ganimed hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Nehmen wir an, Du diskutierst mit einem Freund über irgendetwas. Der Freund überzeugt Dich, Du hast nachher eine andere Meinung, die Meinungsänderung lässt sich neurologisch darstellen. Aber kann man anhand der darstellbaren Einstellungsänderung das Gespräch zurückverfolgen?
Ich glaube nicht. Man kann aus der Meinungsänderung nicht das Gespräch rekonstruieren. Hast du das so gemeint?
Ja, das habe ich exakt so gemeint.
ganimed hat geschrieben:Was also bedeuten würde, dass der Verlauf des Gesprächs nicht vollständig in der Meinungsänderung abgespeichert ist. Aber ich verstehe noch nicht, worauf du damit hinaus willst.
Wir sind bei der Frage, ob es möglich ist, die Sprache der 1.Person vollständig in die der 3.Person zu übersetzen.
Wir sind offenbar einig in der Ansicht, dass die Sprache der 3.Person, die das leistet, eine Fachsprache wäre und erst zu geringen Teilen existiert, Du bist der Ansicht so zwischen 5 und 10%.
Uneins sind wir in der Frage, ob dies in Zukunft möglich sein wird.
Nehmen wir mal an, dass es tatsächlich darstellbare neurophysiologische Repräsentationen für eine erfolgte Meinungsänderung gibt, die sich meinetwegen daran festmachen lassen, dass bei der Frage nach Deiner Einstellung über ein Thema, immer ein bestimmter Bereich aktiv war, nun aber, bei der gleichen Frage, ein anderer Bereich aktiv ist.
Was genau ist nun eigentlich darstellbar?
Nehmen wir an, die Daten sind präzise genug, dann wäre die Einstellungsänderung darstellbar, sozusagen das Endresultat der Diskussion.
Du bist der Auffassung
das Gespräch selbst sei aus den neurologischen Daten (den objektiven Daten der 3.Person Perspektive) heraus nicht mehr konstruierbar.
Es könnte nun aber Folgendes sein. Du bist in geselliger Runde, das Gespräch kommt wieder auf das Thema (zu dem Du vor wenigen Tagen das lange Gespräch mit Deinem besten Freund hattest), Du sagst, was Du denkst und in der geselligen Runde, bemerkt jemand Deine Einstellungsänderung und fragt: „Sag ganimed, warst du denn sonst nicht immer ganz anderer Meinung, bei dieses Thema?“
Und so könntest sowas antworten wie: „Ja, du hast Recht. Aber ich hatte vor wenigen Tagen eine intensive Unterredung mit meinem besten Freund Peter und während stundenlanger Diskussionen hat Peter mich am Ende überzeugt, dass meine bisherige Ansicht nicht stimmte und ich habe mich überzeugen lassen.“
Das heißt,
Du könntest diese Daten rekonstruieren. Vielleicht nicht exakt, in allen Details, wann genau das entscheidende Argument kam, ob die Flasche Wein, die ihr dabei getrunken habt, mit dem Etikett genau zu Dir stand und ob der Tropfen der daran herunterlief nun eher links oder rechts auf dem Etikett herunterlief, aber Du kannst Dich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch an das zentrale Argument erinneren, was Dich zum umdenken brachte, an die Gesamtstimmung, wie lange ihr Euch etwa darüber unterhalten habt, wie ihr eigentlich auf dieses Thema gekommen seid, wie das Gespräch grob verlaufen ist und so weiter.
Kurz und gut: Dein Bericht (aus der 1.Person Perspektive) ist umfangreicher und enthält mehr Daten, als die Darstellung der 3.Person Perspektive.
Wäre die Sprache der 1.Person aber vollständig ersetzbar oder übersetzbar, dürfte es diese Differenz oder Lücke aber nicht geben.
Kannst Du das bis hierhin nachvollziehen?
Falls nein: Wo genau steigst Du aus und warum?
Falls ja: Dein Einwand könnte lauten, dass dies auch nur eine Frage der Technik sei, heute könne man das noch nicht rekonstruieren, aber in 50 Jahren gewiss.
Hierauf würde meine Antwort lauten, dass man vom gereizten Erfolgsorgan aus niemals wieder in die Kausallette davor zurückkommt (mit dem Bewusstsein aber sehr wohl).
D.h. man kann messen, ob ein Muskel gerade aktiviert ist. Ob das aber der Fall war, weil er von außen elektrisch gereizt wurde oder weil jemand die Absicht hatte, den Arm zu heben oder weil jemand eine kurze Reflexbewegung ausführte um sein Gesicht vor einem herannahenden Gegenstand zu schützen, kann man
am Erfolgsorgan nicht sehen und rekonstruieren.
Der Erlebende könnte es aber durchaus berichten. Wieder kommt man mit den 1.Person Daten weiter (was die Rekonstruktion angeht) als mit den 3.Person Daten.
Bei einer Theorie der Nervenzellen und Körperreize passiert genau das.
Die Vergangenheit, die Geschichte die zur Reizreaktion führte ist nicht mehr (anhand der objektiven Daten der 3.Person Perspektive) rekonstruierbar.
Zumindest Ich kann nicht sehen, wie dies prinzipiell (also auch in 50 oder 100 Jahren)
auf der Basis dieser Theorie anders werden sollte. Man kommt von einer reduzierenden Theorie neurologischen Daten niemals in gesprochene Sprachen hinein.
Auch dazu eine simple Frage: Kann man, wenn man nur die Aufnahmen eines reagierenden Hirns vor sich hat Deiner Meinung nach erkennen, welche Sprache der Mensch spricht, welchen Dialekt er ggf. hat und über welchen Wortschatz er verfügt? Ob er eine oder mehrere Fremdsprachen spricht und wie gut?
Vollbreit hat geschrieben:Vom erfolgten Reiz am Erfolgsorgan aus rückwärts, lässt sich eine Kausalkette nicht mehr rekonstruieren. Im der Theorie vom Körperinnneren und dessen Zuständen entsteht keine Welt in der es Autos, Hunde und Gelächter gibt, also die normalen Dinge mit denen wir semantisch umgehen.
Was meinst du hier mit "Erfolgsorgan"? Das Sinnesorgan, welches den Reiz empfing? Von wo nach wo geht die Kausalkette, die sich nicht mehr rekonstruieren lässt?
Wenn die neuronalen Vorgänge unsere innere Welt sind, dann gibt es dort drinnen auch alles, womit wir semantisch umgehen, also Repräsentationen von Autos, Hunden und Gelächter. Oder ziehst du das in Zweifel?[/quote]
Ja.
Ich glaube dass die Suche nach Autos im inneren Kopfes genauso absurd ist, wie die Suche nach dem Ich im inneren des Kopfes.
Zumindest die reduzierenden Theorien können das nicht leisten (und auch gegen repräsentationale Ansätze gibt es ernstzunehmende Argumente), also müsste man bessere Theorien finden.
Aber, dass es genaue Repräsentationen der Welt „da draußen“ „hier drinnen“ in meinem Schädel gibt, ist glaube ich eine Vorstellung die in der bisherigen Art unhaltbar ist.
ganimed hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Emergenzen? Doch, die kann man nachweisen.
Auch aus deinem angegebenen Beispiel von psychologischen Tests werde ich nicht schlau. Wie kann man Emergenzen nachweisen? Welche sind das dann? Und woraus bestehen die?
Gestatte mir, dass ich kurz aushole, ich vergesse Deine Frage nicht und komme drauf zurück.
Wann
gibt es eigentlich etwas? Details mal weggelassen:
Ich könnte da vorne einen Baum sehen, den könnte ich auch anfassen und draufklettern, wenn ich es genau wissen will und obendrein andere befragen, ob sie den Baum dort auch sehen und diese Frage ist so blöd, weil es so offensichtlich ist, dass die anderen mich komisch anschauen und „Ja sicher“ oder sowas antworten würden. Es
gibt also wohl Bäume (zumindest diesen einen).
Mit Geräuschen und Gerüchen und anderen Sinnesdaten ist das ähnlich.
Es gibt aber andere Sinnesempfindungen: Du könntest Hunger haben. Hier kannst Du nicht sagen: „Ich glaube ich haben Hunger, merkst Du das auch?“ Man mag Dir ansehen, wenn Du müde bist, aber der andere muss das nicht ebenso empfinden. Hier gehen wir anders vor, als beim Baum. Wir sagen nicht: „Also ich fühle mich nicht hungrig, also kannst Du es auch nicht sein“, sondern man würde Dir abnehmen, dass Du wahrheitsgemäße Angaben über Dein Befinden machst (wieso auch nicht?).
Man glaubt Dir das auch deshalb, weil jeder die Empfindung „Hunger“ kennt. Es
gibt wohl tatsächlich Hunger. Streng genommen könnte man hier schon sagen: „Ja, zeig doch mal her deinen Hunger, das ist ja pure Metaphysik, ich habe noch nie Hunger in der Welt gesehen. Was wiegt denn so ein Hunger, wo kann ich den denn sehen?“
Dann gibt es andere Begriffe, wie „Bruttoinlandsprodukt“. Was soll das sein, kann man da drauf zeigen? Selbst wenn mir jemand einen Zettel zeigt auf dem steht: „Das Bruttoinlandsprodukt von 2011 betrug …“, weiß ich immer noch nicht was dass sein soll. Hinschreiben kann man viel, auch „Ich“ oder „superveniert“ oder „der liebe Gott“ oder „Wurzel aus -1“.
Hast Du schon mal -3 Kühe gesehen? Wieviele Beine haben -3 Kühe wohl? 12 oder 0 oder -12?
Solche Begriffe kann man definieren und empirisch bedeutet hier soviel wie, einen Weg oder eine Methode angeben zu können, wie man (also prinzipiell jeder) zu diesen Ergebnissen kommen kann.
Was muss ich tun, um auf „-3“ zu kommen. Beispielsweise von5 von 2 subtrahieren.
Einfach zu sagen, diese Zahlen gibt es ja gar nicht, würde manchen Kontoinhaber erfreuen, aber ich glaube im Alltag wissen wir alle sehr gut was 736 Euro Schulden bedeuten.
Nun also zurück zur Frage und zu den Emergenzphänomenen.
Das Ich könnte so etwas sein. Das würde dann heißt, es wäre geboren aus neurologischen Möglichkeiten oder Wechselwirkungen, aber nicht (mehr) auf diese reduzierbar.
Die Frage ob es prinzipielle Reduzierbarkeit eines jeden Phänomens gibt, blende ich mal aus, weil das ja unsere Grundfrage ist.
Nehmen wir also an, das Ich würde es tatsächlich geben und es sei ein emergentes oder emergiertes Phänomen. Auf einer emprischen Ebene muss man sich mit dieser Grundsatzfrage gar nicht herumquälen, sondern kann einfach zeigen, was man tun muss um von einem Ich zu reden.
Ob also dieses Ich ein Phänomen ist, dem man verlässlich immer wieder begegnen kann. Und ob dieses Ich auch falsifizierbar ist. (Gibt es Situationen, in denen wir kein Ich vorfinden und wie sehen die aus?)
Hier finden wir in Psychologie und Psychiatrie jede Menge.
Ein Ichverlust ist in der Psychiatrie, die größte Überlappungen mit der Neurologie hat, nicht nichts, sondern ein recht dramatisches Ereignis, man nennt es dort psychotische Episode. In diesem Fall bekommt man schwerste Medikamente und ggf. werden andere Sicherheitsmaßnahmen erwogen.
Man macht also einen ziemlichen Wirbel.
Nun könnten ja die Kollegen der Neurologie mit ihren bildgebenden Verfahren vorbeikommen und sagen: „Wisst ihr was, beruhigt euch, wir haben herausgefunden, es gibt sowieso kein Ich, also kann es auch den Ichverlust/Ichinflation/Realitätsverlust der Psychosen gar nicht geben.“ Hat sich irgendwie nicht durchgesetzt in der Praxis, diese Ansicht. Man macht immer noch ziemlichen Wirbel, wenn jemand eine akute Schizophrenie oder einen manischen Schub hat.
Und so gibt es neben den gravierenden Ereignissen, die keinen Zweifel, dass hier etwas nicht stimmt, auch subtilere Ereignisse, bei denen dennoch die Grenze zwischen Ich und Du, oder Ich und Welt/Gesellschaft verschwimmt. Auch bei oft milder Symptomatik der atypischen Psychosen eine ernste Situation. Und diese atypische Psychose ist für den Fachmann gleichbedeutend mit der Aussage, dass kein Ich mehr erkennbar ist und es gibt einen Test, die sogenannte Realitätsprüfung, bei der getestet wird, inwieweit jemand in der Lage ist, mit den Spielregeln der Gesellschaft empathisch zu sein. Es geht nicht darum, dass man diese Spielregeln teilt, es geht nur darum, dass man sie versteht. Ist das gegeben, kann man sich so verrückt verhalten wie man will, man ist nicht psychotisch. Ist das nicht gegeben, ist man psychotisch. Dieser Test funktioniert sehr gut und ist sehr fein und wird in Zweifelsfällen routinemäßig benutzt. Wenn jemand offen halluziniert oder sagt, er sei Napoleon, ist er nicht nötig.
Zweitens kann man die sogenannte Ich-Schwäche sehr schön darstellen, diagnostisch spricht man hier von der Identitätsdiffusion. Eine ebenfalls äußerst wichtige Grenze, die über die Wahl der Therapie entscheidet und die diagnostische Grenze zur schweren Persönlichkeitsstörung markiert.
Hier erscheint ein typisch geschwächtes Ich und je nach dem ob das Temperament eher in eine narzisstische oder paranoide Richtung deutet, kommt es zu entsprechenden Symptomen.
Ein riesiger und ungeheuer bedeutender Bereich, der durch diese Ich-Schwäche markiert ist und dessen therapeutisches Ziel es ist, dieses Ich zu stabilisieren und ein sogenanntes integriertes Ich zu „installieren“.
Gelingt das, kann man es an vielen Faktoren ablesen, die der Patient selbst angibt und die man testen kann. Die Art der Beziehungen wird stabiler und realistischer, es gibt weniger Probleme in Partnerschaft und Beruf, die Phantasien über sich und andere verändern sich, bestimmte Ängste reduzieren sich, die Gegenübertragung verändert sich, die moralischen Empfindungen gehen von der egozentrierten Scham zur Schuld, die sich um andere sorgt und so weiter, ein weites Feld.
Man kann auch ein von Beginn an integriertes Ich vorfinden, bei neurotischen Patienten oder psychisch gesunden Menschen. Dieses Ich hat nur Probleme in bestimmten Lebensbereichen, ist aber als ganzes integriert und hat damit de Fähigkeit sich selbst und für das eigene Leben wichtige andere Personen in Tiefe zu beschreiben.
In diesem Schaubild sind ist diese hierarchische Abfolge vom gesunden ich zum Ichverlust und dem was dazwischen liegt noch einmal dargestellt:
http://www.tfp-institut-muenchen.de/pic ... _large.pngKurz: emergente Phänomene wie das Ich und seine partiellen oder weitereichende Schwächen, sind empirisch darstellbar, und habe für die Pathologie und die sozialen Beziehungen eine überragende Bedeutung.
Hier nun die Diskussion zu beginnen, dass es das Ich ja gar nicht geben könnte (weil man es nicht im Hirn sieht), hieße die Forschungen auf breiter Front der letzten 40 Jahre, die längst praktische Anwendung finden, kalt zu ignorieren.
Zudem finde ich es immer ganz erhebend, wenn auch theoretischen Behauptungen praktische Folgen abzuleiten sind. Aus der Theorie der Ich-Schwäche folgt praktisch jede Menge, das Phänomen ist auf allen Ebenen sichtbar, aus der Theorie dass es ein Ich gar nicht geben könne, folgt m.E. praktisch schlicht gar nichts, was mich doch einigermaßen wundert.
Was sollte Ich anders machen, wenn ich glaube, dass es ein Ich gar nicht gibt, dass das nur eine epiphänomenale Illusion meines Gehirns ist?
Was hast Du anders gemacht, nachdem Dir klar wurde (denn Du glaubst ja daran) dass Dein Ich nicht existiert?
Es gibt die Dinger und ein Ich hat dieses Beitrag verfasst.