Das ist genau der Punkt. Ich hatte mit Hochqualifizierten nicht unbedingt Physik-Nobelpreisträger gemeint und ich habe bewusst auch Hochpotentiale mit eingeschlossen, also Menschen, die sehr intelligent, sehr ehrgeizig und sehr gut darin sind, Probleme zu lösen, die aber dann hier ausgebildet werden und von denen zumindest ein Teil natürlich auch hier bleibt und dann mit unserer Infrastruktur an unseren Problemen forscht. Ich stimme 1von6,5Milliarden zu, dass wir eine Balance zwischen Egoismus und Altruismus finden müssen, zumal ich ja auch angeführt habe, dass hilfsbedürftige Staaten auch ein Problem für uns darstellen.
ujmp hat geschrieben:Du musst einfach die Leute fragen, was sie wollen. Sie wollen eben herkommen und ein gutes Leben haben, wir machen ihnen eine Freude und nehmen sie auf.
Dagegen wäre auch nichts einzuwenden, wenn es nur um diese Menschen ginge. Sie hinterlassen aber ein ausgeblutetes Land und das manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Wer hat hier die verantwortlichere Position? Wir, die wir Geld und Infrastruktur hätten, bei entsprechendem Augenmerk auf das Bildungssystem die benötigten Fachkräfte doppelt und dreifach auszubilden, oder die Menschen, die in heruntergekommenen Ländern selbst als Mediziner ein perspektivloses Leben führen und in ihrem einzigen Leben ein kleines Stück vom großen Kuchen abhaben wollen? Die Länder, über die wir reden, haben zum Großteil kaum Spielraum, z.T. wegen drakonischer Vorgaben des IWF, wir haben ihn. Wir verhalten uns doch nicht weniger verantwortungslos, als die, die du anklagst, aber im Gegenteil zu denen hätten wir die Spielräume, es besser zu machen.
ujmp hat geschrieben:Die Araber haben z.B. durch das Öl wahnsinnig viel Geld. Dass so viele von ihnen nach unseren Maßstäben bitter arm sind, liegt nicht an uns, das liegt an ihnen und ihren mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen. Viele Länder in Asien mischen z.B. heute in der Wirtschaft in der ersten Reihe mit, die haben unsere deutsche 68er-Betroffenheit nicht nötig.
Ich rede nicht über Länder wie China, das bereits heute größere Forschungsetat hat als wir, oder über andere Tigerstaaten oder die Ölstaaten (und nur um das gleich mal gesagt zu haben, es haben mitnichten alle arabischen Länder Öl, beispielsweise hängt Jordanien am Tropf der Saudis und der westlichen Entwicklungshilfe). Ich rede über ebensolche Staaten wie von 1von6,5Milliarden angeführt, wobei auch entwickeltere Staaten, beispielsweise in Osteuropa, unter den Fachkräftemagneten Westeuropa und USA zu leiden haben. Selbst innerhalb mancher Staaten, beispielsweise Italien, kommt es zu solchen Effekten, weil beispielsweise Lehrer (und sicherlich nicht primär die mit dem traditionalistischen Weltbild) den Mezzogiorno verlassen, um im Norden mehr Geld zu verdienen und einen besseren Lebensstandard zu haben. Das Verhältnis von Zentrum zu Peripherie ist ein altes Thema in der Imperialismusforschung. Metropolen neigen meist dazu, sich auf Kosten der peripheren Gebiete zu bereichern, das ist über Jahrtausende belegbar. Einerseits bringt der zivilisatorische Fortschritt in den Metropolen natürlich letztlich mit Verzögerung auch der Peripherie Vorteile, andererseits trägt er dazu bei, dass es zu einem starken Entwicklungsunterschied und oftmals einem dauerhaften Ausbluten peripherer Gebiete kommt. Ein Beispiel hierfür ist Afrika, das trotz seines Rohstoffreichtums und seiner uralten Kulturen seit Jahrhunderten Ausbeutungsstätte Nr.1 ist und auf sehr lange Sicht keine Perspektive hat, diesen Status zu verlassen.
Übrigens, alles, was nicht stockliberal ist, gleich mit der 68er-Keule zu erschlagen, das klingt für mich schon eher nach Ideologie.
ujmp hat geschrieben:Die Flüchtlinge sind aber ein anders Thema. Die Bevölkerungen z.B. in der arabischen Welt explodieren seit Jahrzehnten. Z.B. hat sich die Bevölkerung des Irak seit 1945 verfünffacht (nur deshalb konnte Sadam Hussein einen Krieg nach dem anderen führen). Die jungen Leute werden erwachsen und finden sich in Ländern, deren Infrastruktur keinen Platz für sie hat. Dafür ist nicht die Kolonialgeschichte verantwortlich, sondern der Mangel an Verantwortungsgefühl oder an Verhütungmitteln. Diese Leute wollen irgendwo hin. Pakistan wird in wenigen Jahrzehnten 250 Mio. Einwohner haben. Lauter unzufriedene, zukunstlose, Massenwahre... Darauf brauchen wir eine Antwort.
Als wären der von dir behauptete Mangel an Verantwortungsgefühl und der sicherlich vorhandene an Verhütungsmitteln von alleine einfach in die Welt geploppt... Nun ist zufällig die arabische Welt Gegenstand meines Studienfachs und ich nehme an, ein bisschen Ahnung von der Gegend zu haben. Seit dem Einsetzen des schleichenden Niedergangs des Osmanischen Reiches vor etwa 200 Jahren, aber z.T. schon seit jeher, ist der Nahe Osten aufgrund seiner zentralen Lage und als Wiege der Zivilisation und der drei großen monotheistischen Religionen das am stärksten politisch penetrierte System der Welt. Falls es dich näher interessiert, empfehle ich dir DAS Standardwerk zum Thema, nämlich "International Politics and the Middle East" von L.C. Brown.
Zu behaupten, die Kolonialgeschichte (im Nahen Osten gab es zum Großteil keine echte Kolonialisierung, sondern vor allem Herrschaft mittels des sog. "informellen Imperialismus", d.h. die Unterwanderung der Wirtschaft, die Korrumpierung regionaler Eliten, divide-et-impera-Politik, militärische Drohgebärden, hemmungslose Subventionierung "verwandter" Volksgruppen, z.B. europäische Händlerkolonien oder christliche Gruppierungen, und z.T. auch Besetzung geostrategisch relevanter Punkte, z.B. Aden durch die Briten) habe nichts oder nur wenig mit den heutigen Zuständen zu tun, ist Geschichtsklitterung par excellence.
Die Gesellschaften sind dort keineswegs mittelalterlich, sie sind, da sie sich genauso mit den Erscheinungen der Moderne auseinandersetzen mussten, wie unsere Gesellschaften, genauso modern wie unsere, sie leben nur ein völlig anderes und von uns oktroyiertes Verhältnis zur Moderne. Was macht denn solche Bevölkerungsexplosionen erst möglich? Keine mittelalterliche Gesellschaft hätte solche Menschenmassen ernähren können, erst die moderne Landwirtschaft ermöglicht das. Auch die Moralvorstellungen sind längst ein kruder Mischmasch aus traditionalen und modernen Elementen und Ideologien wie der Islamismus weisen genuin moderne Merkmale auf (kann dir dazu unter anderem die Bücher von Albert Hourani empfehlen, auch eine Auseinandersetzung mit der Muslimbruderschaft und insbesondere der Rolle Sayyid Qtubs schadet nicht).
Die Infrastruktur hat dort keinen Platz für diese Menschen, ja, das stimmt, aber hast du dir mal die naheliegende Frage gestellt, warum das so ist? In dem Teil der Welt mit imperialistischer Vergangenheit, ausgenommen sind hier die vormals kaum bevölkerten Staaten, die durch die Briten in Besitz genommen wurden, d.h. Nordamerika, Australien und Neuseeland, finden wir fast überall dasselbe Muster: Eine traditionale Gesellschaft wird überrannt von einer technisch weitaus überlegeneren Zivilisation, ein Staatswesen wird errichtet, das aber das Land vor allem unter dem Paradigma der wirtschaftlichen Ausbeutung betrachtet und entsprechend wird eine Infrastruktur errichtet. Im Gegensatz zu Europa, wo die Infrastruktur mit dem Ziel geplant wird, der Bevölkerung zu nutzen, wird sie dort mit dem Ziel geplant, dem Land etwas wegzunehmen. Man findet da überall dieselben Muster, eine Hafenstadt wird gebaut und dann werden Stichbahnen zu den großen inländischen Städten und vor allem zu Rohstofflagern errichtet, alles ist auf den Export ausgerichtet. Kaum einer hat danach gefragt, was der Bevölkerung dort dienlich wäre. Ähnliche Probleme finden sich beim Aufbau der Bürokratie, die oftmals auch nach dem Nutzen für die Besatzer und nicht nach dem besten Modell für eine bestimmte vorhandene Gesellschaftstruktur geplant wurde. Auch die Bildungssysteme wurden im Rahmen der "mission civilatrice" bzw. "withe man's burden" nicht als eigene Systeme dieses Landes aufgebaut, also mit einer Modernisierung der Landessprache und Einbindung des kulturellen Erbes verbunden, sondern eine europäische Vorstellung von Bildung, verbunden mit der Sprache des Besatzers, wurde installiert und beschädigte das gewachsene Verhältnis der Menschen zur eigenen Kultur. In vielen Ländern, die unter dem Imperialismus litten, sehen wir heute einen verwirrten Kampf um die eigene Identität.
Als nächstes wurde oftmals noch ein bedeutender Teil dieser Infrastruktur in Unabhängigkeitskriegen zerstört, es entwickelte sich ein furchtbarer Hass auf alles westliche, z.T. auch auf die Seiten, die wir als gut empfinden würden. Was zurückblieb, war ein fürchterliches Chaos aus tradierten Vorstellungen, westlichen Kulturvorstellungen, (zu) komplizierten Industrieprodukten, die nicht effektiv eingesetzt werden konnten, Unerfahrenheit der Bevölkerung im politischen Diskurs, korrupte Bürokratiestrukturen, Übernahme des Bereicherungsdenkens von den Besatzern (überlege dir doch bitte einmal, wer diesen Gesellschaften vorgemacht hat, dass verantwortungsloser Egoismus zum Ziel führt) usw., die Liste lässt sich fast endlos fortsetzen.
Kurz gesagt: Unsere europäischen Vorfahren hatten einen erheblichen Anteil daran, diese Länder, inklusive ihrer Grenzen, ihrer Staatsstruktur und politischen Kultur zu dem zu machen, was sie heute sind. Uns jetzt vor der Verantwortung zu drücken und munter zu sagen, dass es ja die völlig freie Entscheidung dieser Leute sei, ein kaputtes Land zu verlassen, um dorthin zu ziehen, wohin Jahrhunderte zuvor der ganze Reichtum ihrer ursprünglichen Heimat hin abgezogen wurde, halte ich erst für so richtig unbedacht und verantwortungslos. Und sag nicht, dass der Imperialismus schon lange vorbei sei, auf informellem Wege sind wir in Teilen der Welt nach wie vor imperialistisch aktiv, auch Deutschland (beispielsweise sind Entwicklungshilfen, die an politische Vorgaben gebunden sind, auch imperialistische Mittel, ganz zu schweigen vom IWF). Manche Länder, wie Ägypten und Tunesien ziehen heute noch einen irren Schuldenberg aus der imperialistischen Epoche mit sich herum. Diese Schulden wurden einst auf Druck der Europäer aufgenommen und verhindern bis heute eine nachhaltige und freie Entwicklung dieser Länder. Und es gibt noch extremere Beispiele: So stehen in Italien heute 2/3 der Kunstschätze Europas, das meiste davon geht auf das römische Reich oder Nachfolgestaaten, die dessen infrastrukturelle Überbleibsel nutzten, zurück (dazu gehört u.a. der Vatikan). Wir haben es hier also mit dem Erbe eines Imperialismus zu tun, der seinen Höhepunkt vor fast zwei Jahrtausenden hatte. Solche Strukturen sind also äußerst langlebig und auch wenn sich das in der modernen Zeit ändert und Veränderungen an sich eine ungeheure Dynamik bekommen haben, kann nicht erwartet werden, dass die geschädigten Völker sich aus eigenem Antrieb von heute auf morgen regenerieren.
Nun zu Lösungsansätzen:
Wir haben eine Verantwortung auch für die Zukunft dieser Gesellschaften und das schwierige dabei ist, dass wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen müssen, dass wir die Menschen dort diesmal nicht von obenherab behandeln. Dass wir, um auf den Anfang zurückzukommen, lieber versuchen, eigene Kräfte zu rekrutieren und von schwächeren Ländern abgezogene Kräfte entsprechend goutieren, wäre meiner Meinung nach ein sinnvoller Beginn. Beispielsweise könnten wir für eine bestimmte Anzahl an Krankenschwestern aus armen Ländern im Gegenzug dort ein Ausbildungszentrum für Krankenschwestern errichten. Es gibt auch extremere Ideen, beispielsweise, dass jeder westliche Staat jährlich ein paar Prozent seines BIP abdrücken soll und damit die Entwicklungsländer wirtschaftlich und gesellschaftlich entwickeln soll, um dem Extremismus Einhalt zu gebieten. Aus Sichtweise eines libertären Denkers ist das eine Katastrophe, wenn man sich aber überlegt, dass wir auf einem Planeten leben und die Menschen überall dieselben Rechte haben sollten (was bisher vor allem ein Lippenbekenntnis war) und was die vielen Flüchtlinge in Europa und die humanitären Einsätze so kosten und oftmals nur wieder neue Feindschaft schaffen, z.B. in Afghanistan, dann ist die Idee gar nicht mehr so abwegig.