ganimed hat geschrieben:meiner selbst hat geschrieben:Denn aus deren [Juristen] "freien Willen" wird ja eine moralische Verantwortung gefolgert, so dass ein falsches Tun bestraft werden kann. Und das geht natürlich nur, wenn man unterstellt, dass der Kriminelle eine echte Wahl hatte, also auch anders hätte entscheiden können.
Wenn die "natürliche" Folgerung nicht gelten würde, dann bliebe ja folgender Sachverhalt stehen: Eine Tat wird bestraft, obwohl der Täter gar keine Wahl hatte und deshalb für die Tat moralisch nicht verantwortlich ist. Dieser Sachverhalt ist jedoch Unsinn.
Eine "echte Wahl" in Deinem Sinne ist genauso wie ein "freier Wille" nach Deiner Definition ein in sich nicht logisch darstellbarer und daher unmöglicher Sachverhalt. Selbst ein hypothetischer Gott, ein allmächtiges Wesen, könnte nicht in diesem Sinne frei sein, es könnte keine "echte Wahl" haben.
Die Rechtswissenschaft gesamt (also nicht nur auf das Strafrecht bezogen) basiert darauf, dass Menschen ihre Handlungen reflektieren können, sich sozusagen ein Stück neben sich selber stellen können und darauf aufbauend ihre Handlungen ausrichten und somit steuern können. Das ist die Grundlage dafür, dass man eine moralische Verantwortung annimmt. Dazu ist es übrigens nicht notwendig, dass diese Reflektion im Einzelfall auch erfolgte, die grundsätzliche Fähigkeit reicht aus. Ein Mensch, der diese Fähigkeit nicht hat oder jemand, der das zwar kann, aber durch äußere oder innere Zwänge seine Handlungen nicht nach seinen Überzeugungen ausrichten kann, der wird als nicht moralisch verantwortlich angesehen.
Diese Fähigkeit nenne ich "freier Wille". Wenn Du mir nun zeigen kannst, dass es diese Fähigkeit nicht gibt, dann stimme ich Deinen Folgerungen zu. Wenn nicht, dann nicht.
ganimed hat geschrieben:Fall 2) In einer perfekten Parallelwelt setzt das Gericht bei mir keinen "freien Willen" voraus. Es erkennt aus der psychologischen Untersuchung, welche Faktoren zu meinem Ausrasten führten. Es wägt die Sachlage ab und entscheidet, dass ich einerseits zur Wiedergutmachung ein Schmerzensgeld zu zahlen habe und andererseits mindestens 5 Sitzungen bei einem Psychater besuchen muss, um mich bei dem fraglichen Thema zu desensibilisieren, wodurch eine Wiederholungstat ausreichend unwahrscheinlich werden sollte.
Ich würde gerne in der Welt von Fall 2 leben, wo das Gericht die Sache so sieht, wie sie der Wissenschaft zufolge auch ist.
Oh. Ja, man kann sich natürlich wünschen, in einer kleinen, überschaubaren, monokausalen Welt zu leben, die wunderbar einfach ist, in der Menschen kleine Maschinchen sind, die man mal eben schnell reparieren kann, indem man auf ein kleines Knöpfchen drückt.
Wir leben aber nicht in einer solchen Welt.
ganimed hat geschrieben:AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt mE gar keine Alternative dazu, dass man annimmt, es könne einen fruchtbaren Diskurs geben, man könne also Argumente verwenden und diese Argumente könnten etwas bewirken. Anders gesagt: wir sehen die anderen als autonome Agenten an, als Subjekte.
Ah, da habe ich dich. Wenn du davon ausgehst, dass Argumente etwas bewirken können, dann siehst du den anderen eben nicht als Subjekt. Wenn der andere wirklich einen "freien Willen" hätte, dann hättest du doch viel weniger Garantie, dass deine Argumente irgendwas bewirken.
Ich glaube doch gar nicht an einen "freien Willen" nach Deiner Definition. Mir ist sogar vollkommen unklar und unverständlich, wie man meinen kann, Freiheit sei dasselbe wie Chaos.
ganimed hat geschrieben:AgentProvocateur hat geschrieben:Du meinst, ich müsse meine Meinung von der katholischen Kirche abhängig machen?
Na von irgendwas muss deine Meinung ja abhängen. Oder willst du etwa behaupten über so etwas wie einen freien Willen zu verfügen?
Ja, über "so etwas wie einen freien Willen" verfüge ich. Ich verfüge jedoch nicht über einen "freien Willen" nach Deiner Definition.
Sag mal, glaubst Du tatsächlich, Deine Aussage von oben:
ganimed hat geschrieben:Macht es dich, wenn du noch an die Freiheit des Willens glaubst, gar nicht nervös, dass Wissenschaftler das bestreiten während die katholische Kirche das als Dogma vertritt?
könnte in irgend einer Weise ein Argument sein?
Dann nochmal explizit: a) was die katholische Kirche genau glaubt und was sie für Dogmen hat, ist mir herzlich gleichgültig. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass die Meinung der katholischen Kirche teilweise mit meiner Meinung übereinstimmt, dann sehe ich das nicht Grund an, meine Meinung zu ändern. Warum sollte ich auch?
Und b): gegen die wissenschaftliche Arbeit von Singer auf seinem Fachgebiet habe ich nichts einzuwenden, im Gegenteil, da ist er gut. Als Philosoph ist er jedoch meiner Ansicht nach nicht so besonders prickelnd, gelinde gesagt. Und seine Ansichten als Hobby-Gesellschaftswissenschaftler finde ich schlicht falsch. Wenn Du das nicht trennen kannst, wenn Du tatsächlich glauben solltest, nur weil ein Wissenschaftler etwas sagt, dann müsse es auch richtig sein, tja, dann weiß ich auch nicht. Ich nenne so etwas "Wissenschaftsgläubigkeit".