von Nanna » So 3. Apr 2011, 11:59
stine, nimm's mir nicht übel, aber es gibt gute Gründe dafür, das System nicht nach deinen persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen zu gestalten, die - das klingt, finde ich, schon durch - wohl auch viel mit deiner Enttäuschung über die Wahl in Baden-Württemberg zu tun haben. Ich bezweifle ganz offen, dass du dich ähnlich enervieren würdest, würden CDU und FDP eine, wie du es nennst, Minderheitenregierung bilden.
Vielleicht muss ich mal ein abschreckendes Szenario entwerfen, damit du verstehst, warum das System Sinn macht:
Stell dir vor, es wäre nicht die CDU trotz Mehrheit leer ausgegangen, sondern die NSDAP (ja, Nazikeule ist böse, blabla). Rechnung: Die Leute, die die Nazis gut finden, haben alle NSDAP gewählt, insgesamt 45% der Wahlberechtigten. 35% haben Sozialdemokraten und 20% Liberale gewählt und weil jedem klar war, dass es um eine Richtungswahl zwischen Nazis und Demokraten gehen würde, haben alle, die keine Nazis an der Regierung wollen, entweder die Sozialdemokraten oder die Liberalen gewählt. Was du jetzt verlangst, ist folgendes: Trotz beträchtlicher Stimmanteile dürfen die Sozialdemokraten und die Liberalen keine Koalition eingehen, obwohl sie in der gerade wichtigsten politischen Frage zusammen die klare Mehrheit der Wahlberechtigten repräsentieren. Ich ziehe hier gerade ein ähnliches Argument auf wie Shevek mit den politischen Lagern, auch wenn ich das so einfach nicht runterbrechen möchte, aber für den Modellfall kann es mal herhalten.
Du differenzierst zwar mehr, als Shevek mit seinem Lagerargument, aber immer noch zu wenig, um dich mit der vorhandenen pragmatischen UND fairen Lösung anzufreunden. Denn du gehst stillschweigend davon aus, dass alle Wähler durch die Parteien hinreichend repräsentiert werden, also dass es sowohl für jeden Bürger überhaupt eine Partei gibt, die halbwegs seine Weltsicht widerspiegelt, als auch dass diese Partei ihr Wahlprogramm tatsächlich umsetzen würde, wäre sie allein an der Regierung. In Wahrheit hat man schon, wenn man bei einer bestimmten Partei sein Kreuz macht, so viele Kompromisse gemacht, Positionen gegeneinander aufgewogen, Bündnisszenarien eingerechnet, dass es auf die Kompromissfindung einer Koalition auch nicht mehr ankommt. Wenn die Interessen von 80 Millionen Menschen unter einen Hut gebracht werden müssen, werden halt Kompromisse in Reihe gemacht.
Weiterhin gibt es auch Parteien wie die Grünen früher und Teile der LINKEN heute, die überhaupt keine Regierungsverantwortung anstreben. Eine hypothetische Partei der Nichtwähler würde das vielleicht ebenfalls vertreten, um durch leerbleibende Parlamentssitze auf das Problem fehlender Repräsentation durch niedrige Wahlbeteiligung aufmerksam zu machen. Würden diese Parteien (mehr oder weniger versehentlich) einen Erdrutschsieg einfahren, wären sie nach deinem Modell zur Regierungsverantwortung gezwungen, obwohl das gegen ihr Parteiprogramm spricht. Anders gesagt, die Wähler, die diese Parteien deshalb gewählt haben, damit sie NICHT regieren, bekommen genau das Gegenteil dessen, was sie gewählt haben.
Ähnlich wäre es, wenn zwei Parteien miteinander koalieren müssen, deren Positionen unvereinbar sind, die eine Koalition miteinander ablehnen und deren Wähler das nicht wünschen, d.h. deren Wähler die Opposition eher vorziehen würden als eine Koalition. Sowas wäre eben beispielsweise der Fall, wenn FDP oder CDU gezwungen wären, mit der LINKEN zu koalieren.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass du Probleme mit dem Konzept einer Konfliktdemokratie überhaupt hast. Es gibt Haltungen, die insbesondere in Asien vertreten sind, wo Mehrheiten unter um die 80% nicht als echte Mehrheiten angesehen werden, weil ein zu kleiner Teil des Volkes repräsentiert wird. Das hat mit dem dortigen Verständnis von gesellschaftlicher Harmonie zu tun. Ähnliche Sichtweisen findest du auch in westlichen Konsensdemokratien wie der Schweiz, die sehr auf inneren Ausgleich bedacht sind. Dahinter steht eine andere demokratische Philosophie, die dir vielleicht eher zusagt. Allerdings stoßen wir hier auf ein ähnliches Problem wie beim Konflikt zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht: Zugewinne an Fairness werden meist durch Performanceverluste erkauft. Je mehr eine Demokratie sich auf große Mehrheiten und maximale Repräsentation ausrichtet, desto behäbiger wird ihr Entscheidungsfindungsprozess. Außerdem neigen Kollektive auch inhaltlich nicht zu dynamischer Politik und beharren oftmals auf dem status quo.
Wir leben aber nunmal in einer Konfliktdemokratie mit kombiniertem Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, eben vor allem genau deshalb, weil das Verhältnis von Leistung und Repräsentation ausgewogen sein muss. Get used to it!