimmsten Fall als failed states enden. Wir können nicht einerseits über Genitalverstümmelung und Aberglaube in Afrika jammern, andererseits aber auch nichts oder sogar Destruktives für die Entwicklung bzw. oft sogar erst Etalierung von Wissenschaft, Kunst und Kultur tun.

Möglich wäre ja beispielsweise, dass Auswandererstaaten von Hochqualifizierten bzw. Hochpotentialen eine finanzielle Entschädigung, Wissenstransfer oder Hilfe beim Industrieaufbaue bekommen, beispielsweise durch verbilligte deutsche Maschinen, dann hätte sogar unsere Wirtschaft etwas davon. Solche Projekte sind ja durchaus auch in der Entwicklungshilfe gang und gäbe, es ist also nicht so, dass entsprechende Möglichkeiten nicht existieren würden, was fehlt, ist der große Wurf bei der Organisation der Einwanderung.
Benutzeravatar
Nanna
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 3338
Registriert: Mi 8. Jul 2009, 19:06

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon ujmp » So 23. Aug 2009, 00:09

Das ist alles Ideologie und ich kann nur hoffen, dass keine Weltlenker mit solchen Gedanken an die Macht kommen. Du musst einfach die Leute fragen, was sie wollen. Sie wollen eben herkommen und ein gutes Leben haben, wir machen ihnen eine Freude und nehmen sie auf.

Außerdem können Länder, die "Hochqualifizierte" ausbilden, wohl kaum zu den ganz hilfbedürftigen gehören, wen meinst du denn? Die Araber haben z.B. durch das Öl wahnsinnig viel Geld. Dass so viele von ihnen nach unseren Maßstäben bitter arm sind, liegt nicht an uns, das liegt an ihnen und ihren mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen. Viele Länder in Asien mischen z.B. heute in der Wirtschaft in der ersten Reihe mit, die haben unsere deutsche 68er-Betroffenheit nicht nötig.

Die Flüchtlinge sind aber ein anders Thema. Die Bevölkerungen z.B. in der arabischen Welt explodieren seit Jahrzehnten. Z.B. hat sich die Bevölkerung des Irak seit 1945 verfünffacht (nur deshalb konnte Sadam Hussein einen Krieg nach dem anderen führen). Die jungen Leute werden erwachsen und finden sich in Ländern, deren Infrastruktur keinen Platz für sie hat. Dafür ist nicht die Kolonialgeschichte verantwortlich, sondern der Mangel an Verantwortungsgefühl oder an Verhütungmitteln. Diese Leute wollen irgendwo hin. Pakistan wird in wenigen Jahrzehnten 250 Mio. Einwohner haben. Lauter unzufriedene, zukunstlose, Massenwahre... Darauf brauchen wir eine Antwort.
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon 1von6,5Milliarden » So 23. Aug 2009, 10:20

Nicht-fiktives Beispiel: Insbesondere im südlichen Afrika und dort wiederum in den AIDS-Staaten herrscht m.W. ein enormer Mangel an ausgebildeten Krankenschwestern - und zwar auch weil in Europa (und in D) ein Mangel an Krankenschwestern herrscht. Hier werden sie deutlich besser gezahlt und da eine Mangel, dürfen Krankenschwestern gerne Einwandern, dort werden sie (eben) schlechter bezahlt (weil alles "billiger" ist und das System arm) und von AIDS bedroht - und weil viele ausgewandert sind, gibt es zu wenige Krankenschwestern die dadurch auch noch überlastet sind, was wiederum ein Punkt fürs auswandern ist.
Also erst mal nachdenken bevor man Unsinn einer Ideologie nachredet.

Wenn es uns passt, beuten wir also aus, wenn die Wirtschaftsflüchtlinge uns nicht passen, machen wir zu. Ja, man muss auch egoistisch denken (also an sich selber), aber nicht nur.
Benutzeravatar
1von6,5Milliarden
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 5236
Registriert: Sa 25. Nov 2006, 15:47
Wohnort: Paranoia

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Nanna » So 23. Aug 2009, 11:34

Das ist genau der Punkt. Ich hatte mit Hochqualifizierten nicht unbedingt Physik-Nobelpreisträger gemeint und ich habe bewusst auch Hochpotentiale mit eingeschlossen, also Menschen, die sehr intelligent, sehr ehrgeizig und sehr gut darin sind, Probleme zu lösen, die aber dann hier ausgebildet werden und von denen zumindest ein Teil natürlich auch hier bleibt und dann mit unserer Infrastruktur an unseren Problemen forscht. Ich stimme 1von6,5Milliarden zu, dass wir eine Balance zwischen Egoismus und Altruismus finden müssen, zumal ich ja auch angeführt habe, dass hilfsbedürftige Staaten auch ein Problem für uns darstellen.

ujmp hat geschrieben:Du musst einfach die Leute fragen, was sie wollen. Sie wollen eben herkommen und ein gutes Leben haben, wir machen ihnen eine Freude und nehmen sie auf.


Dagegen wäre auch nichts einzuwenden, wenn es nur um diese Menschen ginge. Sie hinterlassen aber ein ausgeblutetes Land und das manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Wer hat hier die verantwortlichere Position? Wir, die wir Geld und Infrastruktur hätten, bei entsprechendem Augenmerk auf das Bildungssystem die benötigten Fachkräfte doppelt und dreifach auszubilden, oder die Menschen, die in heruntergekommenen Ländern selbst als Mediziner ein perspektivloses Leben führen und in ihrem einzigen Leben ein kleines Stück vom großen Kuchen abhaben wollen? Die Länder, über die wir reden, haben zum Großteil kaum Spielraum, z.T. wegen drakonischer Vorgaben des IWF, wir haben ihn. Wir verhalten uns doch nicht weniger verantwortungslos, als die, die du anklagst, aber im Gegenteil zu denen hätten wir die Spielräume, es besser zu machen.

ujmp hat geschrieben:Die Araber haben z.B. durch das Öl wahnsinnig viel Geld. Dass so viele von ihnen nach unseren Maßstäben bitter arm sind, liegt nicht an uns, das liegt an ihnen und ihren mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen. Viele Länder in Asien mischen z.B. heute in der Wirtschaft in der ersten Reihe mit, die haben unsere deutsche 68er-Betroffenheit nicht nötig.


Ich rede nicht über Länder wie China, das bereits heute größere Forschungsetat hat als wir, oder über andere Tigerstaaten oder die Ölstaaten (und nur um das gleich mal gesagt zu haben, es haben mitnichten alle arabischen Länder Öl, beispielsweise hängt Jordanien am Tropf der Saudis und der westlichen Entwicklungshilfe). Ich rede über ebensolche Staaten wie von 1von6,5Milliarden angeführt, wobei auch entwickeltere Staaten, beispielsweise in Osteuropa, unter den Fachkräftemagneten Westeuropa und USA zu leiden haben. Selbst innerhalb mancher Staaten, beispielsweise Italien, kommt es zu solchen Effekten, weil beispielsweise Lehrer (und sicherlich nicht primär die mit dem traditionalistischen Weltbild) den Mezzogiorno verlassen, um im Norden mehr Geld zu verdienen und einen besseren Lebensstandard zu haben. Das Verhältnis von Zentrum zu Peripherie ist ein altes Thema in der Imperialismusforschung. Metropolen neigen meist dazu, sich auf Kosten der peripheren Gebiete zu bereichern, das ist über Jahrtausende belegbar. Einerseits bringt der zivilisatorische Fortschritt in den Metropolen natürlich letztlich mit Verzögerung auch der Peripherie Vorteile, andererseits trägt er dazu bei, dass es zu einem starken Entwicklungsunterschied und oftmals einem dauerhaften Ausbluten peripherer Gebiete kommt. Ein Beispiel hierfür ist Afrika, das trotz seines Rohstoffreichtums und seiner uralten Kulturen seit Jahrhunderten Ausbeutungsstätte Nr.1 ist und auf sehr lange Sicht keine Perspektive hat, diesen Status zu verlassen.
Übrigens, alles, was nicht stockliberal ist, gleich mit der 68er-Keule zu erschlagen, das klingt für mich schon eher nach Ideologie.

ujmp hat geschrieben:Die Flüchtlinge sind aber ein anders Thema. Die Bevölkerungen z.B. in der arabischen Welt explodieren seit Jahrzehnten. Z.B. hat sich die Bevölkerung des Irak seit 1945 verfünffacht (nur deshalb konnte Sadam Hussein einen Krieg nach dem anderen führen). Die jungen Leute werden erwachsen und finden sich in Ländern, deren Infrastruktur keinen Platz für sie hat. Dafür ist nicht die Kolonialgeschichte verantwortlich, sondern der Mangel an Verantwortungsgefühl oder an Verhütungmitteln. Diese Leute wollen irgendwo hin. Pakistan wird in wenigen Jahrzehnten 250 Mio. Einwohner haben. Lauter unzufriedene, zukunstlose, Massenwahre... Darauf brauchen wir eine Antwort.


Als wären der von dir behauptete Mangel an Verantwortungsgefühl und der sicherlich vorhandene an Verhütungsmitteln von alleine einfach in die Welt geploppt... Nun ist zufällig die arabische Welt Gegenstand meines Studienfachs und ich nehme an, ein bisschen Ahnung von der Gegend zu haben. Seit dem Einsetzen des schleichenden Niedergangs des Osmanischen Reiches vor etwa 200 Jahren, aber z.T. schon seit jeher, ist der Nahe Osten aufgrund seiner zentralen Lage und als Wiege der Zivilisation und der drei großen monotheistischen Religionen das am stärksten politisch penetrierte System der Welt. Falls es dich näher interessiert, empfehle ich dir DAS Standardwerk zum Thema, nämlich "International Politics and the Middle East" von L.C. Brown.
Zu behaupten, die Kolonialgeschichte (im Nahen Osten gab es zum Großteil keine echte Kolonialisierung, sondern vor allem Herrschaft mittels des sog. "informellen Imperialismus", d.h. die Unterwanderung der Wirtschaft, die Korrumpierung regionaler Eliten, divide-et-impera-Politik, militärische Drohgebärden, hemmungslose Subventionierung "verwandter" Volksgruppen, z.B. europäische Händlerkolonien oder christliche Gruppierungen, und z.T. auch Besetzung geostrategisch relevanter Punkte, z.B. Aden durch die Briten) habe nichts oder nur wenig mit den heutigen Zuständen zu tun, ist Geschichtsklitterung par excellence.
Die Gesellschaften sind dort keineswegs mittelalterlich, sie sind, da sie sich genauso mit den Erscheinungen der Moderne auseinandersetzen mussten, wie unsere Gesellschaften, genauso modern wie unsere, sie leben nur ein völlig anderes und von uns oktroyiertes Verhältnis zur Moderne. Was macht denn solche Bevölkerungsexplosionen erst möglich? Keine mittelalterliche Gesellschaft hätte solche Menschenmassen ernähren können, erst die moderne Landwirtschaft ermöglicht das. Auch die Moralvorstellungen sind längst ein kruder Mischmasch aus traditionalen und modernen Elementen und Ideologien wie der Islamismus weisen genuin moderne Merkmale auf (kann dir dazu unter anderem die Bücher von Albert Hourani empfehlen, auch eine Auseinandersetzung mit der Muslimbruderschaft und insbesondere der Rolle Sayyid Qtubs schadet nicht).
Die Infrastruktur hat dort keinen Platz für diese Menschen, ja, das stimmt, aber hast du dir mal die naheliegende Frage gestellt, warum das so ist? In dem Teil der Welt mit imperialistischer Vergangenheit, ausgenommen sind hier die vormals kaum bevölkerten Staaten, die durch die Briten in Besitz genommen wurden, d.h. Nordamerika, Australien und Neuseeland, finden wir fast überall dasselbe Muster: Eine traditionale Gesellschaft wird überrannt von einer technisch weitaus überlegeneren Zivilisation, ein Staatswesen wird errichtet, das aber das Land vor allem unter dem Paradigma der wirtschaftlichen Ausbeutung betrachtet und entsprechend wird eine Infrastruktur errichtet. Im Gegensatz zu Europa, wo die Infrastruktur mit dem Ziel geplant wird, der Bevölkerung zu nutzen, wird sie dort mit dem Ziel geplant, dem Land etwas wegzunehmen. Man findet da überall dieselben Muster, eine Hafenstadt wird gebaut und dann werden Stichbahnen zu den großen inländischen Städten und vor allem zu Rohstofflagern errichtet, alles ist auf den Export ausgerichtet. Kaum einer hat danach gefragt, was der Bevölkerung dort dienlich wäre. Ähnliche Probleme finden sich beim Aufbau der Bürokratie, die oftmals auch nach dem Nutzen für die Besatzer und nicht nach dem besten Modell für eine bestimmte vorhandene Gesellschaftstruktur geplant wurde. Auch die Bildungssysteme wurden im Rahmen der "mission civilatrice" bzw. "withe man's burden" nicht als eigene Systeme dieses Landes aufgebaut, also mit einer Modernisierung der Landessprache und Einbindung des kulturellen Erbes verbunden, sondern eine europäische Vorstellung von Bildung, verbunden mit der Sprache des Besatzers, wurde installiert und beschädigte das gewachsene Verhältnis der Menschen zur eigenen Kultur. In vielen Ländern, die unter dem Imperialismus litten, sehen wir heute einen verwirrten Kampf um die eigene Identität.
Als nächstes wurde oftmals noch ein bedeutender Teil dieser Infrastruktur in Unabhängigkeitskriegen zerstört, es entwickelte sich ein furchtbarer Hass auf alles westliche, z.T. auch auf die Seiten, die wir als gut empfinden würden. Was zurückblieb, war ein fürchterliches Chaos aus tradierten Vorstellungen, westlichen Kulturvorstellungen, (zu) komplizierten Industrieprodukten, die nicht effektiv eingesetzt werden konnten, Unerfahrenheit der Bevölkerung im politischen Diskurs, korrupte Bürokratiestrukturen, Übernahme des Bereicherungsdenkens von den Besatzern (überlege dir doch bitte einmal, wer diesen Gesellschaften vorgemacht hat, dass verantwortungsloser Egoismus zum Ziel führt) usw., die Liste lässt sich fast endlos fortsetzen.
Kurz gesagt: Unsere europäischen Vorfahren hatten einen erheblichen Anteil daran, diese Länder, inklusive ihrer Grenzen, ihrer Staatsstruktur und politischen Kultur zu dem zu machen, was sie heute sind. Uns jetzt vor der Verantwortung zu drücken und munter zu sagen, dass es ja die völlig freie Entscheidung dieser Leute sei, ein kaputtes Land zu verlassen, um dorthin zu ziehen, wohin Jahrhunderte zuvor der ganze Reichtum ihrer ursprünglichen Heimat hin abgezogen wurde, halte ich erst für so richtig unbedacht und verantwortungslos. Und sag nicht, dass der Imperialismus schon lange vorbei sei, auf informellem Wege sind wir in Teilen der Welt nach wie vor imperialistisch aktiv, auch Deutschland (beispielsweise sind Entwicklungshilfen, die an politische Vorgaben gebunden sind, auch imperialistische Mittel, ganz zu schweigen vom IWF). Manche Länder, wie Ägypten und Tunesien ziehen heute noch einen irren Schuldenberg aus der imperialistischen Epoche mit sich herum. Diese Schulden wurden einst auf Druck der Europäer aufgenommen und verhindern bis heute eine nachhaltige und freie Entwicklung dieser Länder. Und es gibt noch extremere Beispiele: So stehen in Italien heute 2/3 der Kunstschätze Europas, das meiste davon geht auf das römische Reich oder Nachfolgestaaten, die dessen infrastrukturelle Überbleibsel nutzten, zurück (dazu gehört u.a. der Vatikan). Wir haben es hier also mit dem Erbe eines Imperialismus zu tun, der seinen Höhepunkt vor fast zwei Jahrtausenden hatte. Solche Strukturen sind also äußerst langlebig und auch wenn sich das in der modernen Zeit ändert und Veränderungen an sich eine ungeheure Dynamik bekommen haben, kann nicht erwartet werden, dass die geschädigten Völker sich aus eigenem Antrieb von heute auf morgen regenerieren.

Nun zu Lösungsansätzen:
Wir haben eine Verantwortung auch für die Zukunft dieser Gesellschaften und das schwierige dabei ist, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen müssen, dass wir die Menschen dort diesmal nicht von obenherab behandeln. Dass wir, um auf den Anfang zurückzukommen, lieber versuchen, eigene Kräfte zu rekrutieren und von schwächeren Ländern abgezogene Kräfte entsprechend goutieren, wäre meiner Meinung nach ein sinnvoller Beginn. Beispielsweise könnten wir für eine bestimmte Anzahl an Krankenschwestern aus armen Ländern im Gegenzug dort ein Ausbildungszentrum für Krankenschwestern errichten. Es gibt auch extremere Ideen, beispielsweise, dass jeder westliche Staat jährlich ein paar Prozent seines BIP abdrücken soll und damit die Entwicklungsländer wirtschaftlich und gesellschaftlich entwickeln soll, um dem Extremismus Einhalt zu gebieten. Aus Sichtweise eines libertären Denkers ist das eine Katastrophe, wenn man sich aber überlegt, dass wir auf einem Planeten leben und die Menschen überall dieselben Rechte haben sollten (was bisher vor allem ein Lippenbekenntnis war) und was die vielen Flüchtlinge in Europa und die humanitären Einsätze so kosten und oftmals nur wieder neue Feindschaft schaffen, z.B. in Afghanistan, dann ist die Idee gar nicht mehr so abwegig.
Benutzeravatar
Nanna
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 3338
Registriert: Mi 8. Jul 2009, 19:06

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon ujmp » So 23. Aug 2009, 12:41

Nanna hat geschrieben: die du anklagst

Ich klage niemanden an, sondern ich verteidige mich gegen deine klischeehaften Weltverbesserungsvorschäge, die mich anklagen.

Nanna hat geschrieben:wobei auch entwickeltere Staaten, beispielsweise in Osteuropa, unter den Fachkräftemagneten Westeuropa und USA zu leiden haben.


"leiden", ach Gott! Wer in einer besseren Welt leben will, muss sie sich schaffen. Die Russen habe einen Bildungstand wie die USA und Rohstoffe bis zum abwinken, es liegt ganz an ihnen was sie daraus machen. Sie leiden nicht unter dem Imperialsmus oder Kommunismus. Es sind Menschen, die unter sich leiden.

Nanna hat geschrieben:Übrigens, alles, was nicht stockliberal ist, gleich mit der 68er-Keule

Sorry, aber dein Sprachverhalten erinnert doch sehr daran, es ehrt dich aber, dass dich der Spruch beleidigt :2thumbs:


Nanna hat geschrieben: Was macht denn solche Bevölkerungsexplosionen erst möglich? [...] erst die moderne Landwirtschaft ermöglicht das.


Mag sein, aber das ist nicht das Problem, denn wir haben hier noch bessere Landwirschaft und auch ein dafür geeigneteres Klima: Aber wir verdoppeln uns nicht alle 10 Jahre. Der Hunger ist doch nicht durch die bessere Landwirschaft entstanden - absurd!


Nanna hat geschrieben:Die Infrastruktur hat dort keinen Platz für diese Menschen, ja, das stimmt, aber hast du dir mal die naheliegende Frage gestellt, warum das so ist?


Ja, die Antwort war ja mein Ausgangspunkt: Weil sie unverantwortlich Nachkommen zeugen. In Deutschland würde es gelinde gesagt recht unerfreulich aussehen, wenn wir heute 400 Mio Einwohner hätten (was der Wachstumsrate des Irak entspäche). Das ist nicht unsere Schuld, verstehst du?

Nanna hat geschrieben: Kurz gesagt: Unsere europäischen Vorfahren hatten einen erheblichen Anteil daran, diese Länder, inklusive ihrer Grenzen, ihrer Staatsstruktur und politischen Kultur zu dem zu machen, was sie heute sind.


Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Diese Völker waren zunächst einmal Opfer ihrer Rückständigkeit. Nich alle außereuropäsichen Kulturen haben das mit sich machen lassen (z.B. Japan nicht). Und vorallem kommt es darauf an, was diese Völker heute machen. Ich kann niemanden in seinen Glaube oder seine Werte hineinreden (was du wahrscheinlich als Philosophieimperialismus bezeichnen würdest). Viele Iraner zeigen heute, dass sie etwas anderes wollen, und sie bestimmen selbst, was das sein wird. Im Nachbarland Irak, haben das die Amerikaner bestimmt - so scheint es nicht zu funktionieren.
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Nanna » So 23. Aug 2009, 13:09

Klar können wir das Rad der Zeit nicht zurückdrehen und natürlich haben diese Länder auch und zuallererst eine Eigenverantwortung. Ich halte es lediglich, angesichts der historischen Umstände und auch wegen genereller Überlegungen, nicht für zielführend, wenn wir alles in der Welt dem freien Markt überlassen. Kooperation sollte global größer geschrieben werden und die Tatsache, dass das bisher nicht effektiv versucht wurde, spricht nicht dagegen, dass es funktionieren könnte. Dahinter steht bei mir nicht unbedingt eine linkstraditionelle Denkweise, sondern einfach die Erkenntnis, dass durch die Globalisierung die Lebensräume derart verdichtet wurden, dass es uns im Gegensatz zu früheren Zeiten direkt betrifft, wenn am anderen Ende der Welt irgendetwas passiert, sei es, dass ein Krieg ausbricht oder nur eine mittelständische Firma pleite macht, die dummerweise spezielle Dichtungsringe für Millionen Folgeprodukte hergestellt hat und mit ihrer Pleite die gesamte Produktion für Tage schachmatt setzt. Genauso betrifft es uns, wenn in failed states Terroristencamps aus dem Boden schießen und es sollte uns zumindest betreffen, wenn mit deutschen Handfeuerwaffen, wo wir zur Weltspitze im Export gehören, ganze Völkermorde bestritten werden. Und das Ganze funktioniert auch umgekehrt, im Gegensatz zu früheren Zeiten betrifft es uns nicht nur, wir können genauso in die andere Richtung Einfluss nehmen und ich denke, das sollten wir auch tun. Daher nochmal: Es geht uns etwas an, wenn in anderen Ländern Fachpersonal fehlt, weil wir es nicht hinbekommen, eigenes Personal effizient genug auszubilden und unsere Konditionen in keinem Verhältnis mehr zu denen des Herkunftslandes stehen. Ich will ja keiner Krankenschwester die Einwanderung in den Westen verbieten, aber ich kann die Tatsache, dass ihr Land damit ein kleines Stück weiter abrutscht, nunmal nicht ignorieren. Alles auf deren Rückständigkeit zu schieben, halte ich für bequem und ich denke, dass es auch unberücksichtigt lässt, sie Gesellschaften funktionieren. Diese Abläufe werden ja nicht erst seit gestern erforscht und vielerorts lassen sich in der historischen Forschung Ursache-Wirk-Prinzipien finden. Ich denke schon (wieder eine sehr "linke" philosophische Tradition), dass das Sein zumindest zum Großteil das Bewusstsein bestimmt und sehe demnach auch die Menschen in der größten Verantwortung, die die größte Macht haben, etwas am Sein zu verändern. Das dürften die Industrienationen von ihrem Machtpotential her wesentlich besser bewerkstelligen können, als ein Entwicklungsland.
Benutzeravatar
Nanna
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 3338
Registriert: Mi 8. Jul 2009, 19:06

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon ujmp » So 23. Aug 2009, 14:27

Nach meiner Auffassung haben kulturelle, politische, gesellschaftliche Entwicklungen eine Eigendynamik, und sind nur zum kleinsten Teil durch den Menschen bewusst lenkbar. Man muss deshalb erstmal schauen was läuft, und dass kann Ideologie nicht leisten. Gechichtsbetrachtungen (Historizismus) sind sowas wie Psychonanalyse: höchst irrtumsbehaftet (und dennoch populär).

Zu einigen deiner Vorstellungen neige ich auch, aber die Verantwortung für ihre eventuelle Durchsetzung würde ich auf Grund ihres spekulativen Charakters nicht übernehmen.

Vielleicht bringst du mal ein konkretes Beispiel, wo man das "ausbluten" eines armen Volkes studieren kann, oder eins, wo man es verhindert hat.
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Nanna » Di 25. Aug 2009, 10:27

Ich denke nicht, dass wir um Geschichtsbetrachtungen herumkommen, man kann sich ja um größere Exaktheit bemühen. ;-)

Zwecks konkreter Beispiele könnten wir uns doch gleich mal an die Krankenschwestern halten. Ich muss mich wohl ein bisschen korrigieren, wenn man der Wikipedia Glauben schenken darf, ist die Brain-Drain-Theorie mittlerweile überholt mit Ausnahme des ausbildungsintensiven Gesundheitssektors, der in allen Entwicklungsländern außer Kuba unterbesetzt ist. Außerdem ist auch von positiven ökonomischen Einflüssen, beispielsweise Wissenstransfer und Rücküberweisungen die Rede. Ein bisschen muss ich meine Theorie hier deshalb wohl zurückschrauben, aber gut, wieder mal klüger geworden.
Benutzeravatar
Nanna
Mitglied des Forenteams
Mitglied des Forenteams
 
Beiträge: 3338
Registriert: Mi 8. Jul 2009, 19:06

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon ujmp » Di 25. Aug 2009, 15:51

Nanna hat geschrieben:Ich denke nicht, dass wir um Geschichtsbetrachtungen herumkommen, man kann sich ja um größere Exaktheit bemühen. ;-)


Du hast natürlich recht, ich hab es zu radikal ausgedrückt. :2thumbs: Man darf die Geschichte nicht ignorieren. Und eigentlich bin ich auch nicht ganz so pessimistisch, was die Möglichkeiten politischer Einflussnahme betrifft - sicher kann man sich mehr oder weniger vernünftig verhalten.
Benutzeravatar
ujmp
 
Beiträge: 3108
Registriert: So 5. Apr 2009, 19:27

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon Spriggan » Fr 28. Aug 2009, 15:31

Die Frage, ob wir eine Mitverantwortung haben muss ich leider negieren. Der Kolonialismus war an sich eine schlechte Idee, positives (Infrastruktur, Medizin, etc..) und negatives (Sklaverei, neuartige Waffen etc...) hat sich dort ausgebreitet, aber anzunehmen, dass Hutsis und Tutsis erst nach der Kolonialisierung sich bekriegt haben ist grundlegend falsch.

Ich stelle immer gerne einige provokante Fragen bei solchen Themen:
War es falsch Medizin und Fortschritt in die afrikanischen Staaten zu bringen?
War es nicht richtig diesen Menschen dort zu ermöglichen, dass der Kindstod zurückging, und die Menschen durchschnittlich dort länger lebten?
Ist die Ursache der Überbevölkerung nicht letztendlich schuld an den Kriegen und Hungersnöten dort?
Sollten wir unsere Hilfslieferungen und Ärzte ganz zurückziehen, damit dort die Menschen so wie wir damals im 19.Jahrhundert selbst sich "weiterentwickeln" (Forschen, Kriege beseitigen?)?

Wir dürften keine Hilfe mehr anbieten, müssten sie sich selbst entwickeln lassen, keine Ressourcen mehr von dort nehmen - und falls jemand jetzt aufschreit und fragt wie man das nur machen kann...
ehrlich gesagt denke ich dabei immer an Star Trek und die erste Direktive: "Mische dich nicht in das Leben eines Volkes (auf einem Planeten) ein", lasse es sich weiter entwickeln und sei da, wenn sie einen Schritt weiter kommen, greife erst ein, wenn sie das Sternensystem unbewusst bedrohen....

Das Problem ist, dass einige Menschen dort oft so sehr in ihrer Opferrolle sind, dass sie niemals lernen können selbstständig zu leben. Das sieht man auch momentan hier in Deutschland deutlich - ein Sozialsystem das alle auffängt ist kein guter Antrieb für den Großteil der Masse um selbstbewusst "mehr" erreichen zu wollen.

Das ist wie gesagt alles sehr provokant, aber die Einmischung der Weltreligionen dort hat eigentlich genauso wenig Einfluss auf jene dort wie irgendwelche Hilfslieferungen. Wenn es ehrlich gesagt meinem Land schlecht geht, Wüste, Hungersnot etc.... dann würde ich versuchen dennoch die Menschenrechte dort versuchen hochzuhalten und dort zu überleben - letztendlich hat die Sozialisation in der Geschichte doch auch eins gezeigt:
Nur gemeinsam ist man stark, jedes Individuum ist gleich wichtig --- und Aufklärung ist der erste Schritt ... aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Solange aber man glaubt, dass Gott es schon irgendwie richten wird, sehe ich schwarz dafür, dass sich die Weltgemeinschaft gemeinsam weiterentwickeln kann.
Spriggan
 
Beiträge: 44
Registriert: Do 13. Aug 2009, 11:44
Wohnort: Düsseldorf

Re: Flüchtlinge nach Europa

Beitragvon xander1 » Fr 28. Aug 2009, 16:47

Was ist wenn dort gutartige Menschen leben, für die es Wert ist Hilfe zu leisten? Bei Nichteinmischung strömen hier noch mehr Flüchtline rein. Es gibt Außenpolitik, weil das Ausland auch für das Inland eine Rolle spielt.
Benutzeravatar
xander1
 
Beiträge: 2825
Registriert: Sa 12. Jul 2008, 07:52

Vorherige

Zurück zu Gesellschaft & Politik

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste