von Vollbreit » So 21. Okt 2012, 08:39
Persönlicher Nachtrag:
Der brauchbare Teil des Buches, ist m.E. die Beschreibung der unterschiedlichen Gesellschaftstypen mit ihren Spielregeln. Auch früher gab es Unterschiede, schreibt Lütz, die Stände, heute gibt es sie noch immer, nur subtiler verpackt.
Ob es ihm freilich gelingt, selbst dem katholisch-konservativen Milieu zu entkommen, bleibt am Ende fraglich. Ihm ist zwar klar, dass man nicht zwingend zu Gott kommen muss, aber er suggeriert, dass es natürlich schon besser wäre, wenn …
Zu diesem wenig erstaunlichen Fazit, dass die eigene Sichtweise am Ende doch die beste ist, würde aber wohl auch der Gesundheitsapostel kommen, den Lutz als armselige Kreatur erscheinen lässt, die ängstlich nur um die eigene Gesundheit kreist.
Dass früher eben doch alles besser war, der Kapitalismus seine Versprechungen nie halten konnte (so er jemals welche tätigte), dieser Schluss könnte eben auch am Ende der kritischen Prüfung des DDR-Nostalgikers stehen.
Dass uns, wenn wir die Umwelt zerstören, tendenziell wohl auch der liebe Gott nicht helfen wird, könnte das Resümee des ökologisch eingestellten Deuters sein.
Alles Bluff und Lüge, für Lutz, wieso eigentlich?
Ist halt genau so teilwahr, wie das was Lütz schreibt und wie jeder Missionar, wird man am Ende die eigenen Prämissen etwas höher gewichten, als die der anderen, zu dem machen, was wirklich zählt, im Leben.
Dieser Versuchung nicht zu erliegen, wäre eher der Ausweg, als ein vorhersehbares Plädoyer für den Katholizismus zu schreiben. Nicht in dem was er sagt liegen die Schwächen, sondern in dem, was er ausspart, verschweigt.
Was man tatsächlich tun kann, um nicht diesem oder jenem Märchenonkel hinterhelaufen zu müssen, ist einfach: Selber denken. Den Aufschlag hat Kant gemacht. Man selbst steht in der Pflicht den Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu suchen und zu finden und sich von den Märchen erzählenden Onkels wie Lütz oder Dawkins zu emanzipieren, oder wenigstens die ganze Palette zu lesen, statt sich immer mehr auf Genehmes zu verengen.
Nach Dawkins liest man Schmidt-Salomon, dann Hitchens, Dennett, Deschner geht zum Atheisten-Stammtisch und abonniert den Skeptiker und Science, dann kann auch garantiert nichts mehr schief gehen und man gärt langsam im eigenen Saft.
Bei der Antwort auf existenzielle Krisen und Fragen, würde ich mich schon mal einige Seiten lang den Existenzialisten widmen, Camus und Sartre, oder Yalom, den existenzialistischen Psychologen. Sie analysieren die Absurdität des Lebens schonungslos und räumen alle Tröstungen und Sedierungen – inklusive Religionen und auch die lächerlichen szientistischen Onaniervorlagen hätten vor ihren Augen keinen Bestand – beiseite, um mal einen klaren Blick der Kategorie existenzialistisch zu erhalten. Ein Blick von einem sehr hohen Berg, auf dem ein scharfer Wind weht.
Ja, es ist absurd, das Leben, lautet ihre Diagnose. Und nicht einmal die reichliche kleinkarierte Angst um die eigene Vergänglichkeit ist das Problem, das ist eine eher spätpubertäre Sorge, nein, die Existenzialisten konfrontieren sich mit der Sinnlosigkeit des Daseins als solchem. Die Geschichte hat kein Happy End und auch die sedierenden Pseudolebensversicherungen dieser oder jener Art haben sie längst durchschaut. Ein „Dennoch“ ist ihre Antwort. Der Absurdität kann man nur das nackte Leben, diesen Moment entgegensetzen. Den Stein immer wieder nach oben rollen, denn wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. „Nur heute“, die Variante kennt dann allerdings auch das Christentum, muss man fairerweise erwähnen.
Der Ausweg kann aber auch sein, ihn gar nicht zu suchen, sich zu bescheiden.
Nehmen wir den Gedanken der Evolution doch mal ernst. Worum geht es? Um nichtteleologische Anpassung. Ein Vorgang der keinen Sinn hat und kein Ziel kennt. Anpassung eben, ohne hierarchischen Anspruch. Was passt, passt. AgentProvocateur hat die Grundaussage der Evolutionstheorie kurz auf den Punkt gebracht: „Wer überlebt, überlebt.“ Das passt gut zur Grundaussage des Naturalismus, der ebenfalls eine fade Variante drauf hat: „Was ist, ist.“
Ein schöner Dreiklang, er hat so was Beruhigendes und ist so wahr.
Soziobiologisch ist also alles in Butter, wenn man sein Milieu gefunden hat. Man verdaut auf intellektueller Ebene nur noch Schonkost, Bekömmliches und die Welt ist in Ordnung. Um mehr geht es nicht, nach der Ansicht der Evolutionstheorie. Und vielleicht geht es wirklich nicht um mehr.
Dann ist man eben Schalke-Fan und wer damit glücklich ist, warum sollte man ihn mit seiner vermeintlich uneigentlichen Lebensführung nerven? Ist denn ein Elfmeterschießen um die deutsche Meisterschaft weniger existenziell als eine Wagnerinszenierung, wenn man Schalke-Fan ist? Da spielen sich doch echte Dramen ab, das fließen Tränen des Glücks und des Entsetzens, da ist mehr Leidenschaft im Spiel als in deutschen Ehebetten, was will man mehr?
Doch seien wir ehrlich, das allein beschriebt den Menschen nicht. Zumindest nicht jeden. Er strebt nach Höherem, will den Mars erobern, nur weil er noch nicht da war, es gibt scheinbar Anzeichen für einen Eros, den Drang nach mehr in uns, vielleicht nicht in jedem gleich stark ausgeprägt, aber der Mensch strebt auch nach Höchstleistungen. Der faustische Drang, er will einfach wissen, was die Welt, im Innersten zusammenhält, er klettert auf Berge ohne Sauerstoffgerät, rast ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit den Gipfeln der Alpen entgegen, auf dem Rad, alle Jahre wieder, springt aus 39 Kilometern Höhe, um als Mensch die Schallmauer zu durchbrechen und koste es das eigene Leben, angetrieben von dem, was Sloterdijk die Vertikalspannung nennt.
Nein, Flachland allein ist seine Sache nicht, der Mensch ist ein Übender, wie Sloterdijk uns wissen lässt und er ist ein Übender, weil er ein Strebender ist. „Du musst dein Leben ändern!“ lautet das lesenswerte Buch, mehr als eine virtuose Interpretation eines Rilke-Gedichtes.
Wer mag, kann ja versuchen diese Vertikalspannung in die horizontale Geschichte der Biologisierung der Welt einzuflechten. Es hat mich nie überzeugt, dass das Komponieren einer Sinfonie nur die etwas ausgeweitete Brautwerbung sein soll, aber bei wem die Vertikalspannung bei unter einem Volt liegt, der wird an dieser Geschichte sicher seine Freude haben und warum auch nicht.
Etwas weniger polemisch gesagt, möchte ich stine einfach zustimmen. Es ist ja nicht falsch, seinen Platz im Leben zu finden und sich zu bescheiden. Warum muss man sich eigentlich fortwährend dafür rechtfertigen „nur Mutter“ geworden zu sein? Ist doch das höchste Ziel der Evolution, Nachkommen zu produzieren, die Nachkommen produzieren. Die Mutter aller Gebote der Biologisten. Seit furchtbar und mehret euch. Warum man’s dann so selten tut…
Aber streben und sich bescheiden können, das ist Lebenskunst. „Ich hab’s versucht, so und so weit bin ich gekommen und jetzt ist es auch gut.“ Wer so spricht, ist mit sich im Reinen. Und ich glaube, Ruhe hat man auch erst, wenn man an die Grenzen gegangen ist, wenigstens dann und wann, aber vielleicht gilt das überwiegend für Männer.
Wer sich gefunden hat, ein ebenso großes wie kontroverses Thema, der kann sich zurücklehnen und da wir alle irgendeine Heimat haben, warum nicht auch den Spießer in sich kultivieren?
Entwicklung zum Höheren heißt doch auch, sich mit immer mehr Rollen auszusöhnen, immer mehr von dem in sich zu finden, was man bisher nur im anderen wähnte. Schatten integrieren, nennen das die Jungianer oder Projektionen zurücknehmen. Das macht ganz von selbst etwas demütig und bescheiden. Ich finde das schon deshalb gut, weil es das Leben weniger anstrengend macht.
Man erhebt sich über die Milieukämpfe, wenn man sich vorstellen kann, dass das Milieu des anderen auch das eigene sein könnte – aber es nun mal aus irgendwelchen Gründen nicht ist.
Erst dann kommt man m.E. zu der Frage, was denn eigentlich über das Milieu hinaus, uns alle verbindet und ob es sowas wie die conditio humana wirklich gibt.
Vielleicht ist es das Geben und Nehmen/Verlangen von Gründen so sehr, wie unser Streben.
Aber wie um alles in der Welt ist es zu erreichen, die goldene Mitte zu finden?
Die einen sagen, man solle seinen Verstand benutzen, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, andere, man solle sich hingeben – dem Herzen, der Stimme der Intuition, dem Karma, dem lieben Gott. Die Mischung macht’s, in meinen Augen. Ob man verschlagen, schlau, klug oder weise genannt wird, ist keine Frage allein des Intellekts, aber ohne geht es auch nicht.
Es bringt das reichste Leben nichts, wenn man aus den Erfahrungen keine Erkenntnisse keltern kann, weil es am Intellekt mangelt.
Es hat mich immer beeindruckt und das tut es bis heute, wie zuverlässig die Welt uns auffordert den nächsten Schritt zu tun. Die Angebote sind ja immer da und verdichten sich ständig, wir sind nur gut darin wegzuhören. Insofern brauchen wir nicht wie besessen zu suchen, sondern nur dem Fluss des Lebens zu folgen und wenn er mal gelassen, breit und ruhig mäandert, das einfach hinzunehmen. Man muss ja nicht in allem die Probleme suchen und meiner Erfahrung nach, kommen die schon von selbst. Die Themen sind offensichtlich, wir wollen sie nur oft genug nicht war haben.
Wer gerade seine Lösungen zur Weltrettung in die Weiten des www hinausruft, der wird vielleicht wenig Zeit für solche Banalitäten wie die Socken haben, die hier oder da rumliegen.
Anderen macht das keine Mühe, die haben schon vor dem Morgenkaffee die eigene Wohnung auf ein Niveau gebracht, bei dem jeder OP-Saal vor Neid erblassen würde, ihr rastlose Suche nach einem perfekten Leben treibt sie an und bei allem was sie mehr haben und besser können, werden sie doch den Neid auf diejenigen nie los, die weniger haben und damit, ausgerechnet, auch noch zufrieden sein können.
Ein genialer Mechanismus der sich in 1000 Facetten spiegelt und den man evolutionsbiologisch erklären könnte, psychologisch als Widerholungszwang oder als karmisches Geschehen. M.E. ist es sogar wichtiger das Muster erkennen zu können, als über seine Herkunft zu spekulieren.