Sind wir alle Egoisten?

Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon provinzler » Mo 25. Feb 2013, 23:58

Nanna hat geschrieben:Das stimmt so pauschal nicht, provinzler. Auch wenn das vielleicht alles Wischiwaschi-Geisteswissenschaftler-Geschwätz ist, aber die Kultur und der vorherrschende Diskurs haben einen ENORMEN Einfluss auf das Individualverhalten. Wenn Altruismus ein gesellschaftlich gepflegtes Ideal ist oder wenn, gerade in ärmeren und lebensfeindlichen Gegenden häufig vorherrschend, die Kooperation mit anderen etwas ist, worauf man einfach angewiesen ist, wird auch viel mehr altruistisches Verhalten zu beobachten sein.

Natürlich kann man das auch wieder biologistisch erklären, aber das halte ich für Käse. Das klingt wie diese lächerlichen Thesen aus dem 19. Jahrhundert, dass Araber hitzige Gemüter haben, weil sie in der Wüste leben und Deutsche nachhaltig denken, weil sie seit Jahrtausenden zur Vorratshaltung gezwungen sind.


Ich rede hier auch von aggregierten Größen nicht von Individuen. Und bei größeren Gruppen wirken Anreizstrukturen, wenn auch manchmal mit einer gewissen Trägheit ziemlich zuverlässig. Als es in Indien eine Schlangenplage gab, setzte die britische Kolonialverwaltung hohe Prämien für jede vorgelegte tote Schlange aus. Was passierte. Die Leute haben angefangen Schlangen zu züchten. Sicher, wer aus religiösen oder andren Gründen Angst vor SChlangen hat, wird das auch weiterhin nicht tun, aber die Menge der Indifferenten oder Wankelmütigen, die kriegst du.
Wenn ich heute, weil ich blaue Ostereier so gern mag, eine Prämie von 200€ für jedes blaue Osterei auslobe, das jemand vorzeigt, wird mich das eine schöne Stange Geld kosten. Denn es wird genug Leute geben, die sonst nie Ostereier färben, die sich für die Kohle die Mühe machen und andre, die sonst 10 verschiedene Farben nehmen, machen heuer halt nur noch blaue. Jedenfalls dürfte sich im Auslobungsgebiet die Zahl an blauen Ostereiern sowohl absolut wie auch relativ deutlich erhöhen.
Und wenn das nun nicht ich mit meiner relativ begrenzten Zahlungsfähigkeit mache, sondern die Bundesregierung, die 50% der Wirtschaftsleistung jedes Jahr verfügen kann, dann wird sich auch jemand finden, der Fabriken baut, in denen Ostereier blau gefärbt werden. Und der Job als Hausfrau wird auch wieder begehrter. :lachtot:
Warren Buffett wird das vermutlich weiterhin zu doof sein, und ein eingefleischter FC Bayern-Ultra, der die Farbe blau nicht erträgt wird vielleicht auch nicht mitmachen. Aber prinzipiell kann ich das Verhalten deutlich beeinflussen. Alles eine Frage der subjektiv wahrgenommenen Opportunitätskosten.
Die können natürlich unterschiedlich hoch sein. Wenn du mir ein blaues Osterei versprichst, für den Fall dass ich @stine erschieße, werde ich dir bestenfalls den Vogel zeigen. Wenn du mir ne geladene Waffe an den Schädel hältst, und mir versprichst mich am Leben zu lassen für den Fall, dass ich @stine erschieße, wird die Sache für mich deutlich lukrativer. Insgesamt ist die Liste der Menschen, bei den ich dir "Knall mich ab" zurufen würde, ziemlich kurz. Auch wenn du mir sagst, du spielst russisches Roulette mit mir und von und zur bei jedem fünften Abdrücken im SChnitt kommt eine Kugel, wird das meine Entscheidung allenfalls bei Grenzfällen ändern, aber sicher nicht bei einem mir persönlich unbekannten Menschen. Und auf diese Entscheidung hat auch "die Gesellschaft" nicht sonderlich großen Einfluss. Mag sein, dass du aufgrund deines Wertesystems keine Schlangen züchten, keine Ostereier bemalen und niemanden abknallen würdest, dann meinen Respekt. Aber ich halte die Wette, dass ein hinreichender Teil unserer Mitmenschen ähnliche Entscheidungen treffen würden, wie von mir prognostiziert.
Und genau deswegen lassen sich bei gegebener Anreizstruktur, tendentielle Entwicklungen ziemlich gut vorhersagen...
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Di 26. Feb 2013, 07:34

provinzler hat geschrieben:Und der Job als Hausfrau wird auch wieder begehrter. :lachtot:
Der Hausfrauenjob ist der einzige, der überhaupt mit Altruismus zu tun hat. Dass man hierfür heute Prämien bezahlen MUSS ist doch der beste Beweis dafür, dass es nur noch Egoisten gibt. Ohne Kohle - keine Arbeit!

Dein Beispiel mit meiner Erschießung ist nicht lustig. Ich möchte, dass du dich dafür entschuldigst.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Di 26. Feb 2013, 11:40

@ provinzler und Nanna:

Vermutlich sind beide Aspekte richtig.
Es steht ja außer Frage, dass man das Verhalten von Menschen lenken kann, das ist ja Tenor der Diskussion. Die Diagnose ist, man kann, die Frage ist nun eher eine ethische: Wie weit sollte man dabei gehen, wie weit sollte man es treiben?

Hier werden dann wieder die Menschenbilder interessant. Aus einer Wirtschaftsperspektive betrachtet, würde ich immer sagen: Wo ist das Problem, klappt doch?
Aber nicht alle Wirtschaftsleute haben ein übermäßig starkes Interesse an ethischen oder politischen Fragen.

Aus einer naiven biologistischen Sicht könnte man dem zustimmen und argumentieren, dass der Mensch eben ist, wie er ist und dann eben per Gen oder Gehirn.

Je mehr gute Gründe oder auch nur pseudogute Gründe es für dieses Verhalten gibt, umso mehr wird es zur allgemeinen Überzeugung. Ich habe in der Geballtheit zwar selten einen größeren Mist gelesen, als die neurobiologische Position in der Diskussion um die Willensfreiheit und ich kenne viele, die keinen Pfifferling mehr auf diese These setzen, aber mir ist vollkommen klar, dass sich die meisten Leute für das Thema nicht interessieren und es sicher noch weitere 10 oder 20 Jahre das Echo geben wird, die Hirnforschung habe bewiesen, dass es den freien Willen nicht gibt.

Heißt, die Kuh ist noch längst nicht vom Eis und um mal von der grauen Theorie auf die Allltagsebene runterzukommen: Die ganzen Muttis, die ihre Kinder in Richtung Leistung um jeden Preis pushen wollen, damit das Kind „den Anschluss nicht verliert“, sind natürlich schon voll angefixt von diesem System, genau wie die Leute, die krank zur Arbeit gehen oder für 3 Euro anschaffen.
Man versucht nützlich für den Markt zu sein und lässt sich einreden, als einzelner könne man bedauerlicherweise auch nichts machen, man wirft auch ja auch nicht vor einen rollenden Zug.

Ich glaube dabei, dass die Rolle von Ich und Gesellschaft gar keine ganz oder gar nicht Geschichte ist, sondern, dass es in vielen Situationen des Lebens das Beste ist, was man machen kann, wenn man sich einfach in das Spiel einfügt: Im Straßenverkehr, an der Supermarktkasse und bei vielem Jobs, ist es gut und richtig, Teil des Systems zu sein, möglichst ein gut funktionierender.

Nur, ist auch das eben ein Teil des Lebens und in anderen Situationen bin ich als Individuum gefordert. Da geht es um meine Interpretation, darum, wie ich konkret mit Lebensproblemen umgehe. Oder im privaten Gespräch. Da will ich ja wissen, wie mein Gegenüber denkt und umgekehrt, wenn ich wissen will, wie man so denkt, kann die die Demoskopen befragen oder Zeitung lesen.

Der Trend geht aber deutlich weg von einer reifen Individualität, hin zu einer gefühlten Selbstwichtigkeit und Großartigkeit, die selbst schon wieder Stangenware ist. Hier ist es wieder wichtig, das ganze Bild zu sehen und nicht nur die Facetten. Bestimmte Rollen werden von diesen Menschen gut bis sehr gut (weil der gefühlte Selbstanspruch sehr oft auf Perfektion abzielt) erfüllt, übererfüllt.

Narzissten erfüllen fast perfekt das Anforderungsprofil an den willigen Arbeiter. Diese Menschen sind ungeheuer leistungsorientiert und dabei auch durchsetzungsstark. Sie zucken beim Aufstieg auf der Karriereleiter nicht zurück, weil sie aggressiver, ehrgeiziger und in einem gewissen Sinne auch opferbereiter sind.
Ihre Defizite haben sie im zwischenmenschlichen Bereich, was sie selbst nicht stört, da dieser Bereich ihnen oft nicht besonders wichtig ist. Vielfach einfach dadurch, dass hier Aufmerksamkeit und Bewunderung nicht in diesem Maße zu bekommen sind, wie im Beruf, in der Öffentlichkeit.
Wenn diese Menschen in Führungspositionen kommen, was aufgrund der beschriebene Eigenschaften nicht selten ist, geben sie den – durchaus wirtschaftsfreundlichen – Takt vor und die entsprechende Abteilung wird nach den narzisstischen Idealen, Leistungsbereitschaft ohne Empathie und Rücksicht auf Verluste, umstrukturiert.
In der ersten Zeit kann das durchaus wirtschaftlich erfolgreicher sein, in der Folge wächst allerdings in der Regel der Druck, weil nicht selten immer mehr Effizienz gefordert wird.

Inzwischen habe ich mir das Buch von Schirrmacher gekauft. Er vertritt im ersten Teil die These, die Spieltheorie sei im Rahmen militärischer Strategien des kalten Krieges erfunden worden und haben danach ihr Weltbild – jeder denkt nur an seinen Vorteil, jeder ist der Feind des anderen, alle versuchen nur sich mir Bluffs und Tricks gegenseitig zu übertölpeln – auf die restlichen Lebensbereiche, allen voran auf die Wirtschaft übertragen. Von dort aus habe diese Sichtweise unter dem Schlagwort des homo oeconomicus dann ihren Siegeszug angetreten.

Schirrmacher grast dann die verschiedenen „infizierten“ Lebensbereiche ab, aber ich bin erst ganz am Anfang des Buches. So weit ich das bisher sehe, finde ich da meine Ansichten sehr weitreichend wieder, mit dem Unterschied, dass Schirrmacher die Geschichte vom Militär und der Wirtschaft ausgehend erzählt und es mir eher um die psychologische Komponente geht, aber vielleicht kommt das bei Schirrmacher auch noch.

Hier würde auch mein Lösungsversuch ansetzen: Welche Fragen werden bei dem Wunsch oder der Anforderung nach immer mehr Effizienz übergangen, ausgeblendet, gar nicht mehr gestellt? Macht Effizienz und Konkurrenz auf allen Ebenen wirklich das/mein Leben besser? Ist die spieltheoretische Idee überhaupt zutreffend für alle Lebensbereiche? Wie kriegt man ggf. diese Idee wieder aus den Körpfen bzw. der Gesellschaft heraus, falls man meint, diese Idee sei nicht gut?
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Gandalf » Di 26. Feb 2013, 23:11

Hi

ich hab jetzt hier nicht alles gelesen und kenne das Buch und die Thesen von Schirrmacher nur aus verschiedenen (abschnittseisen) "Buchbesprechungen", wie z.B. hier:
Wirtschaft als Betätigungsfeld des Feuilletons
Was soll dieser gigantische Blödsinn? In dem Maße, in dem das Feuilleton neuerdings auch die Wirtschaft als bevorzugtes Betätigungsfeld entdeckt und täglich in langen Essays Ratschläge erteilt, wie man auf philosophierende Art und Weise die sogenannte Realwirtschaft zum Brummen und die in ihr arbeitenden Menschen zur Glückseligkeit bringen könnte und wie man in konkreto auch die Eurokrise überwinden könnte, richtet dieser neu eröffnete feuilletonistische Stammtisch Schaden ohne Ende an, und zwar in dem er auf großbramsige Art Verwirrung stiftet.

Linke Mitbürger lesen Kapitalismuskritik aus diesen Essays heraus, andere wärmen sich an den banalen Tipps zu mehr Europa, wie sie es sonst in der Predigt zum Sonntag tun. Zwischen Esoterik und ökonomischem Halbwissen und randvoll gefüllt mit epochaler BILDUNG und einem unersättlichen Drang den Leser mit immer neuen Sensationen zu schocken oder anzurühren, was noch schlimmer sei, und was wir alle noch mehr übersehen hätten, und was Niemand außer dem Autoren an weltgeschichtlichen, gar kosmischen Weichenstellungen gemerkt haben will, ist hier ein Buch vorgelegt worden, von dem man klugerweise die Finger lässt.


Auch hab ich ihn bei "Beckmann" gesehen. Es war für mich nicht überzeugend. Ich denke er verwechselt den von ihm kritisierten Egoismus in der Geselschaft mit [der 'Egozentrik' der Kollektivisten, die meint, das Altruismus darin bestünde, das man "anderen nutzt", indem man diese z.B. vor den Rauchern, Sexisten und Populisten, Kapitalisten, etc. durch Verbote und Vorschriften schützt. Der "unaufgeklärte Altruismus" der "Gutmenschen" also (was ja Bettina Röhl oben auch kritisiert) Allein der Wunsch etwas Gutes tun zu "wollen", wird als Altruismus empfunden. Da natürlich die Anerkennung der "guten Handlung" von den (bösen) Egoisten verweigert und deren nüchterne Rationalität diesbezüglich als Grausamkeit und Hartherzigkeit" empfunden wird, hat man auch schon die Ursache der Schlechtigkeit der Welt bei denjenigen gefunden, die sich nicht vom "Sein" beeindrucken lassen, sondern vom "Haben".

Grüße
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Gandalf » Mi 27. Feb 2013, 07:54

Noch eine kurze Überlegung:

Der "egoistische Kollektivist" leitet aus seinem (falschen) altruistischen Verhalten ab, das ihm die Gesellschaft etwas schuldet. - Andere Menschen haben für ihn da zu sein. Er hat 'das Recht' darauf. Und weil er nicht das Recht für sich offen einfordern will (das wäre ja "egoistisch"), formuliert er es so um, dass 'alle Menshen' das Recht darauf haben, das andere Menschen für sie da sind.

Der 'echte Egoist' hingegen, der sich regelmäßig auch zu seinem Egoismus bekennt und dadurch von den (Schein-)Altruisten angefeindet wird, - geht von Anfang an gar nicht davon aus, das andere für ihn da zu sein haben. Er hat ja selbst nicht das Recht dazu, das zu fordern. Er 'sucht' sich lediglich andere um mit ihenn zu seinem Vortiel in Interaktion zu treten Und je nach "Freundlichkeit" der Interaktion entsteht der Vorteil für den Egoisten und für den Anderen. Der Egoist unterlag niemals der (quasireligiösen) Zwangsneurose, die "Welt retten zu können".
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Mi 27. Feb 2013, 09:51

Es ist ja nun keine wirklich neue Erkenntnis, dass man im Grunde schon vorher weiß, wer wie auf was reagieren wird. Dafür gibt es ja (Online-)Zeitschriften und dergleichen, nicht damit man informiert wird, sondern damit man auf seine gewohnte Weise die Welt erklärt bekommt.
Insofern will ich mich jetzt auch nicht an der Kritik abarbeiten.
Tipp: Du könntest die zitierten Passagen vielleicht besser kenntlich machen.

Gandalf hat geschrieben:Auch hab ich ihn bei "Beckmann" gesehen. Es war für mich nicht überzeugend. Ich denke er verwechselt den von ihm kritisierten Egoismus in der Geselschaft mit [der 'Egozentrik' der Kollektivisten, die meint, das Altruismus darin bestünde, das man "anderen nutzt", indem man diese z.B. vor den Rauchern, Sexisten und Populisten, Kapitalisten, etc. durch Verbote und Vorschriften schützt.


Warum meinst Du, dass er das verwechselt, das ist doch schlicht ein ganz anderes Thema.

Gandalf hat geschrieben:Der "unaufgeklärte Altruismus" der "Gutmenschen" also (was ja Bettina Röhl oben auch kritisiert) Allein der Wunsch etwas Gutes tun zu "wollen", wird als Altruismus empfunden.

Da natürlich die Anerkennung der "guten Handlung" von den (bösen) Egoisten verweigert und deren nüchterne Rationalität diesbezüglich als Grausamkeit und Hartherzigkeit" empfunden wird, hat man auch schon die Ursache der Schlechtigkeit der Welt bei denjenigen gefunden, die sich nicht vom "Sein" beeindrucken lassen, sondern vom "Haben".


Ich glaube, dass ist einfach am Thema vorbei.
Jenen Egoismus, den Schirrmacher kritisiert, kreist er ja recht genau ein.
Seine These ist schlicht und ergreifend, dass die Ideen der Spieltheorie, geschaffen im und für den kalten Krieg, über den Export in die Wirtschaftswelt (die mit denselben Modellen arbeitet) ins alltägliche Leben Einzug gehalten hat.

Das ist vielleicht etwas monokausal, aber der Befund, dass der Egoismus in unserer Gesellschaft zunimmt, ist nun wirklich allgegenwärtig und zuerst wurde er in eher konservativen Lagern der Psychologie geäußert. Insofern ist der Stempel „linker Gutmensch“ einfach nur eine gewohnte Geste, um sich mit Kritik gar nicht erst auseinandersetzen zu müssen.

Es gab über Jahrzehnte so eine gefühlte, „natürliche“ Verwandtschaft zwischen marxisitischen und psychoanalytischen Ideen, die bei Licht betrachtet in einem Missverständnis oder einer Überinterpretation bestimmter Aspekte von Freuds Theorien lag.
Um es kurz auf den Punkt zu bringen, glaubten linke Theoretiker alles Übel der Welt sei im Grunde auf eine neurotische Hemmung durch eine zu starkes und lastendes Über-Ich (= eine zu patriarchale, strukturierende, dogmatische Reglementierung) zurückzuführen. Durch eine Hemmung sexueller und kreativer Triebe infolge dieser Überreglementierung sei dann der Schritt in eine reaktive Form von Aggressivität und Gewalt nur folgerichtig, auf der Anklagebank saßen die faschistischen Väter, mit ihrer Autoritätshörigkeit, häufig bezog man sich auf Adornos Forschungen dazu. Im Grunde ist das alles zum größeren Teil richtig, aber überzogen.

In den 1970ern erstarkte in der Psychoanalyse eine Gegenbewegung, getragen durch Kernberg, Lasch, A. Mitscherlich, um nur einige zu nennen, die – im Zuge einer neuen theoretischen Fundierung der Psychoanalyse – feststellten, dass eine Unterstrukturierung durch die abwesenden Väter viel größere psychische Schäden und viel tiefgreifendere Aggressionen auslöst (nämlich narzisstischer Art), als die neurotischen Hemmungen.

Das ist auch der Stand heute. Dieser Befund steht immer in der Gefahr zwei Begriffe zu verwechseln, bzw. zu schlampig mit ihnen umzugehen.
Lumen sprach es schon an, der Begriff „Egoismus“ ist unscharf definiert und der Begriff „Narzissmus“ ist neben „Trauma“ einer der ausgelutschtesten psychologischen Begriffe überhaupt.

Es gibt heute vielfach den Begriff des gesunden Egoismus und auch Narzissmus gibt es in einer gesunden Form, es ist in beiden Fälle einfach die Sorge um sich und der legitime Wunsch sich das Leben auch genussvoll und angenehm zu gestalten.
Die Etablierung eines gesunden Egoismus oder eines reifen Individualismus geht über das Nachahmen der jeweiligen Modetrends hinaus, ist postkonventionell.

Es gibt aber auch eine pathologische Zerrform, bei denen das Individuum nicht über die Konventionalität in einer gesunden Weise hinauswächst (wie das aussehen könnte, könnte man hier diskutieren), sondern jede Regel als persönliche Beschränkung, Kränkung und Beleidigung empfindet. Eine präkonventionelle Verweigerungshaltung, die vielfach beschrieben wurde und die leider immer häufiger gelebt wird.

Da nicht alle präkonventionellen Menschen dumm sind, gelingt es ihnen häufig ihren Egozentrismus ideologisch zu rechtfertigen. Darunter sind durchaus auch solche, die ihre an sich primitiv-aggressiven Wünsche nach Gewalt in vorgestanzte und oft schiefe Ideen pressen. Da findest Du dann durchaus auch den einen oder anderen „Gutmenschen“ darunter, aber allgemein gilt:
Otto Kernberg hat geschrieben: „In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Pathologie wiederspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer "messianischen" Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Pathologie. Dem gegenüber steht die Identifizierung mit differenzierten, offenen, nicht totalistischen Ideologien, die individuelle Unterschiede, Autonomie und Privatheit respektieren und Sexualität tolerieren, während sie einer Kollusion mit der Äußerung primitiver Aggression Widerstand leisten - all diese Eigenschaften, die das Wertesystem eines reifen Ich-Ideals charakterisieren. Eine Ideologie, welche die individuellen Unterschiede und die Vielschichtigkeit menschlicher Beziehungen respektiert und Raum für eine reife Einstellung zur Sexualität lässt, wird den Personen mit einem höher entwickelten Ich-Ideal attraktiv erscheinen. Kurz, Adorno, Green und ich stimmen darin überein, dass Ich- und Über-Ich-Aspekte der Persönlichkeit das Individuum zu übergroßer Abhängigkeit von konventionellen Werten prädisponieren. Es ist berechtigt zu sagen, dass der spezifische Inhalt des Konventionellen durch soziale, politische und ökonomische Faktoren beeinflusst wird: Die Universalität der Struktur der Konventionalität in der Massenkultur jedoch und ihre Attraktivität für die Massen sind nach wie vor erklärungsbedürftig.“
(Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung, Klett-Cotta 1998, S.297f )



Und um diese „Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht“, geht es. In dem Moment, wenn diese Kennzeichen schwerer Psychopathologien zum an sich normalen, intelligenten Weltbild werden, ja, wenn man als Trottel (oder abfällig als „Gutmensch“) dargestellt wird, wenn man mehr als das Kreisen um das eigene Ich im Sinn hat, dann ist das für alle nicht sonderlich gut.

Dieses Weltbild findet sich in den Teilen der Wirtschaft, in denen elitäres Denken ohne Rücksicht auf andere zum guten Ton gehört. Es findet sich im Biologismus, der davon ausgeht, dass unsere Gene uns zu Egoisten machen, weil Egoismus der Urtrieb ist und Kooperation immer nur bedeuten kann, zu kooperieren, damit man um so größeren Gewinn einstreicht. Es begegnet uns im (empirisch widerlegten) psycholgischen Egoismus, er begegnet uns in den simplifizierenden Ansätzen des Behaviorismus und in den philosophischen Gehversuchen der Hirnforscher der frühen 2000er.

Wenn man einem pathologischen Kollektivismus, der das Ich an seiner Entfaltung hindert kritisiert, was man m.E. mit einigem Recht tun kann und sollte, dann bringt es wenig, wenn man als Gegenentwurf eine noch primitivere Form der Entwicklung anbietet, nämlich ein Individuum, das die Fähigkeit zu nichtausbeutenden Sozialkontakten mehr und mehr einbüßt, man sollte schon wenigsten ein sozialkompetentes reifes Ich anstreben, das mehr als mürrischen Rückzug oder Lästereien zu bieten hat. Und da wäre sehr viel mehr zu finden...

Gandalf hat geschrieben:Noch eine kurze Überlegung:

Der "egoistische Kollektivist" leitet aus seinem (falschen) altruistischen Verhalten ab, das ihm die Gesellschaft etwas schuldet. - Andere Menschen haben für ihn da zu sein. Er hat 'das Recht' darauf. Und weil er nicht das Recht für sich offen einfordern will (das wäre ja "egoistisch"), formuliert er es so um, dass 'alle Menshen' das Recht darauf haben, das andere Menschen für sie da sind.


Klar schuldet ihm die Gesellschaft etwas. Das ist entwicklungspsychologisch längst ausbuchstabiert. Man gibt der Gesellschaft ja auch etwas, wenn auch zunächst, unbewusst, d.h. man ist in einen Mechanismus eingebunden, den man erst später versteht.
Triebverzicht ist das Geschenk. Man verzichtet auf die sofortige Erfüllung aller spontanen Impulse, zugunsten der anderen. Zugleich wird man Mitglied der Gemeinschaft, die einen in die Mitte nimmt, ver- und umsorgt und dieses Spiel funktioniert im Grunde ganz gut, sogar noch im Rahmen dieser Kosten/Nutzen-Rechnung. Nur ist das nicht der Endpunkt einer Gesellschaft, sondern der Anfang, trainiert wird das bereits in der Familie.

Gandalf hat geschrieben:Der 'echte Egoist' hingegen, der sich regelmäßig auch zu seinem Egoismus bekennt und dadurch von den (Schein-)Altruisten angefeindet wird, - geht von Anfang an gar nicht davon aus, das andere für ihn da zu sein haben.


Warum denn? Löschst Du Dein Haus selbst, wenn es brennt, rufst Du nicht die Polizei, wenn Du bedroht wirst, operierst Du Dich selbst, wenn Du krank bist, reist Du selbst durch die Welt um Nachrichten aufzuschnappen?
Es gibt Grenzen und es gibt gute Gründe einen privaten Raum zu fordern und zu beschützen, m.E. ein sehr hohes demokratisches Gut (sowohl totalitäre wie faschistische Systeme torpedieren es), aber warum willst Du von allen abgesondert sein?

Gandalf hat geschrieben:Er hat ja selbst nicht das Recht dazu, das zu fordern. Er 'sucht' sich lediglich andere um mit ihenn zu seinem Vortiel in Interaktion zu treten Und je nach "Freundlichkeit" der Interaktion entsteht der Vorteil für den Egoisten und für den Anderen. Der Egoist unterlag niemals der (quasireligiösen) Zwangsneurose, die "Welt retten zu können".


Hm. Hast Du nicht damit ein kurzes Plädoyer für den Egoismus, genau aus der spieltheoretischen Denke heraus skizziert, die Schirrmacher kritisiert und die, der von Dir verlinkten Kritik nach zu urteilen, doch nur die assoziativen Phantasien eines linken, geltunsgsüchtigen, wirren Esoterikers sind? ;-)
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Mi 27. Feb 2013, 16:02

Vollbreit hat geschrieben:...feststellten, dass eine Unterstrukturierung durch die abwesenden Väter viel größere psychische Schäden und viel tiefgreifendere Aggressionen auslöst (nämlich narzisstischer Art), als die neurotischen Hemmungen.

Nach der erzieherischen Unterdrückung der vergangenen Jahre kommt die wunscherfüllte Freiheit der bürgerlichen Mitte, die mit ihrem Reichtum gar nicht umzugehen gelernt hat. Ob daraus die Zügellosigkeit und narzistische Eigenliebe resultiert, die du glaubst festzustellen, weiß ich nicht. Ich denke, dass wir heute Liebe mit Konsum versachlichen und geschenkte Zeit miteinander nicht mehr haben.

Mit "Kultur" wird gerade noch das Künstlerische verbunden, vielleicht noch die fortschreitende Entwicklung der Rechts- und Wirtschaftslage, aber Moral und Religion werden aus den Familienverbänden der aufgeklärten Jungeltern fern gehalten. Es gibt kein Verpflichtungsbewusstsein mehr. "Man" macht nichts mehr, was verpflichtend Mühe macht. "Man" bindet sich nicht mehr. "Man" lässt sich auch nicht mehr auf väterliche Ratschläge ein.
Es ist nicht die Väterlosigkeit, die auf den gesellschaftlichen Magen schlägt, es ist die Orientierungslosigkeit in einer immer verrückter werdenden Welt, in der sich niemand mehr dem entgleisten Mainstraem entziehen kann. Und was Mainstream ist, entscheiden die Medien. Wer gegen den Strom schwimmt, gilt als altbacken und reaktionär. Menschen mit Pflichtbewusstsein und Vorbehalten werden für verrückt erklärt und beiseite geschoben.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Mi 27. Feb 2013, 17:32

stine hat geschrieben:Ich denke, dass wir heute Liebe mit Konsum versachlichen und geschenkte Zeit miteinander nicht mehr haben.


Teils teils. Viele haben die Zeit tatsächlich nicht und für den ausgleichenden Konsum kein Geld. Das Problem ist, dass man den Mangel nicht benennen kann, wenn man ihn nie erlebt hat.

stine hat geschrieben:Mit "Kultur" wird gerade noch das Künstlerische verbunden, vielleicht noch die fortschreitende Entwicklung der Rechts- und Wirtschaftslage, aber Moral und Religion werden aus den Familienverbänden der aufgeklärten Jungeltern fern gehalten.


Auch nur zum Teil. Ich würde Moral und Religion auch nicht durchweg in einem Atemzug nennen wollen. Der schon erwähnte Schnabel selbst zieht ein kurzes Resümee und das lautet:
Ulrich Schnabel hat geschrieben:„Entgegen den landläufigen Erwartungen zeichnen sich religiöse Menschen also im Allgemeinen nicht durch ein besonders humanitäres Verhalten aus, sie sind – zumindest in wissenschaftliches Experimenten – im Schnitt nicht hilfsbereiter, nicht ehrlicher und auch nicht toleranter als Atheisten; dafür scheinen Angehörige (inbesondere streng-)gläubiger Gemeinschaften eher bereit, sich Autoritäten zu unterwerfen, sie sind vorurteilsbeladener und haben eine Tendenz zu nationalistischen und militaristischen Einstellungen. Aus den Studien tritt uns also ein psychologischen Grundmuster entgegen, in dem man die Signatur des Fundamentalismus entdecken kann.“
(U. Schnabel, Die Vermessung des Glaubens, 3. Aufl. Pantheon 2010, S. 141)


Und Schnabel ist in keiner Weise unfair, er zeichnet ein durch und durch sachliches Bild.
Aber das eben zitierte ist nur das halbe Bild. In fast allen Untersuchungen, zu Vorurteilen, der Bereitschaft Menschen zu quälen, zum Lebensglück zeichnet sich das Bild einer Parabel ab.
Atheisten und streng religiöse Menschen sind dabei stets bei weitem den leicht religiösen überlegen. Am wenigsten Vorurteile hatten streng religiöse Menschen.
Allerdings beziehen sich die Untersuchungen fast durchweg auf weiße Amerikaner der Mittelschicht. Und die Studien sind oft älter.

Positiv ist die Widerstandskraft gegen schädliche Einflüsse, die bei religiösen Menschen höher ist.
Das alles passt ganz gut ins Bild des autoritätsgläubigen Menschen, der versucht brav zu sein. Das klingt bieder, das klingt kleinkariert und das ist es auch.
Aber es hat was von dem „das tut man nicht“ was unserer Zeit heute oft fehlt. Es gibt keinen Grund mehr Hemmungen zu haben und so hat man keine mehr. Der Trend zum Egoismus, zum Narzissmus, ist nicht von Schirrmacher erfunden oder zuerst beobachtet, seit Jahren kann man darüber lesen.

Man muss einfach abwägen, was schlimmer ist, was diesen Trend auszeichnet, verursacht, verstärkt und was ihn hemmt. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass Religionen sehr erfolgreich sind. Und wieder: Je rigider, je mehr Opfer sie verlangen, umso erfolgreicher.
Die Evangelen in Deutschland, die eigentlich „alles richtig“ machen – in der öffentliche Meinung – haben, bis auf die Zeiten in denen der sexuelle Missbrauch der katholische Kirche aufgedeckt wurde, mehr Austritte zu verzeichnen. Die katholische Kirche verliert Mitglieder, das Opus Dei gewinnt welche dazu.
Man muss verstehen, was dahinter steckt. Die Menschen wollen sich auserwählt, besonders fühlen.

Das verringert aber nicht die Spaltung in der Gesellschaft, sondern verstärkt sie eher.
Elitegefühle gehen nicht selten mit der Verachtung des „Pöbels“ einher. Ein Fehler, aber einer, den man verstehen muss, wenn man ihn angehen will. Worum geht es diesen Menschen, was fehlt ihnen, was wollen sie? Wie könnten sie es erreichen, ohne andere herabzusetzen?

stine hat geschrieben:Es gibt kein Verpflichtungsbewusstsein mehr. "Man" macht nichts mehr, was verpflichtend Mühe macht. "Man" bindet sich nicht mehr. "Man" lässt sich auch nicht mehr auf väterliche Ratschläge ein.


Ja, da gebe ich Dir Recht. Heidegger konnte noch trefflich gegen „das Man“ polemisieren, gar von der Versklavung des Daseins durch das Man reden. Adorno konnte noch die autoritäre Persönlichkeit kritisch beäugen ( http://de.wikipedia.org/wiki/Autorit%C3 ... 6nlichkeit ), heute wünscht man sich die geringere Pathologie fast wieder zurück.

stine hat geschrieben:Es ist nicht die Väterlosigkeit, die auf den gesellschaftlichen Magen schlägt, es ist die Orientierungslosigkeit in einer immer verrückter werdenden Welt, in der sich niemand mehr dem entgleisten Mainstraem entziehen kann.


Die Vaterlosigkeit ist auch eher als Synonym für einen Mangel an Struktur gemeint.

stine hat geschrieben:Und was Mainstream ist, entscheiden die Medien. Wer gegen den Strom schwimmt, gilt als altbacken und reaktionär. Menschen mit Pflichtbewusstsein und Vorbehalten werden für verrückt erklärt und beiseite geschoben.


Ungefähr das ist ja auch Schirrmachers These. Wo Egoismus die Normalform ist, wird man tja, vielleicht als reaktionär, aber auch als Träumer, Phantast, Romantiker, Esoteriker bezeichnet, auf jeden Fall als jemand, der mit der Wahrheit und der rauen Wirklichkeit nicht zurecht kommt, der den neusten Erkenntnissen nicht gewachsen ist und so weiter. Selbst Schirrmacher konstatierte bei Beckmann freimütig, es sei ja vollkommen klar, dass wir alle Egoisten seien, nur dürfe man den deskriptiven Befund eben nicht normativ überhöhen, zum gewünschten Soll ausrufen. Den Selbstwiderspruch hat er nicht bemerkt, aber immerhin spricht daraus die Idee, das wir nicht alle und jederzeit Egoisten sein müssen.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Do 28. Feb 2013, 07:35

Es sind ja auch nicht alle und jederzeit Egoisten. Darin gebe ich dem ausgeschiedenen @Darth recht, denn selbst der größte Egoist weiß instinktiv, wann ein Nachgeben für ihn von Vorteil ist. Siehe auch diverse Charity-Galas, wo die Reichsten dieser Welt hohe Eintrittsgelder dafür zahlen, dass sie bei Kaviar und Hummerhäppchen ein paar Euronen für wohltätige Zwecke spenden dürfen. So öffentlich ergibt sich daraus durchaus noch ein werbewirksamer Sinn für die eigene Person.

Du zitierst so wahnsinnig gern deine Belesenheit, @Vollbreit, und wartest mit allerlei interessanten Studien auf, die vielleicht längst überholt sind. Meine Frage an dich: Gehst du auch manchmal selbst vor die Tür und schaust dich um was so läuft, oder sitzt du am liebsten vor deinem Bücherschrank und staunst darüber, welche Schnittmenge sich ergibt, wenn man Inhalte von heutigen Büchern mit denen vor hundert Jahren vergleicht?
Ich sage nur soviel: Papier ist ein geduldiger Stoff und jede Recherche kann u.U. nur den Standpunkt verfestigen, den man gerne bewiesen haben möchte. Es ist viel geschrieben worden in den letzten Jahren und es wird auch weiterhin viel geschrieben werden. Am Ende zählt der eigene Gedanke dazu.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Nanna » Do 28. Feb 2013, 12:41

stine hat geschrieben:... allerlei interessanten Studien auf, die vielleicht längst überholt sind. Meine Frage an dich: Gehst du auch manchmal selbst vor die Tür und schaust dich um was so läuft,...

Um mich da mal kurz einzumischen: Ich wäre vorsichtig, mich allzu sehr auf anekdotisches Wissen (eigene Lebenserfahrungen) zu verlassen, wenn es um größere Trends geht. Man liegt so sicher daneben, weil man keinen Zugang zu den meisten Milieus der Gesellschaft hat.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Do 28. Feb 2013, 15:52

stine hat geschrieben:Es sind ja auch nicht alle und jederzeit Egoisten. Darin gebe ich dem ausgeschiedenen @Darth recht, denn selbst der größte Egoist weiß instinktiv, wann ein Nachgeben für ihn von Vorteil ist.


Was aber weiterhin Egoismus ist, da es ja primär um den eigenen Vorteil geht. Ich sage nicht, dass taktisches Denken, auch egoistisches taktisches Denken in allen Fällen schlecht ist.

Ich bestreite lediglich, dass es a) in allen Fällen gut ist und vor allem, dass es b) die Art ist, wie wir gestrickt sind. Es wird viel zu schnell abgenickt, dass wir ja ohnehin alle Egoisten sind.
Natürlich hast Du Spaß an Kindern, aber hast Du Deine Kinder wirklich rein aus egoistischen Erwägungen großgezogen? Hast Du nie mal jemandem geholfen, ohne es danach in der Presse oder bei fatzebuck zu verbreiten? Siehste.

stine hat geschrieben:Siehe auch diverse Charity-Galas, wo die Reichsten dieser Welt hohe Eintrittsgelder dafür zahlen, dass sie bei Kaviar und Hummerhäppchen ein paar Euronen für wohltätige Zwecke spenden dürfen. So öffentlich ergibt sich daraus durchaus noch ein werbewirksamer Sinn für die eigene Person.


Ich bezweifle nicht, dass es all die beschriebenen Formen des Egoismus gibt.
Es gibt die Spieltheoretiker des Lebens, auch all das was Dawkins so reduzierend geschrieben hat, ist vollkommen richtig, nur eben längst nicht alles. Der Mensch endet da nicht, das sind allenfalls primitive Vorformen. Manche kommen nicht weiter, aus diversen Gründen und manche dieser Gründe kann und muss man akzeptieren, aber Menschen sind prinzipiell zu Höherem berufen und mein persönliches Vorurteil ist, dass (mit) das Höchste was man für die Gesellschaft tun kann, die Entwicklung des eigenen Charakters ist.

stine hat geschrieben:Du zitierst so wahnsinnig gern deine Belesenheit, @Vollbreit, und wartest mit allerlei interessanten Studien auf, die vielleicht längst überholt sind. Meine Frage an dich: Gehst du auch manchmal selbst vor die Tür und schaust dich um was so läuft, oder sitzt du am liebsten vor deinem Bücherschrank und staunst darüber, welche Schnittmenge sich ergibt, wenn man Inhalte von heutigen Büchern mit denen vor hundert Jahren vergleicht?


Die Antwort würde Dir nichts bringen, weil die Güte von Argumenten nicht davon abhängt, ob man neben einer Kiste Bücher und einem PC an die Heizung gekettet ist oder ob man „am richtigen Leben“ teilnimmt, nicht zuletzt aus dem von Nanna erwähnten Grund, dass man ohnehin nur Zugang zu einem Bruchteil der Milieus hat. Wo findet „das Leben“ denn statt? Bei der erwähnten Charity-Gala; auf der Intensivstation eines Krankenhauses; im Fußballstadion; beim Backen in der Küche; Nachts, in der Halbwelt; in den Literatenzirkeln; im Knast; nackt unter Palmen; auf dem SPD-Parteitag; Morgens in der Kita; beim gemeinsamen Abendbrot mit der Familie; im Großraumbüro; beim Sex; beim Discounter; im Urlaub; im Zahnarztsessel...?

Wo ist das wahre Leben und wo nicht? Wo findet es statt und warum nicht zwischen Buchdeckeln oder im Internet? Was macht den Stau auf der A3 bei Würzburg erhabener als den Zauberberg von Mann? Was macht Ravioli von Maggi echter als den Denker von Rodin? Was macht das Großraumbüro wahrer als einen logischen Schlusssatz?

stine hat geschrieben:Ich sage nur soviel: Papier ist ein geduldiger Stoff und jede Recherche kann u.U. nur den Standpunkt verfestigen, den man gerne bewiesen haben möchte.


Das glaube ich auch. Wie schon erwähnt, die meisten treffen sich mit Gleichgesinnten und wollen genau das bekommen, was sie erwarten. Personalisierte Daten, synthetisch designten Rotwein, das Gefühl besser informiert, etwas gerissener und gewitzter zu sein, ein gutes Gewissen.
Man investiert einiges um die Illusion, dass man eigentlich alles richtig gemacht hat und falls nicht, dass der aller größte Teil dennoch wesentlich trotteliger ist, aufrecht zu erhalten. Man lässt sich seien Gewohnheiten nicht nehmen um nichts kämpfen Menschen so verbissen, wie um ihr Weltbild. Zuweilen opfern sie dafür ihr eigenes Leben.
Der Spiegel-Leser bekommt das was er will und wer in bestimmte Foren geht, tut das auch, weil er da gemäß seiner Erwartungen bedient zu werden hofft. Routiniertes Schulterklopfen, ein wenig Anerkennung, die Bühne zur Selbstdarstellung oder was man gerade braucht. Hauptsache man verändert sich nicht.

stine hat geschrieben:Es ist viel geschrieben worden in den letzten Jahren und es wird auch weiterhin viel geschrieben werden. Am Ende zählt der eigene Gedanke dazu.


Das ist eine Aussage, die ich am Ende unterschreiben würde. Man ist für seinen eigenen Krempel verantwortlich. Mir geht es letztlich darum das Vertrauen in die eigenen Entscheidungen zu stärken und sich nicht jeden Mist vorkauen zu lassen.
Aber es würde für mich nicht bedeuten, sich Argumenten zu verweigern, nur weil sie anstrengnd sind und nicht ins eigene Weltbild passen.
Doch auch dazu ist es nicht falsch, die Spreu vom Weizen trennen zu können. Man könnte sich geirrt haben, selbst dann, wenn man etwas mit eigenen Augen gesehen hat. Aber was soll das genau heißen? Bedeutet es wirklich, dass ich mir, meinen Sinnen, meinem Urteil, meinen gefühlten Motiven in keiner Weise trauen kann? Das wäre ein falscher Umkehrschluss.
Ist die vermeintliche Objektivität wirklich besser? Was heißt besser? Für den Durchschnitt der Menschen oder für mich? Je ernsthafter man versucht diese Fragen zu klären, umso schneller trifft man auf Denkbarrieren und da wird dann, gerne auch im Namen der Sachlichkeit, mit einer ideologischen Wut gemetzelt, die verblüffend ist.
Du darfst Statistiken artig abnicken, die Dir erklären, wie die Welt funktioniert und dass Du, wenn Du den Statistiken glaubst weißt, wo alle anderen, die etwas anderes glauben, nur glauben. Das muss man oft bestätigt bekommen, damit man es für wahr hält.
Und auch der 20. aufgedeckte Betrug darf Dich nicht schwach im Glauben zurücklassen, denn zunächst hat man davon auszugehen, dass alles mit rechten Dingen zugeht, zumindest dort, wo man gelernt hat davon auszugehen, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht. Wo, wenn nicht in der exakten Welt der mathematischen Berechnung? Wer das bestreitet, der ist kein vernünftiger Mensch, der ist nicht rational. Und schon sind wir wieder mitten im Thema...
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Do 28. Feb 2013, 16:33

Vollbreit hat geschrieben:Wo findet „das Leben“ denn statt? Bei der erwähnten Charity-Gala; auf der Intensivstation eines Krankenhauses; im Fußballstadion; beim Backen in der Küche; Nachts, in der Halbwelt; in den Literatenzirkeln; im Knast; nackt unter Palmen; auf dem SPD-Parteitag; Morgens in der Kita; beim gemeinsamen Abendbrot mit der Familie; im Großraumbüro; beim Sex; beim Discounter; im Urlaub; im Zahnarztsessel...?
Genau da überall in deiner Aufzählung.

Aber im Ernst, hast du auch schon mal daran gedacht, dass das was wir tun mit dem was wir denken oft konträr läuft?
Nimm ein Beispiel aus dem Leben gegriffen: Man schimpft auf jemanden, was das Zeug hält. Man hält ihn (oder sie) für ungerecht, rechthaberisch, besitzergreifend und stur und sagt das auch lauthals jedem, der es genau wissen möchte. Beim nächsten Anruf oder der nächsten Begegnung der so bloßgestellten Person verhält man sich einlenkend, bietet Hilfe an, wenn die Person sie braucht und verhält sich kooperativ wie man es von einem alten Freund erwarten kann. Warum ist das so? Sind wir alle falsch? Oder nur gut erzogen und wenn gut erzogen, warum schimpfen wir dann überhaupt über jemanden?

Du machst mir hier den Eindruck eines Psycho-Onkels oder wenigstens eines psychanalytisch Interessierten. Erklär doch mal einem Laien, warum wir uns oft anders verhalten, als wir denken.

LG stine
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Do 28. Feb 2013, 17:13

stine hat geschrieben:Aber im Ernst, hast du auch schon mal daran gedacht, dass das was wir tun mit dem was wir denken oft konträr läuft?


Ja, gerade auch in letzter Zeit.
Aus verschiedenen Ecken bin ich zuletzt mit dem Modell der kognitiven Dissonanz konfrontiert gewesen. http://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz
Das bedeutet einfach, dass man versucht ein gewisses Gleichmaß, eine Konsistenz an Denken, Fühlen, dem was man sagt und dem was man tut ins Leben zu bringen, weil man innere Widersprüche ansonsten als unangenehm oder wie es im link heißt, als Störgefühl empfindet.

Und dann habe ich mich gefragt, ob das eigentlich mit meinen Lebensbeobachtungen übereinstimmt und bin zu der Überzeugung gelangt: nö.
Die meisten Menschen, die ich kenne leben mit mehr oder weniger großen Brüchen und Widersprüchen, mal subtil, mal gerade zu himmelschreiend... und es stört sie überhaupt nicht.
Sie leiden nicht darunter, sie haben auch kein größeres Bedürfnis, diese Widersprüche anzusprechen, aufzuklären oder gar zu korrigieren.

stine hat geschrieben:Nimm ein Beispiel aus dem Leben gegriffen: Man schimpft auf jemanden, was das Zeug hält. Man hält ihn (oder sie) für ungerecht, rechthaberisch, besitzergreifend und stur und sagt das auch lauthals jedem, der es genau wissen möchte. Beim nächsten Anruf oder der nächsten Begegnung der so bloßgestellten Person verhält man sich einlenkend, bietet Hilfe an, wenn die Person sie braucht und verhält sich kooperativ wie man es von einem alten Freund erwarten kann. Warum ist das so? Sind wir alle falsch? Oder nur gut erzogen und wenn gut erzogen, warum schimpfen wir dann überhaupt über jemanden?

Du machst mir hier den Eindruck eines Psycho-Onkels oder wenigstens eines psychanalytisch Interessierten. Erklär doch mal einem Laien, warum wir uns oft anders verhalten, als wir denken.


Da gibt verschiedene Erklärungen. Zunächst mal, ist es gut seinem Ärger Luft zu machen. Manchmal ist dann schon alles in Ordnung und man kann sich wieder in gesellschaftlich erwarteter Weise verhalten. Manchmal ist es der Mangel an Courage dem anderen zu sagen, was man wirklich von ihm hält, man druckst dann rum, lästert und stänkert hintenrum, bringt aber den Mut nicht auf auch öffentlich dazu zu stehen, aus befürchteten Nachteilen.

Dann gibt es ja noch kuriosere Phänomene. Man ist mit dem Partner zu einer Party mit netten Freunden eingeladen, der Abend ist gut, man amüsiert sich prächtig, man verabschiedet sich und kaum ist man im Auto hat man nichts dringenderes zu tun als mit dem Partner deftig über all die guten Freunde abzulästern.
Das hat den Sinn, dass man sich der gemeinsamen Werte versichert und mögliche Irritationen abbaut. Ein Beisammensein unter Freunden ist immer auch ein aggressive und erotische Konstellation, aber auch eine in der man die eigenen Spannungen in der Öffentlichkeit ablassen kann, kurz und gut, ein geselliger Abend ist immer auch ein gutes Stück verwirrend. Danach muss das gemeinsame Weltbild wieder geordnet werden, man versichert einander, dadurch dass man sagt wie unmöglich Monika sich wieder aufgebrezelt hat und das Paul nie erwachsen wird, dass man die möglichen „Gefährdungen“ und Irritationen ähnlich einschätzt und bewertet.

Man will die Ordnung nicht gefährden und es muss schon einiges passieren, bevor man sein Einstellungen oder gar sein Verhalten ändert. Eher wird die Umwelt den Werten und Erwartungen angepasst, als man seine Werte und Erwartungen ändert, nur weil die Welt nicht mitspielt.

Der Einzelne muss das Gefühl haben, dass sein Leben stimmig ist, aber wenn Fakten dagegen sprechen, werden sie einfach ignoriert, verdrängt, abgespalten. Man sammelt alles, was die eigene Interpretation unterstützt und ignoriert oder verlacht alles, was dem widerspricht. Das entstehende Gebäude ist mitunter schief und krumm, aber es ist bekannt und irgendwie fühlt es sich gut genug an. Lieber die bekannte Gefangenschaft als die unbekannte Freiheit.

PS:
Ansonsten ist die Erklärung dafür. warum sich jemand anders verhält, als es eigentlich seinen Überzegungen entspricht, auch der Akrasia oder Willensschwäsche zuzuordnen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Akrasia
Wohl dem, der erklärt bekommt, einen freien Willen könne es gar nicht geben, der hat schon mal ein Problem weniger.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Do 28. Feb 2013, 17:42

Das mit dem Ablästern, um sich der gemeinsamen Werte zu versichern, gefällt mir. Ich denke, das kann auch jeder nachvollziehen (wenn er ehrlich zu sich selber ist).

:mg: stine
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon provinzler » Do 28. Feb 2013, 19:11

Nanna hat geschrieben:
stine hat geschrieben:... allerlei interessanten Studien auf, die vielleicht längst überholt sind. Meine Frage an dich: Gehst du auch manchmal selbst vor die Tür und schaust dich um was so läuft,...

Um mich da mal kurz einzumischen: Ich wäre vorsichtig, mich allzu sehr auf anekdotisches Wissen (eigene Lebenserfahrungen) zu verlassen, wenn es um größere Trends geht. Man liegt so sicher daneben, weil man keinen Zugang zu den meisten Milieus der Gesellschaft hat.

Was jeder Münchner Soziologiestudent wohl bestätigen wird, nachdem er sich mal wieder gewundert hat, warum die SPD schon wieder nicht die meisten Stimmen abgekriegt hat, sondern auf Landesebene bestenfalls bei 20% rumgurkt. :lachtot:
Direkt befragen funktioniert aber auch nicht, wie nicht nur die italienischen Exit polls gezeigt haben. Auch in Österreich gibts seit Jahren das Phänomen, dass FPÖ und BZÖ bei Wahlen merklich besser abschneiden, als in den Umfragen rund um die Wahl. Wenn ein öffentliches Bekenntnis für bestimmte Ansichten einen in Schwierigkeiten bringen kann, lügt man halt. Die Anonymität der Wahlkabine macht das unnötig. Insofern stellt sie wohl noch das ehrlichste und unverfälschteste Barometer dar (sofern wir mal unterstellen, dass ehrlich ausgezählt wird).
Das ist übrigens ein Punkt, der mich beispielsweise bei der Diskussion "Frauen und Karriere" und damit auch etwa ums Betreuungsgeld massiv stört. Die Diskussion wird fast ausschließlich aus der Warte von Akademikerinnen geführt. Denn für eine Supermarktkassiererin stellt sich die Wahl Betreuung der eigenen Kinder oder tagein, tagaus Ware über einen Scanner ziehen etwas anders dar als bei sagen wir einer Versicherungsmathematikerin. Denn die Vorzüge, aus denen sie den Beruf erwählt hat (z.B. unter die Leute kommen) kann sie sich auch in der Mutter-Kind-Gruppe oder sonstwo holen, da gehts dann einfach oft nur noch um die Frage, obs Geld auch ohne ihr Einkommen ausreicht.
Bei einer Versicherungsmathematikerin, der das Jonglieren mit Zahlen einfach Spaß macht und die ihren Job deswegen gern macht, und vielleicht auch die Option hat innerhalb ihres Betriebs aufzusteigen, sieht das freilich anders aus. Die öffentliche Diskussion dreht sich da um die Befindlichkeiten einer Minderheit von vielleicht 20-30% der Frauen. Und auch von denen macht realistischerweise nur ein Bruchteil "Karriere". Denn wenn eine Frau von ihrer "Karriere" spricht und damit die Beförderung von StRin zur OStRin meint, dann reizt mich das allenfalls zum Lachen. Ich bezeichne ja mein gutes Dutzend Tore in rund 50 Spielen der D/C-Jugend Hammelklasse auch nicht als "Fußballkarriere". :lachtot:
Bei den Männern siehst bezüglich "Karriere" übrigens ähnlich aus. Auch da ist das allenfalls ein Bruchteil...
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Nanna » Do 28. Feb 2013, 19:17

provinzler hat geschrieben:Direkt befragen funktioniert aber auch nicht, wie nicht nur die italienischen Exit polls gezeigt haben.

Du willst gar nicht wissen, mit was für esoterischen Methoden die Meinungsforschungsinstitute bei sowas operieren. Teilweise basteln die Analysten da mit so einer Mischung aus Hundertjähriger-Kalender-Methodik und Bauchgefühl an den Zahlen herum, um die unehrlichen Antworten irgendwie wieder rauszusieben (d.h. du kriegst im Fernsehen fast nie die Zahlen präsentiert, die bei den Befragungen tatsächlich erhoben wurden, sondern nur eine mehr oder weniger gut fehlerbereinigte Version - die manchmal halt übel daneben liegt, wenn die Analysten sich entschieden haben, genau in die falsche Richtung zu korrigieren).
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon provinzler » Do 28. Feb 2013, 19:56

Nanna hat geschrieben:Du willst gar nicht wissen, mit was für esoterischen Methoden die Meinungsforschungsinstitute bei sowas operieren. .


http://www.youtube.com/watch?v=j5xjOwvz_AQ

:mg:
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Nanna » Do 28. Feb 2013, 23:55

Ah, du wusstest es schon.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Lumen » Fr 1. Mär 2013, 02:02

Vollbreit hat geschrieben:Ja, gerade auch in letzter Zeit. Aus verschiedenen Ecken bin ich zuletzt mit dem Modell der kognitiven Dissonanz konfrontiert gewesen. [...] Und dann habe ich mich gefragt, ob das eigentlich mit meinen Lebensbeobachtungen übereinstimmt und bin zu der Überzeugung gelangt: nö. Die meisten Menschen, die ich kenne leben mit mehr oder weniger großen Brüchen und Widersprüchen, mal subtil, mal gerade zu himmelschreiend... und es stört sie überhaupt nicht. Sie leiden nicht darunter, sie haben auch kein größeres Bedürfnis, diese Widersprüche anzusprechen, aufzuklären oder gar zu korrigieren.


Aber sicher kennst du das. Wer hat nicht schon mal hin- und her überlegt, ob er das Schnäppchen kaufen soll. Nachdem die Entscheidung dann gefallen war, war es natürlich sonnenklar. Du wurdest gefragt, ob du nochmal weg gehen willst, hast nach etwas unsicherem Gefühl dann aber gute Gründe gefunden, in deiner Komfortzone zuhause zu bleiben. Nie erlebt? Glaube ich dir einfach mal nicht. ;) Jeder kennt das oder ähnliche Beispiele. Dieses "ungute Gefühl" ist genau jene kognitive Dissonanz, die dann durch "gute Gründe" beseitigt wird. Aber wehe dir ist dann langweilig zuhause, dann rennt die andere Entscheidung (auszugehen) gegen deine aktuelle Entscheidung an, und jene Dissonanz kommt wieder auf. Entweder das zappen auf einen andern Sender rettet das dann, oder du raffst dich doch noch auf.

Bei den großen Widersprüchen tritt bisweilen die sog. "Compartmentalization" auf. Das kann man sich als abgetrennte, in sich konsistente Bereiche im Weltbild vorstellen, die aber von möglicherweise widersprüchlichen Ansichten abgeschirmt werden. Gängiges Beispiel hierfür sind seit der Kindheit geglaubte religiöse Ansichten, wie z.B. Transsubstantiation, "unbefleckte Empfängnis" oder die Auferstehen von den Toten. Jeder halbwegs intelligente Mensch weiß ganz genau, dass Menschen die drei Tage tot waren, niemals wieder aufstehen; dass Jungfrauen keine Kinder gebären können und das Gebäck und Wein sich nicht in Fleisch und Blut verwandelt. Trotzdem bewahren religiöse Katholiken solcherlei Ansichten und vermeiden es sozusagen, sie in Einklang mit einem wissenschaftlich-rationalen Verständnis zu bringen.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 1. Mär 2013, 07:49

stine hat geschrieben:Das mit dem Ablästern, um sich der gemeinsamen Werte zu versichern, gefällt mir. Ich denke, das kann auch jeder nachvollziehen (wenn er ehrlich zu sich selber ist).


Schön, denn darum geht es ja letzten Endes, die Theorien, gerade diejenigen, die intuitiv nicht einleuchten (wie die Psychoanalyse) in der Weise vom Himmel auf die Erde zu holen, dass sie im Alltag nachvollziehbar werden.
Wer nicht sein Leben in den Theorien wiedererkennt, der wird nicht bereit sein, das Experiment mitzumachen, sich von einem anderen die Geschichte des eigenen Lebens interpretieren zu lassen und das auch noch mit dem dreisten Anspruch, dass dieser andere das besser kann, als man selbst.
Denn nichts anderes behaupten aufdeckende Psychotherapien.

Der Egoismus der in dem Wunsch nach Nichtirritation liegt, ist m.E. ein gesunder. Man will erst einmal nicht gestört werden, bezüglich der bewährten Grundkoordinaten, die einem sagen, wie das Leben so funktioniert.
Was Thomas Kuhn als die Struktur des wissenschaftlichen Fortschritts herausgearbeitet hat, ist im Grunde ein schönes Muster, was man auch auf die Psyche übertragen kann.
http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_S._ ... ssenschaft
Irritationen werden erst einmal ignoriert, dann wird versucht sie im Rahmen der herrschenden Theorien zu interpretieren. Erst wenn das wirklich nicht mehr geht, wird das Weltbild (die Theorie) geändert.
Hier finden wir wirklich schöne Parallelen zwischen der Psyche, kleinen Systemen wie einer intimen Beziehung, einer Familienstruktur und größeren Systemen wie der Wissenschaft, einem Staat, einer Religion, einer Gesellschaft. Sie alle sind erst einmal strukturkonservativ, sie wollen nicht gestört werden.

Wenn dies der Fall ist, sucht sich zumindest die Psyche schon selbst ihre Irritationen. Wir wollen ja in der Regel lernen, neue Eindrücke, kreativ sein, aber das geht recht gut, wenn man ansonsten stabil ist. Das muss nicht konventionell sein, aber eben eine Modus, in dem man sich auskennt.

Ein Punker erwartet, dass sein subkulturelles Umfeld Punkerideen vertritt. Diese mögen quer zur Normalgesellschaft stehen, aber sie sind strukturell ebenfalls konservativ, gewohnt.

Hochinteressant ist, was passiert, wenn die Ordnung einer Gruppe oder Masse ausgehebelt wird. Sofort wird die gewohnte Abfuhr von Aggressionen gestört und es kommt zu internen Spannungen, Angst und gegenseitigem Misstrauen. In deren Folge kommt es zu einer Reorganisation auf einem viel niedrigeren Level, man trifft sich auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen moralischen Nenners, technisch ist das eine Massenregression.
Neben vielem, was uns dieses spannende Phänomen der Massenregression über die Psyche verraten kann, ist ein Punkt der, dass in uns verschiedene Funktionsebenen aktiv sind, die jederzeit aktiviert werden können.

Diese moralisch schlichte Funktionsebene ist eben jene narzisstische, paranoide, fundamentalistische Ebene, die menschliches Zusammenleben als Kampf jeder gegen jeden versteht. Auf dieser Ebene treffen sich die Spieltheorie, die egoistischen Gene und die anderen Projekte, die uns suggerieren wollen, wie wir alle wirklich ticken.

Das klingt deshalb abstrakt, weil man zunächst nur lose Enden baumeln sieht. Spieltheorie ja gut, was hat das mit meinem Leben zu tun? So was wie „Keine Macht den Doofen“ klingt da saftiger, peinlich wird es nur dann, wenn man sich auf einmal selbst im Lager der Doofen wiederfindet, weil man einem kruden Biologismus hinterherrobbt, der doch so präzise daherkommt, weil er doch so wissenschaftlich und berechenbar ist. Durch was noch mal? Ach ja, die Konzepte der Spieltheorie.
Und auch diesen Strang, die Verbindung von Spieltheorie und Biologismus, zeichnet Schirrmacher nach, vollkommen zurecht.
Das Buch hat auch aus meiner Sicht Längen und kommt fragmentarisch daher (sind wohl einfach alte Aufsätze in ein neues Konzept gegossen), aber der Denkansatz ist gut.

Die Egogesellschaft immer nur zu beweinen oder zu verurteilen oder sie gar komplett zu leugnen, ist die eine Sache, ihre Ursachen zu finden, eine andere. Der Impuls von Schirrmacher ist da in jedem Fall bedenkenswert.
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