Ich habe kein Bild des homo oeconomicus und dieses Konzept hat auch nichts mit dem zu tun, was wir hier bereden.
Ich sage ja nicht mehr als das: Gewisse Tätigkeiten werden einfach nicht nachgefragt. Einfach nur Dinge zu lernen bringts nichts, es muss auch eine Nachfrage dafür geben.
Wer Theaterwissenschaft studiert hat und erwartet, danach ganz sicher an einem Theater beschäftigt zu werden, hat einfach an der Realität vorbeigehofft. In einer angrenzenden Branche kommt er/sie vielleicht irgendwie unter, kann dort aber seine Schlüsselfertigkeiten nicht ausspielen und bleibt deshalb unter seinen (theoretischen) Möglichkeiten. Abitur dauert 2-3 Jahre, Studium 3-5, alles richtig - aber was sagen diese Zahlen aus? Willst du das Studium der Germanistik ernsthaft mit dem der Chemie gleichsetzen? Ein Germanist kann nunmal einfach nicht nach dem Studium im Labor bei BASF anfangen und der Chemiker nicht bei suhrkamp. Wenn aber drei Leute Chemie studiert haben und sieben Leute Germanistik und nachher bei suhrkampf zwei Stellen frei sind und bei BASF fünf, dann ist die Sache klar, egal wie gut die Noten der Germanisten sind. Fünf Germanisten werden arbeitslos sein oder andere, wahrscheinlich schlechter bezahlte Jobs machen. Dass die Arbeitschancen mit Germanistik auch für gute Akademiker durchwachsen sind, ist eine seit Jahren konstante Tatsache, die jeder kennt, der dieses Studium aufnimmt.
Ich bin niemandem böse, der das studiert, aber ich will hinterher keine Beschwerden darüber hören, dass es zu wenige Arbeitsplätze gibt und die existierenden dank Bewerberschwemme nur mittelmäßige Löhne bringen. Soviel Mathe muss auch ein Germanist können. Das hat nichts mit "minderen Fähigkeiten" im intrinsischen bzw. normativen Sinne zu tun, sehr wohl aber damit, dass Fähigkeiten, die inflationär vorhanden sind, im ökonomischen Zusammenhang tatsächlich nutzlos sein können. Selbstverständlich ist Linguistik eine wertvolle Profession für die Gesellschaft (habe ich selber in meinem Studium, kann ich durchaus beurteilen; bringt viel für die Erarbeitung historischer Zusammenhänge und auch für die Völkerverständigung). Man kann aber weder Krebs zu Tode reden noch ein Kernkraftwerk durch die Aufspaltung von Wörtern betreiben. Da kann man noch so viel protestieren, das ist wie mit Religion: Bloß weil man Dinge postuliert, lässt sich der Kosmos noch lange nicht vorschreiben, wie er zu sein hat.
Auch was du über Strukturen schreibst, ist doch erstmal nichts neues. Selbstverständlich schützen Strukturen sich selbst. Wo starke Organisationsgrade vorherrschen, ist natürlich nicht so leicht der Geldhahn zuzudrehen. Aber hey, was hindert "die Blogger" denn daran, sich zu organisieren? Ich würde sagen, zwei Dinge: Erstens, sog. "kreative", selbstverwirklichende Berufe haben sehr viel mit Individualismus und Strukturfeindlichkeit zu tun, was angreifbar macht, zweitens, sorry, die harte Wirklichkeit ist, es interessiert keinen, wenn hundert Blogger ihre Arbeit niederlegen (außer es ist ein Dissident in China, der tatsächliche Probleme und nicht nur selbstzugeschriebene politische Relevanz hat).
Ich neide den Bloggern den Spaß an ihrer Arbeit nicht, aber die Blogosphäre interessiert mich nicht und ich messe ihr auch nicht dieselbe Relevanz bei, wie den Kanalarbeitern oder Altenpflegern. Wenn die sich über schlechte Bezahlung beschweren, sehe ich, wo das Problem ist, denn deren Tätigkeiten schätze ich tatsächlich als deutlich relevanter für das Gemeinwesen ein. Anders gesagt, ich brauche jemanden, der meinen Kanal saubermacht, aber keine Katja Kullmann, die mir twittert, wie schlecht sie bezahlt wird.
Ich kenne selbst persönlich jemanden, der aus Berlin ausgewandert ist und sich gerade noch selbst davor geschützt hat, dort im kreativen Prekariat zu versumpfen, der jetzt einen anderen, solideren Beruf macht und mit erstaunlicher Selbstkritik erzählt, wie sehr im dortigen Milieu Schönfärberei und Selbstbetrug regieren und wie viele Leute sich dort gescheiterte Existenzen als alternative Lebensmodelle erträglich reden.
Ich kenne auch junge Künstler, in erster Linie eine junge Band, die davon träumen, einmal von ihrer Musik leben zu können. Dankenswerterweise haben die mir irgendwelche Selbstmitleidstouren erspart und sind illusionslos und realistisch an ihre Projekte herangegangen, was wenig erstaunlicherweise dazu geführt hat, dass sie sich allesamt auf dem aufsteigenden Ast befinden. Sich "kreativ" zu nennen und es zu sein, indem man statt Betroffenheitsliteratur ein innovatives Vertriebsmodell erfindet, sind halt zwei verschiedene Dinge. Wobei, wahrscheinlich kriegt man durch solche Bücher auch ein bisschen Geld in die Kasse. Hat schonmal jemand gefragt, wie moralisch es ist, mit dem Ausbreiten der eigenen Probleme Geld zu verdienen? (Kleiner Tipp: Wer jetzt ökonomistisch antwortet "solange es sich verkauft", hat das Ganze komplett ad absurdum geführt und seine Glaubwürdigkeit in die Tonne gekloppt.

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Lumen hat geschrieben:Da sitzen dann Leute wie ihr und da heisst es: "Macht dir ja Spaß, der Beruf. Da kannst du ja gerne 12std. am Tag arbeiten". Allein die Denke ist doch schon pervers.
Das mag ja sein, nur haben sich ökonomische Systeme noch nie dafür interessiert, ob sie pervers sind. Menschen- und Waffenhandel funktioniert ja auch prima, obwohl er stockpervers und noch dazu verboten ist.
Letztlich geht es immer um eine Machtfrage: Kann ich, wenn der Chef mir soetwas Fieses ins Gesicht sagt, aufstehen und gehen (übrigens: würde es etwas ändern, wenn der Chef sagte: "Hey, sorry, mir ist das extrem peinlich, aber du musst 12 Stunden täglich arbeiten, weil wir sonst nicht gegen die Konkurrenz bestehen, pleite gehen und dein Job ganz weg ist. Steht nicht im Arbeitsvertrag, aber ich kanns nicht ändern."?)? Kann ich bei der Konkurrenz unterkommen oder mich selbstständig machen? Hätte ich von vornherein einen anderen Arbeitgeber wählen können?
Wenn ja, stehe ich auf und gehe. Wenn nein, muss ich mich fragen: Betrifft das Problem nur mich oder die ganze Branche? Betrifft es nur mich, gibt es höchstwahrscheinlich eine juristische Lösung oder ich kann wenigstens auf die Solidarität meiner Kollegen vertrauen. Wenn es die Branche als Gesamtes betrifft, muss ich mir u.U. eingestehen, dass das Pflaster, das ich
gewählt habe, zu heiß für meine dünnen Sohlen ist. In dem Fall stellt sich schon die Frage, mit welchem Recht ich mich beschwere, wenn ich vorher genau wusste, was mich in dieser Branche erwartet. Ich kann mich sicherlich empören, aber das Problem geht doch immer wieder zum selben Ausgangspunkt zurück: Ist meine Fähigkeit wertvoll, und zwar ausschließlich im ökonomischen Sinne "wertvoll", genug, dass ich Gegendruck entwickeln kann? Denn wenn das nicht so ist, ist die "Ausbeutung" kein persönliches Problem eines perversen Vorgesetzten, sondern ein strukturelles Problem. Je einfacher sich ein Arbeitnehmer ersetzen lässt, desto eher können feudale Beschäftigungssysteme bestehen. Ich habe nicht gesagt, dass ich das angenehm finde, aber es die Realität und die lässt sich nur bedingt manipulieren.
Zudem gibt es da ja ein massiven Selbstwiderspruch: Gerade im Umfeld idealistischer Berufe und ganz besonders Milieus wie der von mir nicht gerade geliebten "digitalen Bohéme" gibt es ja ein unheimliches Bedürfnis nach Freiheit. Freiheit wird aber immer mit einem genausogroßen Maß an Risiko geliefert. Nur, das scheinen viele Leute irgendwie nicht zu wollen. Der Job soll möglichst alle Freiheiten der Welt lassen, möglichst wenig Gängelung erlauben, aber gleichzeitig auch so risikolos sein, dass auch noch das unsinnigste und unbrauchbarste Geschäftsmodell per default vor dem Bankrott geschützt ist. Wenn dir da nicht auffällt, wo das Problem ist, drücke ich mich entweder extrem unklar aus oder wir reden über zwei völlig verschiedene Dinge ohne das zu merken.
Als Gegenmittel gibt es grundsätzlich politische Mobilisierung, Organisation der Arbeitnehmer etc., was jeder Branche offensteht, wobei nicht jedes Milieu dieselben Artikulations-, Organisations- und Konfliktfähigkeiten besitzt (das sog. AOK-Modell). Wie soll eine Branche wie die Blogosphäre Mindestlöhne durchsetzen? Gegen wen überhaupt? Und, Verzeihung, aber die Frage ist ethisch durchaus erlaubt: Mit welchem Recht eigentlich? Menschen haben denselben Wert, Berufe nicht. Ich muss mich nicht dafür schämen, den Arzt wichtiger zu finden als den Plakatpinsler. Die Blogosphäre hat Artikulationsfähigkeit, ja, aber keine Organisations- und Konfliktfähigkeit, so wie z.B. auch Studenten, weshalb Studentenproteste meist ohne große Wirkung bleiben, weil es einfach keinen interessiert, wenn die Studenten streiken. Und bei allem Respekt, man kann derartige Machtstrukturen nicht aus Prinzip und weil man Fairness so sehr liebt ablehnen und für nichtexistent erklären.
Wenn strukturelle Gründe (simple Rechnung: Mehr Arbeitnehmer als Arbeitsplätze) die Löhne niedrig halten, die Arbeitsbedingungen verschlechtern oder für Arbeitslosigkeit sorgen, kann man noch so sehr über die Perversität der Zustände schimpfen, es ändert einfach nichts an den simplen natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Marktes. Wenn einem das nicht passt, muss man politische Gegenmaßnahmen treffen (Mindestlöhne, Alimentierung / "Aufstocken", Grundeinkommen etc.) oder gleich planwirtschaftlich arbeiten. Sowas ist durchaus möglich, aber das ist ein anderes Spielfeld.
Unter den Bedingungen eines Marktes entscheiden nunmal Angebot und Nachfrage - nicht Zahl der Abschlüsse, Schuljahre, Idealismus oder moralische Integrität. Still end of story.