Szientismus oder die böse Wissenschaft

Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 12:15

Zappa hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:
Zappa hat geschrieben: Natürlich wird beim Erkenntnisvorgang durch uns etwas hinzugesetzt

Wie denn? Wenn ich etwas Neues wahrnehme und es beschreibe, dann beschreibe ich es mit bereits bekannten Begriffen, durch Vergleich mit Ähnlichem. Es ist doch lediglich eine neue Verknüpfung. Neue Begriffe entstehen dann analytisch oder durch Definition als Abkürzungen für komplexe Beschreibungen, aber nicht durch Wahrnehmung.

Naja, aber die Begriffe selbst sind natürlich Kategorisierungen, ohne die ich überhaupt nicht arbeiten kann. Zunächst einmal gibt es auch Begriffe, die ich überhaupt nicht erfahren kann. Darauf beruht z.B. das Problem der Identifikation. Um überhaupt von Blumen, Tieren, Individuen, Sternen etc. reden zu können, brauchen wir einen Begriff davon. Warum gehört denn dieser Nervenimpuls zum Begriff Baum und der direkt daneben zum Boden, der Blume, dem Hintergrund oder was auch immer? Dein Gehirn muss also irgendwie die ganzen Sinneseindrücke filtern und kategorisieren.

Das Gehirn kategorisiert nur eben nicht die Objekte sondern Wahrnehmungen, es sortiert Ähnliches zu Ähnlichem. Z.B. fallen unter den Begriff "rot" Gegenstände die einem bestimmten Sinneseindruck entsprechen - immer dem selben - , ganz gleichgültig, wie viele bekannte und unbekannte Objekte es gibt, die diesen Sinneseindruck hervorrufen. Der eine selbe Sinneseindruck bildet die Kategorie, nicht die vielen Objekte. Das Gehirn hat auch angeborene Funktionen, die nicht ganz so simpel zu erläutern sind. Z.B. hab ich in einem Buch (The Number Sense, Dahene) gelesen, das Säuglinge schon ein gewissen physikalisches Verständnis mitbringen. Sie reagieren deutlich überrascht, wenn Gegenstände "weggezaubert" werden. Und in vielen anderen Dingen werden wir schon mit Begriffen von der Welt geboren. Und ganz gewiss teilen wir viele dieser Fähigkeiten mit Tieren, die gar keine Sprache haben. Z.B. Objektpermanenz, wenn z.B. ein Tiger ein Reh hinter einem Baum stehen sieht, sieht er nicht zwei halbe Rehe und einen Baum, und wenn es völlig hinter einem Busch verschwindet, weiß er trotzdem, dass es dort irgend wo sein muss, weil es nicht einfach weggebeamt werden kann. Seine Vorstellung bildet die Welt korrekt ab, ganz ohne Sprache. Was Sprache zusätzlich leistet ist, einem Wahrnehmungsgegenstand ein Symbol zuzuweisen. Jemand zeigt nacheinander auf bestimmte Objekte und nennt jedes davon "Stern". Das Symbol "Stern" bezieht sich auf eine Wahrnehmung, und nicht auf viele Objekte, deshalb kannst du sofort einen weiteres Objekt als "Stern" ansehen, weil sich seine Wahrnehmung ähnelt. Dem Symbol "Stern" ist eine Wahrnehmung zugeordnet, genau so den Symbolen "Katze", "Mensch" "Nation".

Zappa hat geschrieben:Und dann beeinflussen unsere Begriffe natürlich die Wahrnehmung massiv. Das die Sonne sich nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht, ist durch Erfahrung so einfach nicht erkennbar (wissenschaftsgeschichtlich konnten die ptolemäischen Astrologen sehr lange noch alle Beobachtungsdaten besser erklären als die Anhänger Kopernikus. Die Begrifflichkeiten hatten sich einfach verändert). Jede Wahrnehmung ist also durch unzählige Begrifflichkeiten, Sinnesfilter, vorbewußte Entscheidungen, Emotionen etc. pp. durchtränkt. Reine Anschauung kann es nicht geben.

Nein. Wenn man von der Erde aus schaut, sieht es halt so aus, als ob sich die Sonne um die Erde dreht und als Folge davon denkt man, dass es so ist. Erst eine Beobachtung, die dieser Vorstellung widerspricht, wird dich davon abbringen, das zu denken.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 14:47

Zappa hat geschrieben:Reine Anschauung kann es nicht geben.

Ich meine aber, dass es relativ reine Anschauung gibt. Es ist eben die Aufgabe eines guten Experiment-Designs, eine Beobachtung herzustellen, die möglichst wenig theoretische Voraussetzungen hat. Wenn man z.B. einen Zyklus in einer Messreihe entdeckt, dann benötigt die Aussage "Die Variable A ändert sich zyklisch" keine Theorie darüber was A eigentlich ist. Die Aussage bezieht sich nämlich im Kern nicht auf A, sondern auf den Vergleich einer Zahlenreihe mit einem mathematischen Muster, z.B. dem Sinus. Mag "A" das Leistungsmerkmal eines Motors sein, die Wahlbeteiligung in Berlin oder was auch immer. Auch an komplexesten Gebilden kann man zumindest eine Veränderung wahrnehmen, ohne eine Theorie von ihnen zu haben. Es gibt Dinge, die kommen überhaupt erst ins Bewusstsein, indem man ihre Veränderung bemerkt. Sicher braucht es dann eine Interpretation was sich ändert, aber die Beobachtung dass sich etwas geändert hat, ist doch hochgradig objektiv!
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » So 11. Aug 2013, 15:05

Zappa hat geschrieben:Ich denke, wir sollten den Bezug zu Habermas nicht zu intensiv diskutieren, zumindest mir fehlen da auch die dedizierten Kenntnisse (insofern kann ich die Kritik von Vollbreit auch nicht fachgerecht kontern). Habermas ist sicher kein naiver Konstruktivist.


Hatte erst überlegt, ob ich aus diversen Werken von Habermas zitieren soll, aber ich versuche es mal grundsätzlicher, weil ich glaube, dass viele Missverständisse eher dadurch überwunden werden könnten:

So weit ich Habermas' Ansatz verstanden habe, kommt bei ihm zunächst die Intersubjektivität, am Anfang, die Wurzel von allem intersubjektiven Austausch ist die Rationalität.
Intersubjektivität setzt ganz natürlich, könnte man meinen, Subjekte voraus aber Habermas sieht das breiter, er verschließt die Augen nicht vor Primatenfoschung (Tomasello), Psychoanalyse und greift immer wieder auch auf Marx zurück. Hier vor allem auf den fundamentalen Modus der Arbeit, verstanden als gesellschaftlicher Austausch, den man durchaus auch schon in vorsprachlicher Zeit verorten kann, im neutralsten Sinne als gemeinschafltiches Miteinander, als Prozess des Austauschs von materiellen Leistungen. Freud erweitert das um den emotionalen Austausch und das Geben und Verlangen (Nehmen) von Gründen ist der Austausch noch mal auf einer geistig-rationalen Ebene. All die genannten Bereich sind nicht streng zu trennen, aber auch nicht dasselbe.

In diesem Sinne ist Habermas' Idee primär intersubjektiv. Daraus erwachsen dann, „gleichursprünglich“ wie er da glaube ich zu sagt, zum einen die Subjektivität, also auch das Subjekt oder (bewusste) Ich und die Objektivität. Beide sind die zwei Seiten einer Medaille, weshalb es aus dieser Perspektive zutiefst sinnlos ist, zu fragen, ob es die Welt eigentlich wirklich gibt, oder dies nicht nur ein Traum ist (wie Descartes andachte, aber nicht meinte und Konstruktivisten bisweilen todernst meinen), ebenso sinnlos, wie der Versuch alles zu objektivieren und sich am Ende zu fragen, wer eigentlich wofür ein Subjekt braucht, der szientistische Irrsinn.

Es kann immer nur ein Subjekt sein, dass sich in der Welt positionieren möchte, das wissen möchte, wo das alles herkommt, wie es funktioniert und was die Welt, im Innersten... Wer, wie auch immer, systematisch forscht, ist ein Ich, ein Subjekt, es geht nicht anders.

Womit der Konstruktivismus auf immer recht haben wird, ist, dass wir keinen direkten sinnliche Zugang zur Realität haben. Jeder weiß, dass Farben von unseren Sinnessytemen konstruiert sind, den Bogen überspannen die Konstruktivisten, wenn sie sagen, dass es Farben in Wirklichkeit, gar nicht gibt. Dabei gibt es Farben ja, wir sehen sie und wenn man sagt, das sei aber nur Konstrukt, dann schwingt da stets die Idee mit, die beobachterfreie Perspektive sie irgendwie, wahrer, richtiger, gehaltvoller. Meistens läuft diese dann auf phsikalistischen Terminologie hinaus, die Realität ist dann die, dass es Sinneszellen und elektromagnetischen Wellen gibt, aber eben keine Farben. Das ist aber einfach eine andere Perspektive (und nicht keine), dass sie besser, wahrer oder gehaltvoller sein soll, wird gerne implizit unterstellt, gewöhnlich fühlt AgentProvocatuer den Leuten dann auf den Zahn und fragt, warum diese Perspektive besser, wahrer oder gehaltvoller sein soll und dann bekommt er selten eine konkrete Antwort (und nie eine, die mich je überzeugt hätte).

Aber dennoch, wir sitzen stets in unserem Käfig, wir sehen immer nur uns selbst, unserer Konstruktion von Welt, das stimmt. Dass wir daraus den Schluss ziehen sollten oder dürfen, dass der andere von uns unüberwindbar weit entfernt wäre und wenn er auch neben uns sitzt, halte ich für eine Marotte der Konstruktivisten.
Habermas geht diesen Weg definitiv nicht mit und sieht uns eben als getennte Subjekte, in einer gemeinschaftlich geteilten, objektiven Welt.
Es stimmt zwar, dass wir die Welt des andern sinnlich nicht erfassen können, jeder sieht, hört, riecht und denkt seinen Kram, aber dass daraus logisch nicht eine konsistente objektive Welt gebastelt werden kann, ist nicht einzusehen. Dass wir miteinader reden können, setzt m.E. zwingend voraus, dass unsere grundlegenden Sinneswahrnehmungen (sehr) ähnlich, aber nicht identisch sind.

Aber es sind die individualisierenden Blicke der anderen, die uns erst zu dem machen, der wir sind, die uns unser Ichsein erfahrbar machen, dass ist die Idee von Wittgenstein, Peter Strawson, irgendwo auch von Heidegger und eben auch Habermas. Wieder ist das Intersubjektive die Wurzel zum (rationalen) Ich.
Wir brauchen die historische Spur um (erkenntnistheoretische gseehen) zum dem Ich zu werden, als das wir uns dann (phänomenologisch gesehen) immer schon vorfinden. Wir brauchen die Kette der biologischen Evolution, wir brauchen die tradierten Alltagspraktiken, in einem Sinne auch Heideggers „Man“ (http://www.hubert-brune.de/heidegger_man.html), das Freuds Über-Ich nicht unähnlich ist, wir brauchen die Sprachpraxis mit all ihrer Grammatik, den darin verborgenen impliziten Werten und Normen (und Habermas und Brandom machten beide klar, dass Festlegungen, Begründungen und Praktiken ineinander verwoben sind), wir brauchen das Vorbild des wechselseitigen Begründens und gewiss brauchen wir die Exzentriker, die krummen Hunde, die Ausbrecher als Notausgang aus der Qual der Norm und evolutionären Peak.

Wenn man nach den Wurzeln fragt, auf die in naturwissenschaftlichen Kreisen, gerne immer wieder abgezielt wird, ist man schnell bei den sogenannten Fakten oder Tatsachen – eben noch sagte mat-in in der Wissenschaft existierten nun mal Tatsachen -. Wenn man mit der Frage, was Tatsachen denn eigentlich sind, mal über das erste „Wie? Ist doch wohl klar!“ hinauskommt und fragt, was genau eine Tatsache eigentlich eine Tatsache sein lässt, ist man m.E. recht organisch bei dem was Habermas m.M.n. meint.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 15:43

Vollbreit hat geschrieben:Wenn man nach den Wurzeln fragt, auf die in naturwissenschaftlichen Kreisen, gerne immer wieder abgezielt wird, ist man schnell bei den sogenannten Fakten oder Tatsachen – eben noch sagte mat-in in der Wissenschaftl existierten nun mal Tatsachen -. Wenn man mit der Frage, was Tatsachen denn eigentlich sind, mal über das erste „Wie? Ist doch wohl klar!“ hinauskommt und fragt, was genau eine Tatsache eigentlich eien Tatsache sein lässt, ist man m.E. recht organisch bei dem was Habermas m.M.n. meint.

Von "man" kann aber glaube ich keine Rede sein, er vertritt m.W. die Konsenstheorie der Wahrheit. Ich will dazu bloß mal betonen, dass spätestens seit Kant jeder wissen kann, dass der Tatsachen-Begriff nicht ganz unproblematisch ist und das man keineswegs auf die Konsenstheorie zurückgreifen muss, um diese Probleme zu lösen, die m.E. auch keine befriedigende Lösung ist. Sie verschleiert die Problematik der Tatsachen nur in der Rede vom "begründeten Konsens". Man kann sich diese diskutierende Gemeinschaft auch als einen Organismus denken und ihren Konsens als eine Vorstellung - und dieser Organismus steht dann vor dem selben, ungelösten Problem: Entspricht meine Vorstellung den Tatsachen?!
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » So 11. Aug 2013, 16:32

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Wenn man nach den Wurzeln fragt, auf die in naturwissenschaftlichen Kreisen, gerne immer wieder abgezielt wird, ist man schnell bei den sogenannten Fakten oder Tatsachen – eben noch sagte mat-in in der Wissenschaftl existierten nun mal Tatsachen -. Wenn man mit der Frage, was Tatsachen denn eigentlich sind, mal über das erste „Wie? Ist doch wohl klar!“ hinauskommt und fragt, was genau eine Tatsache eigentlich eien Tatsache sein lässt, ist man m.E. recht organisch bei dem was Habermas m.M.n. meint.

Von "man" kann aber glaube ich keine Rede sein, er vertritt m.W. die Konsenstheorie der Wahrheit.
Ja, er vertritt die Konsenstheorie der Wahrheit, aber was hat das mit „man“ zu tun?

ujmp hat geschrieben:Ich will dazu bloß mal betonen, dass spätestens seit Kant jeder wissen kann, dass der Tatsachen-Begriff nicht ganz unproblematisch ist und das man keineswegs auf die Konsenstheorie zurückgreifen muss, um diese Probleme zu lösen, die m.E. auch keine befriedigende Lösung ist.
Wie gut oder schlecht die Konsenstheorie ist, ist m.E. eine andere Frage, es ging mir darum, den scheinbar so klaren Begriff der Tatachen oder Fakten zu beleuchten.
M.E. weiß zudem keineswegs jeder, dass die Geschichte mit den Tatsachen problematisch ist, ich glaube vielmehr, dass die meisten aufrichtig meinen, gerade Tatsachen seien das Unproblematischste der Welt überhaupt, weil sie ja „einfach da sind“ oder „eben so sind“. Man, jeder, kann sie sehen, messen, anfassen, Fakten sind eben Fakten, die sind so, dahinter gibt es kein Zurück.
Desweiteren glaube ich nicht, dass die Beschäftigung mit Kant zum geistigen Allgemeingut eines Bright gehört, eher gehört in meinen Augen (statistisch) dazu, dass einem Philosophie suspekt ist (Laberfach) und man statt dessen szientistisch auf die harten Fakten fixiert ist.
Aber ich finde es schön, dass das für Dich offenbar sonnenklar ist, kannst Du den Faktenfixierten erklären, worin das Problen besteht, dass seit Kant jedem klar ist?

ujmp hat geschrieben:Sie verschleiert die Problematik der Tatsachen nur in der Rede vom "begründeten Konsens".
Eigentlich sehe ich da nicht, wo etwas verschleiert wird, was meinst Du denn da?

ujmp hat geschrieben:Man kann sich diese diskutierende Gemeinschaft auch als einen Organismus denken und ihren Konsens als eine Vorstellung - und dieser Organismus steht dann vor dem selben, ungelösten Problem: Entspricht meine Vorstellung den Tatsachen?!
Ich glaube, dass man sich das denken kann, aber das dieser Gedanke vollkommen falsch ist und uns auch nicht weiter bringt, wenn wir verstehen wollen, wo Habermas' Kritik am Szientismus seinen Ursprung hat.
Habermas wird sich dieser Gemeinschaft auch gewiss nicht als einen Organismus denken, den der Clou ist ja, dass hier gerade die je einzelnen Subjekte in einen Diskurs treten.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 17:44

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Von "man" kann aber glaube ich keine Rede sein, er vertritt m.W. die Konsenstheorie der Wahrheit.
Ja, er vertritt die Konsenstheorie der Wahrheit, aber was hat das mit „man“ zu tun?".

Du und andere kommen zu dieser Überzeugung, wenn ihr über "Tatsache" nachdenkt, aber eben nicht "man", also die Allgemeinheit und nicht zwangsläufig.

Vollbreit hat geschrieben:M.E. weiß zudem keineswegs jeder, dass die Geschichte mit den Tatsachen problematisch ist, ich glaube vielmehr, dass die meisten aufrichtig meinen, gerade Tatsachen seien das Unproblematischste der Welt überhaupt, weil sie ja „einfach da sind“ oder „eben so sind“.

Das kann man in Standardwerken zur Wissenschaftstheorie seit mindestens 100 Jahren nachlesen. Habermas' Ideen waren auch zu seiner Zeit ('48) schon nur eine weitere Variante. In Bezug auf das Thema: Es ist jedenfalls ignorant, wenn man Naturwissenschaftlern so begegnet, als ob sie von diesen Sachen erst mal von Seiten der Geisteswissenschaft erfahren müssten. Zur Allgemeinbildung gehört es aber leider sicher nicht.

Vollbreit hat geschrieben:Desweiteren glaube ich nicht, dass die Beschäftigung mit Kant zum geistigen Allgemeingut eines Bright gehört, eher gehört in meinen Augen (statistisch) dazu, dass einem Philosophie suspekt ist (Laberfach) und man statt dessen szientistisch auf die harten Fakten fixiert ist.

Nein, es ist nur so, dass die Philosophie eines Naturalisten sich naturgemäß stärker mit der wahrnehmbaren Natur beschäftigt. Er ist eben auch aus einer Skepsis gegenüber nicht wahrnehmbaren Behauptungen hervorgegangen. Ihm liegt wissenschaftliches Denken näher, als freie Assoziation. Philosophie kann ja durchaus Gelaber sein, muss es aber nicht.

Vollbreit hat geschrieben:Aber ich finde es schön, dass das für Dich offenbar sonnenklar ist, kannst Du den Faktenfixierten erklären, worin das Problen besteht, dass seit Kant jedem klar ist?

Es ist so kinderleicht, dass man als naiv angesehen wird, wenn man es ausspricht: Wir können Tatsachen genau so wenig im Kopf haben, wie sich das Brandenburger Tor in einem Fotoparat befinden kann, der es gerade fotografiert hat - es passt ja schlicht nicht rein! Und dennoch kann ich das Brandenburger Tor, wenn ich es nur von dem Foto kenne, wiedererkennen, wenn ich davorstehe, weil das Foto einen Aspekt seiner Realität korrekt abbildet. Mein Bild von der Tatsache steht in einer Relation zu ihr, und diese Korrespondenz ist sein Wahrheitsgehalt.

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Sie verschleiert die Problematik der Tatsachen nur in der Rede vom "begründeten Konsens".
Eigentlich sehe ich da nicht, wo etwas verschleiert wird, was meinst Du denn da?

Die Diskutanten begründen ihren Konsens letztlich mit Tatsachenbehauptungen, und die werden nicht dadurch wahrer, weil sie Konsens sind. Dieses "aber" in "aber nur begründeter Konsens" revidiert doch die ganze Konsenstheorie! Speziell Ideologen, die eigentlich nicht über Wahrheit reden wollen sondern lieber über Dogmen, freuen sich natürlich über den Nebel, den Habermas da veranstaltet hat.

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Man kann sich diese diskutierende Gemeinschaft auch als einen Organismus denken und ihren Konsens als eine Vorstellung - und dieser Organismus steht dann vor dem selben, ungelösten Problem: Entspricht meine Vorstellung den Tatsachen?!
Ich glaube, dass man sich das denken kann, aber das dieser Gedanke vollkommen falsch ist und uns auch nicht weiter bringt, wenn wir verstehen wollen, wo Habermas' Kritik am Szientismus seinen Ursprung hat.
Habermas wird sich dieser Gemeinschaft auch gewiss nicht als einen Organismus denken, den der Clou ist ja, dass hier gerade die je einzelnen Subjekte in einen Diskurs treten.

"Organismus" meine ich metaphorisch. Wir können auch von "System" sprechen, oder bleiben wir bei "Gemeinschaft". Welchen Unterschied macht es denn, ob eine Vorstellung in einem oder in vielen Köpfen entstanden ist (abgesehen davon, dass ein echter Konsens auch eine "naive" Vorstellung sein dürfte)? Welcher Unterschied besteht denn in der Relation dieser Vorstellung zu der angenommenen Tatsache? Keiner!
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » So 11. Aug 2013, 18:22

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:M.E. weiß zudem keineswegs jeder, dass die Geschichte mit den Tatsachen problematisch ist, ich glaube vielmehr, dass die meisten aufrichtig meinen, gerade Tatsachen seien das Unproblematischste der Welt überhaupt, weil sie ja „einfach da sind“ oder „eben so sind“.

Das kann man in Standardwerken zur Wissenschaftstheorie seit mindestens 100 Jahren nachlesen.
Ich glaube, dass die Standardwerke des Wissenschaftstheorie nicht zum geistigen Allgemeingut eines Bright gehören (statistisch gesehen).

ujmp hat geschrieben:Habermas' Ideen waren auch zu seiner Zeit ('48) schon nur eine weitere Variante.
Was heißt '48? "Erkenntnis und Interesse" ist von 1968, dass sie konkurrenzlos wären, hat niemand behauptet.

ujmp hat geschrieben:In Bezug auf das Thema: Es ist jedenfalls ignorant, wenn man Naturwissenschaftlern so begegnet, als ob sie von diesen Sachen erst mal von Seiten der Geisteswissenschaft erfahren müssten. Zur Allgemeinbildung gehört es aber leider sicher nicht.
Findest Du diese beiden Aussagen nicht etwas widersprüchlich? Und von wem sollten sie es sonst erfahren?

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Desweiteren glaube ich nicht, dass die Beschäftigung mit Kant zum geistigen Allgemeingut eines Bright gehört, eher gehört in meinen Augen (statistisch) dazu, dass einem Philosophie suspekt ist (Laberfach) und man statt dessen szientistisch auf die harten Fakten fixiert ist.

Nein, es ist nur so, dass die Philosophie eines Naturalisten sich naturgemäß stärker mit der wahrnehmbaren Natur beschäftigt.
Da trifft es sich ja gut, dass Habermas' sich selbst als Vertreter eines sanften Naturalismus bezeichnet.

ujmp hat geschrieben:Er ist eben auch aus einer Skepsis gegenüber nicht wahrnehmbaren Behauptungen hervorgegangen. Ihm liegt wissenschaftliches Denken näher, als freie Assoziation.
Wie kommst Du auf die Idee Philosophie habe etwas mit freier Assoziation zu tun? Das ist eine Technik die Freud anwandte, in der Philosophie hat sie keine Bedeutung, wenn doch, sag mir bitte wo.

ujmp hat geschrieben:Philosophie kann ja durchaus Gelaber sein, muss es aber nicht.
Zuweilen reden und schreiben auch Philosophen dummes Zeug, wer könnte sich davon schon freisprechen?

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Aber ich finde es schön, dass das für Dich offenbar sonnenklar ist, kannst Du den Faktenfixierten erklären, worin das Problen besteht, dass seit Kant jedem klar ist?
Es ist so kinderleicht, dass man als naiv angesehen wird, wenn man es ausspricht: Wir können Tatsachen genau so wenig im Kopf haben, wie sich das Brandenburger Tor in einem Fotoparat befinden kann, der es gerade fotografiert hat - es passt ja schlicht nicht rein!

Das ist doch schon mal ein guter Ansatzpunkt und zu zeigen, dass das mit den Tatsachen nicht mal bei denen so leicht ist, die meinen, ihnen sei das durchaus bewusst.
So wie ich das lese, würdest Du sagen wollen, dass das Brandenburger Tor eine Tatsache ist, habe ich das so richtig verstanden?
Falls ja: Ich bestreite, dass das Brandenburger Tor eine Tatsache ist. Ich bestreite nicht, dass es das Brandenburger Tor gibt. Aber ich bestreite, dass es eine Tatsache ist. Es ist das Brandenburger Tor.

ujmp hat geschrieben:Und dennoch kann ich das Brandenburger Tor, wenn ich es nur von dem Foto kenne, wiedererkennen, wenn ich davorstehe, weil das Foto einen Aspekt seiner Realität korrekt abbildet. Mein Bild von der Tatsache steht in einer Relation zu ihr, und diese Korrespondenz ist sein Wahrheitsgehalt.
Dass es möglich ist, aufgrund eines Bildes etwas wieder zu erkennen, ist keine Frage, aber schau mal hier:
Bild
http://commons.wikimedia.org/wiki/File: ... PSF%29.png
Ist Pegasus eine Tatsache?

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Sie verschleiert die Problematik der Tatsachen nur in der Rede vom "begründeten Konsens".
Eigentlich sehe ich da nicht, wo etwas verschleiert wird, was meinst Du denn da?
Die Diskutanten begründen ihren Konsens letztlich mit Tatsachenbehauptungen, und die werden nicht dadurch wahrer, weil sie Konsens sind.
Die Frage was den Wahrheitsgehalt von Sätzen oder Aussagen ausmacht, hängt ja von der jeweiligen Wahrheitstheorie ab. Du kannst der Konsenstheorie die Wahrheit (die nicht primär darauf abzielt mit den Tatsachen übereinzustimmen) schlecht vorwerfen, dass sie nicht die Konsenstheorie der Wahrheit (die darauf abzielt mit den Tatsachen übereinzustimmen) ist.
Damit hast Du bereits das Urteil getroffen, was es zu finden gilt.

ujmp hat geschrieben:Dieses "aber" in "aber nur begründeter Konsens" revidiert doch die ganze Konsenstheorie!
Ich wüsste nicht so genau, wie unbegründeter Konsens übrhaupt aussehen soll. Was Du da im Blick haben könntest, wäre eien Abstimmung, so wie ich die Konsenstheorie verstehe, geht es aber gerade nicht darum, dass jeder mal kurz die Hand hebt und ja oder nein sagt, sondern das um die Bedeutung und Interpretation von etwas gerungen wird.

ujmp hat geschrieben:Speziell Ideologen, die eigentlich nicht über Wahrheit reden wollen sondern lieber über Dogmen, freuen sich natürlich über den Nebel, den Habermas da veranstaltet hat.
Ich habe das Gefühl, dass Du hier etwas unsachlich wirst.

Was ist denn für Dich eine Tatsache?

ujmp hat geschrieben:"Organismus" meine ich metaphorisch. Wir können auch von "System" sprechen, oder bleiben wir bei "Gemeinschaft". Welchen Unterschied macht es denn, ob eine Vorstellung in einem oder in vielen Köpfen entstanden ist (abgesehen davon, dass ein echter Konsens auch eine "naive" Vorstellung sein dürfte)?

Es ist ungefähr der Unterschied zwischen Demokratie und Königtum.
Was ist denn für Dich echter Konsens und was wäre demzufolge unechter?

ujmp hat geschrieben:Welcher Unterschied besteht denn in der Relation dieser Vorstellung zu der angenommenen Tatsache? Keiner!

Dir scheint der Begriff der Tatsache hier vollkommen klar zu sein, mir allerdings nicht. Und Du sagtest ja auch, er sei mindestens problematisch, wie man überall nachlesen könne.
Was ist denn problematisch und warum scheint das auf einmal überhaupt kein Problem mehr zu sein?
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 20:11

Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass die Standardwerke des Wissenschaftstheorie nicht zum geistigen Allgemeingut eines Bright gehören (statistisch gesehen)?

Na ok, es ist nicht jedemanns Sache, alles genau wissen zu wollen. Man kann aber auch z.B. in gut gemachten Fernsehsendungen viel lernen und vieles ist auch nicht so kompliziert, dass es nicht auch einer breiteren Masse zugänglich wäre.
Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Habermas' Ideen waren auch zu seiner Zeit ('48) schon nur eine weitere Variante.
Was heißt '48? "Erkenntnis und Interesse" ist von 1968, dass sie konkurrenzlos wären, hat niemand behauptet.?

Hab ich mit was anderem verwechselt, aber so sind es sogar über 30 Jahre nach Popper oder Wittgenstein und so.

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:In Bezug auf das Thema: Es ist jedenfalls ignorant, wenn man Naturwissenschaftlern so begegnet, als ob sie von diesen Sachen erst mal von Seiten der Geisteswissenschaft erfahren müssten. Zur Allgemeinbildung gehört es aber leider sicher nicht.
Findest Du diese beiden Aussagen nicht etwas widersprüchlich? Und von wem sollten sie es sonst erfahren?

Sie finden das u.U. auch selbst heraus, mein Guter! Die Naturwissenschaft ist m.E. viel besser geeignet, solche Probleme erst mal zu entdecken und auch zu lösen. Das liegt aber einfach daran, dass sie sich mit viel elementareren und besser beurteilbareren Problemen beschäftigt, als z.B. eine Gesellschaftstheorie.

Vollbreit hat geschrieben:Da trifft es sich ja gut, dass Habermas' sich selbst als Vertreter eines sanften Naturalismus bezeichnet.

Na prima!

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Er ist eben auch aus einer Skepsis gegenüber nicht wahrnehmbaren Behauptungen hervorgegangen. Ihm liegt wissenschaftliches Denken näher, als freie Assoziation.
Wie kommst Du auf die Idee Philosophie habe etwas mit freier Assoziation zu tun? Das ist eine Technik die Freud anwandte, in der Philosophie hat sie keine Bedeutung, wenn doch, sag mir bitte wo.

Als Philosophie kann man halt alles Mögliche bezeichnen, auch seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, Religionsphilosophie usw. Ein Naturalist neigt eher zu Themen, die der Wissenschaft nahe stehen, eben auch Wissenschaftsphilosophie.

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Aber ich finde es schön, dass das für Dich offenbar sonnenklar ist, kannst Du den Faktenfixierten erklären, worin das Problen besteht, dass seit Kant jedem klar ist?
Es ist so kinderleicht, dass man als naiv angesehen wird, wenn man es ausspricht: Wir können Tatsachen genau so wenig im Kopf haben, wie sich das Brandenburger Tor in einem Fotoparat befinden kann, der es gerade fotografiert hat - es passt ja schlicht nicht rein!

Das ist doch schon mal ein guter Ansatzpunkt und zu zeigen, dass das mit den Tatsachen nicht mal bei denen so leicht ist, die meinen, ihnen sei das durchaus bewusst.
So wie ich das lese, würdest Du sagen wollen, das das Brandenburger Tor eine Tatsache ist, habe ich das so richtig verstanden?
Falls ja: Ich bestreite, dass das Brandenburger Tor eine Tatsache ist. Ich bestreite nicht, dass es das Brandenburger Tor gibt. Aber ich bestreite, das es eine Tatsache ist. Es ist das Brandenburger Tor.

Das ist - sagen wir mal - nicht widersprüchlich, aber auch nicht besonders clever, es so zu sehen. Was hast du denn von diesem energetisch aufwendigen Sophismus?

Vollbreit hat geschrieben:Ist Pegasus eine Tatsache?

Nein, weil ich nur das Bild habe, eine Zeichnung, und nicht vor so einem Wesen stehen kann, um es mit meinen Augen wiederzuerkennen. Es ist ein Phantasiegebilde. Oder präziser: Das Wissen, dass die Phantasie praktisch beliebig neue Wesen erdenken kann, die leicht zu skizzieren sind, macht es sehr wahrscheinlich, dass auch dieses Wesen ein Phantasiegebilde ist.

Vollbreit hat geschrieben:Die Frage was den Wahrheitsgehalt von Sätzen oder Aussagen ausmacht, hängt ja von der jeweiligen Wahrheitstheorie ab. Du kannst der Konsenstheorie die Wahrheit (die nicht primär darauf abzielt mit den Tatsachen übereinzustimmen) schlecht vorwerfen, dass sie nicht die Konsenstheorie der Wahrheit (die darauf abzielt mit den Tatsachen übereinzustimmen) ist.
Damit hast Du bereits das Urteil getroffen, was es zu finden gilt.

Die Konsenstheorie definiert "Wahrheit" auf ziemlich nebulöse Weise. Sie löst sich nicht wirklich von der Vorstellung der Korrespondenz, sondern verschleiert diese Vorstellung nur - das meine ich.
Ich glaube auch, dass die Korrespondenztheorie unserem angeborenen Realitätssinn entspricht, den wir mit Tieren teilen.

Vollbreit hat geschrieben:Ich wüsste nicht so genau, wie unbegründeter Konsens überhaupt aussehen soll.

Was würdest du denn als Begründung akzeptieren?

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Speziell Ideologen, die eigentlich nicht über Wahrheit reden wollen sondern lieber über Dogmen, freuen sich natürlich über den Nebel, den Habermas da veranstaltet hat.
Ich habe das Gefühl, dass Du hier etwas unsachlich wirst.

Keineswegs, wenn nämlich "Wahrheit" von Konsens abhängt, kann man auch Dogmen als "Wahrheit" bezeichnen. Habermas beabsichtigt das nicht, aber die überflüssige Verkomplizierung seiner Begriffswelt begünstigt das evtl. Das sage ich vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die Konsenstheorie schleierhaft ist.

Vollbreit hat geschrieben:Was ist denn für Dich eine Tatsache?

Ich hab's schon paar mal erklärt. Um Wörter und Definitionen möchte ich nicht streiten. Ich nehme an, dass es viele Dinge gibt, die von meinen Gedanken unabhängig existieren. Von den meisten davon weiß ich nichts. Von einigen davon habe ich eine Vorstellung die durch Wechselwirkung mit ihnen entstanden ist. Meine Vorstellungen sind durch die Art der Wechselwirkung begrenzt, ich vermute, dass ich nur einige Aspekte der Dinge kenne. Aus meinen Vorstellungen entwickle ich u.U. eine Erwartung, wie manche Dinge aus einer anderen Perspektive aussehen. Wenn sich diese Erwartung nicht bestätigt, sage ich "ich habe mich über das Ding geirrt".
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » So 11. Aug 2013, 22:41

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass die Standardwerke des Wissenschaftstheorie nicht zum geistigen Allgemeingut eines Bright gehören (statistisch gesehen)?
Na ok, es ist nicht jedemanns Sache, alles genau wissen zu wollen. Man kann aber auch z.B. in gut gemachten Fernsehsendungen viel lernen und vieles ist auch nicht so kompliziert, dass es nicht auch einer breiteren Masse zugänglich wäre.
Das mit dem, nicht alles genau wissen wollen, war das jetzt eine Beschreibung der Brights? 'tschuldigung, aber der kam mir gerade so.

ujmp hat geschrieben:Hab ich mit was anderem verwechselt, aber so sind es sogar über 30 Jahre nach Popper oder Wittgenstein und so.
Und das heißt jetzt was? Dass man alles schon bei Popper findet? Naja.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:In Bezug auf das Thema: Es ist jedenfalls ignorant, wenn man Naturwissenschaftlern so begegnet, als ob sie von diesen Sachen erst mal von Seiten der Geisteswissenschaft erfahren müssten. Zur Allgemeinbildung gehört es aber leider sicher nicht.
Findest Du diese beiden Aussagen nicht etwas widersprüchlich? Und von wem sollten sie es sonst erfahren?
Sie finden das u.U. auch selbst heraus, mein Guter! Die Naturwissenschaft ist m.E. viel besser geeignet, solche Probleme erst mal zu entdecken und auch zu lösen.
Ich weiß tatsächlich nicht, wo Dein Problem ist. Die Naturwisenschaften können eh alles besser und alles was wichtig ist, ist naturwissenschaftlich, gut, stinknormaler Szientismus. Man liest hier zwar in unausgesetzter Folge, dass so ziemlich jedes Klischee über Szientisten von nicht so ganz wenigen erfüllt und manchmal ins Groteske übersteigert wird, aber okay, das gehört dazu.
Aber diese Mischung aus weiß doch jedes Kind, aber eben nicht jeder und eigentlich nicht mal viele, interessiert aber auch keinen, aber wenn es interessieren würde, hätte es die Naturwissenschaft schon selbst rausgefunden die können nämlich eigentlich alles besser... jo, das klingt schon eigentartig.

ujmp hat geschrieben:Das liegt aber einfach daran, dass sie sich mit viel elementareren und besser beurteilbareren Problemen beschäftigt, als z.B. eine Gesellschaftstheorie.
Ja nee, is klar.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Da trifft es sich ja gut, dass Habermas' sich selbst als Vertreter eines sanften Naturalismus bezeichnet.
Na prima!
Na guck.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Wie kommst Du auf die Idee Philosophie habe etwas mit freier Assoziation zu tun? Das ist eine Technik die Freud anwandte, in der Philosophie hat sie keine Bedeutung, wenn doch, sag mir bitte wo.
Als Philosophie kann man halt alles Mögliche bezeichnen, auch seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, Religionsphilosophie usw. Ein Naturalist neigt eher zu Themen, die der Wissenschaft nahe stehen, eben auch Wissenschaftsphilosophie.
Ach, was wäre das Leben nur, ohne gepflegte Vorurteile, wa? Dir werden die nie ausgehen, egal wie alt Du wirst.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Das ist doch schon mal ein guter Ansatzpunkt und zu zeigen, dass das mit den Tatsachen nicht mal bei denen so leicht ist, die meinen, ihnen sei das durchaus bewusst.
So wie ich das lese, würdest Du sagen wollen, das das Brandenburger Tor eine Tatsache ist, habe ich das so richtig verstanden?
Falls ja: Ich bestreite, dass das Brandenburger Tor eine Tatsache ist. Ich bestreite nicht, dass es das Brandenburger Tor gibt. Aber ich bestreite, das es eine Tatsache ist. Es ist das Brandenburger Tor.

Das ist - sagen wir mal - nicht widersprüchlich, aber auch nicht besonders clever, es so zu sehen. Was hast du denn von diesem energetisch aufwendigen Sophismus?
Na, ich hoffe, dass am Ende Du was davon hast.
Ansonsten glaube ich, dass es Dir sehr schwer fallen wird, darzustellen, was Tatsachen sind.
Ich glaube, dass die Aussage: „Das Brandenburger Tor ist eine Tatsache“, nicht sehr glücklich ist, aber wenn Du drauf bestehst, können wir da weiter machen.
Was charakterisiert denn dann Tatsachen, wenn das Bradenburger Tor eine ist? Mir geht es um die einfache Frage: Was ist eine Tatsache? Damit meinte ich nun keine Aufzählung von 82 Tatsachen, aber wenn es sein muss, auch das, sondern die Frage, was eine Tatsache zu einer Tatsache macht. Wann ist ein Mann ein Mann, ein Auto ein Auto, eine Gleichung eine Gleichung, eine Tatsache eine Tatsache?

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ist Pegasus eine Tatsache?
Nein, weil ich nur das Bild habe, eine Zeichnung, und nicht vor so einem Wesen stehen kann, um es mit meinen Augen wiederzuerkennen.
Gut, was ist mit einem Foto aus der Schlacht um Stalingrad? Tatsache oder nicht? Du kannst nicht davor stehen und Dir die Schlacht angucken.

ujmp hat geschrieben:Es ist ein Phantasiegebilde. Oder präziser: Das Wissen, dass die Phantasie praktisch beliebig neue Wesen erdenken kann, die leicht zu skizzieren sind, macht es sehr wahrscheinlich, dass auch dieses Wesen ein Phantasiegebilde ist.
Gut, Phatasiegebilde, sind also keine Tatsachen. Letzte Nacht hatte ich einen Albtraum. Tatsache oder nicht? (Ich meine nicht, ob ich gelogen habe, sondern gesetzt es sei wahr, ist der Albtraum – ein Phatasiegebilde – eine Tatsache?)

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Die Frage was den Wahrheitsgehalt von Sätzen oder Aussagen ausmacht, hängt ja von der jeweiligen Wahrheitstheorie ab. Du kannst der Konsenstheorie die Wahrheit (die nicht primär darauf abzielt mit den Tatsachen übereinzustimmen) schlecht vorwerfen, dass sie nicht die Konsenstheorie der Wahrheit (die darauf abzielt mit den Tatsachen übereinzustimmen) ist.
Damit hast Du bereits das Urteil getroffen, was es zu finden gilt.

Die Konsenstheorie definiert "Wahrheit" auf ziemlich nebulöse Weise.
Nö.

ujmp hat geschrieben:Sie löst sich nicht wirklich von der Vorstellung der Korrespondenz, sondern verschleiert diese Vorstellung nur - das meine ich.
Sagtest Du schon mal, was fehlt ist die Begründung. Wie? Wodurch?
Gewönlich wird kritisiert, der Konsens der Wissenden sei kein Wahrheitskriterium, man wisse dann noch immer nicht, was Wahrheit ist/ausmacht. Meinst Du das?

ujmp hat geschrieben:Ich glaube auch, dass die Korrespondenztheorie unserem angeborenen Realitätssinn entspricht, den wir mit Tieren teilen.
Prima, schon mal überlegt auf allen Vieren zu laufen, dann teilen wir noch mehr mit den Tieren. Gelobt sei der naturalistische Fehlschluss.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich wüsste nicht so genau, wie unbegründeter Konsens überhaupt aussehen soll.
Was würdest du denn als Begründung akzeptieren?
Etwas, was mich überzeugt.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich habe das Gefühl, dass Du hier etwas unsachlich wirst.
Keineswegs, wenn nämlich "Wahrheit" von Konsens abhängt, kann man auch Dogmen als "Wahrheit" bezeichnen.
Nun, und wenn Wahrheit von Tatsachen abhängt geht das nicht? Wie oft hat man die – eigentlich erschreckend geschemidige Anpassungsfähigkeit vieler Wissenschaften, so rein empirisch betrachtet - Übereinstimmung zugunsten einer neuen nachbessern müssen? Was hat man nicht alles als Wahrheit bezeichnen dürfen? Der Punkt ist, man weiß recht selten und bei den spannenden Fragen nie, wann die Übereinstimmung mit den Tatsachen denn konkret gegeben ist. Sind wird jetzt ganz nahe dran, oder sehr weit weg? Viel näher als wir denken, oder viel weiter, als wir ahnen? Und woran erkennt man überhaupt das Ziel?
Sicher kann man Dogmen als Wahrheit bezeichnen, aber kannst Du ein Dogma erkennen? Ist das, was ein Dogma zu einem solchen macht, für alle Welt unerkennbar? Eigentlich doch nicht, oder? Also, würde in der Konsensrunde – es geht um einen Konsens der zum Thema Kompetenten, nicht irgendeiner sagen: „Hey, das ist kein Argument, das ist ein Dogma, damit können wir für den Diskurs nichts anfangen?“

ujmp hat geschrieben:Habermas beabsichtigt das nicht, aber die überflüssige Verkomplizierung seiner Begriffswelt begünstigt das evtl.
Was ist denn da übermäßig kompliziert, dass die hellsten Szientisten-Köpfe so reihenweise umkippen, wo man dümmliche Philosophiestudenten damit bereits in Frühsemestern belästigt?

ujmp hat geschrieben:Das sage ich vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass die Konsenstheorie schleierhaft ist.
Woran machst Du Deine Überzeugung fest? Vielleicht hat einer die feste Überzeugung, dass Frau Merkel vom Mars kommt. Der wäre bestimmt besorgt.

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Was ist denn für Dich eine Tatsache?
Ich hab's schon paar mal erklärt. Um Wörter und Definitionen möchte ich nicht streiten.
Um was dann? Wer das schönere Auto hat?
Für Dich ist immer alles ganz klar, so klar, dass Du nicht müde wirst, anderen zu sagen wie langweilig, dämlich usw. sie sind dass sie rumschwafeln und wenn es dann darum ginge die Quelle Deiner Überlegenheitsphatansien mal offenzulegen, dann kommt regelmäßig der geordnete Rückzug. Wenn's jetzt das erste Mal gewesen wäre...

ujmp hat geschrieben:Ich nehme an, dass es viele Dinge gibt, die von meinen Gedanken unabhängig existieren.
Prima, ich auch.
Meinst Du Habermas würde das nicht annehmen?

ujmp hat geschrieben:Von den meisten davon weiß ich nichts. Von einigen davon habe ich eine Vorstellung die durch Wechselwirkung mit ihnen entstanden ist
Mnjoo. Hast Du alles, was Du weißt, selbst untersucht, herausgefunden oder glaubst Du auch, dass es die Schlacht um Stalingrad tatsächlich gegeben hat? Du warst ja nicht dabei.

ujmp hat geschrieben:Meine Vorstellungen sind durch die Art der Wechselwirkung begrenzt, ich vermute, dass ich nur einige Aspekte der Dinge kenne.
Da würde ich Dir nun wieder mehr zu trauen, als Du Dir selbst. Mein Vorschlag: Wir wissen vielleicht weit weniger Dinge, als wir ahnen, keine Ahnung, wie sollte ich. Aber, das, was wir wissen, wissen wir mitunter sehr genau, sehr gut. Oft wüsste ich nicht einmal, was man über bestimmte Dinge mehr wissen müsste. „Frau Merkel ist Stand heute, 11.8.2013, Bundeskanzlerin.“ Dazu muss ich nicht wissen, welche Schuhgröße sie hat oder ob sie Makrelen mag. Von diesem Satz würde ich sogar behaupten, dass er eine Tatsache ausdrückt oder behauptet.

ujmp hat geschrieben:Aus meinen Vorstellungen entwickle ich u.U. eine Erwartung, wie manche Dinge aus einer anderen Perspektive aussehen. Wenn sich diese Erwartung nicht bestätigt, sage ich "ich habe mich über das Ding geirrt".
Das würde ich auch sagen.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 12. Aug 2013, 00:53

Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass die Aussage: „Das Brandenburger Tor ist eine Tatsache“, nicht sehr glücklich ist, aber wenn Du drauf bestehst, können wir da weiter machen.
Was charakterisiert denn dann Tatsachen, wenn das Bradenburger Tor eine ist? Mir geht es um die einfache Frage: Was ist eine Tatsache?

Wenn ich hier mal einspringen darf: das Brandenburger Tor ist keine Tatsache, sondern ein Gebäude in Berlin. Die Aussage: "das Brandenburger Tor ist ein Gebäude in Berlin" ist eine Tatsachenbehauptung. Die wahr ist, falls es in Berlin tatsächlich (sic) ein solches Gebäude gibt und falsch, falls das nicht der Fall ist.

Vollbreit hat geschrieben:„Frau Merkel ist Stand heute, 11.8.2013, Bundeskanzlerin.“ Dazu muss ich nicht wissen, welche Schuhgröße sie hat oder ob sie Makrelen mag. Von diesem Satz würde ich sogar behaupten, dass er eine Tatsache ausdrückt oder behauptet.

Ja, genau. Wo ist nun Dein Problem mit dem Begriff "Tatsache"?
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » Mo 12. Aug 2013, 06:31

AgentProvocateur hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass die Aussage: „Das Brandenburger Tor ist eine Tatsache“, nicht sehr glücklich ist, aber wenn Du drauf bestehst, können wir da weiter machen.
Was charakterisiert denn dann Tatsachen, wenn das Bradenburger Tor eine ist? Mir geht es um die einfache Frage: Was ist eine Tatsache?

Wenn ich hier mal einspringen darf: das Brandenburger Tor ist keine Tatsache, sondern ein Gebäude in Berlin. Die Aussage: "das Brandenburger Tor ist ein Gebäude in Berlin" ist eine Tatsachenbehauptung. Die wahr ist, falls es in Berlin tatsächlich (sic) ein solches Gebäude gibt und falsch, falls das nicht der Fall ist.

Das ist eine Definitionsfrage des Wortes "Tatsache", ich sag ja, ich will mich um Wörter streiten. Aber es geht so auch glaube ich nicht weil du "Tatsache" ("tatsächlich") auf der rechten Seite stehen hast, was diese Definition zirkulär macht. Falls du das meinst, ich finde es nicht redundant zu sagen, das "Brandenburger Tor in Berlin ist eine Tatsache" weil "Brandenburger Tor in München ist eine Tatsache" falsch ist.

Aber sagen wir mal so: Wenn jemand von "Wissen" spricht, soll er selbst sagen, unter welchen Umständen er zugeben würde, dass er sich geirrt hat. Eine Theorie, die nicht falsch sein kann, ist wertlos, so merkwürdig das auch erst mal klingt.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » Mo 12. Aug 2013, 07:25

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ist Pegasus eine Tatsache?
Nein, weil ich nur das Bild habe, eine Zeichnung, und nicht vor so einem Wesen stehen kann, um es mit meinen Augen wiederzuerkennen.
Gut, was ist mit einem Foto aus der Schlacht um Stalingrad? Tatsache oder nicht? Du kannst nicht davor stehen und Dir die Schlacht angucken.

Von Stalingrad habe ich Fotos, nicht nur Zeichnungen. Den Wirklichkeitsgehalt von Fotos kann ich anhand von Fotos abschätzen, die Dinge zeigen, die ich selbst auch aus direkter Anschauung kenne. Die beste Erklärung für Fotos und Filme von der Schlacht in Stalingrad ist daher für mich, dass sie stattgefunden hat. Und wie ich schon sagte, ist dem gegenüber die beste Erklärung für eine Zeichnung von einem Pegasus, dass er eine reine Erfindung ist. Ich kann zwar nicht beweisen, dass es diese Fabelwesen nicht gibt, ich kann mir aber mit Leichtigkeit und innerhalb von Minuten Dutzende andere Fabelwesen selbst ausdenken: Pferd mit Düsenantrieb, Schwein mit Flügeln, Esel mit Ästen und Zweigen, Fisch mit Hufen an den Flossen, Meerjungfisch mit dem Unterkörper einer Frau, Maus mit Zebrastreifen, Dreihorn, Vierhorn, Vielhorn, Igel mit Kugelschreiberstacheln usw. usw. usw. - Deren Existenz ist nicht auszuschließen, ok, dies ist nur eben kein besonders cleveres Kriterium, um sie für existent zu halten! Die Überzeugung, dass die Schlacht um Stalingrad stattgefunden hat, speist sich außerdem aus vielen andern Quellen und hängt nicht nur von der prinzipiellen Beurteilbarkeit eines Fotos ab.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » Mo 12. Aug 2013, 11:03

AgentProvocateur hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass die Aussage: „Das Brandenburger Tor ist eine Tatsache“, nicht sehr glücklich ist, aber wenn Du drauf bestehst, können wir da weiter machen.
Was charakterisiert denn dann Tatsachen, wenn das Bradenburger Tor eine ist? Mir geht es um die einfache Frage: Was ist eine Tatsache?

Wenn ich hier mal einspringen darf: das Brandenburger Tor ist keine Tatsache, sondern ein Gebäude in Berlin. Die Aussage: "das Brandenburger Tor ist ein Gebäude in Berlin" ist eine Tatsachenbehauptung. Die wahr ist, falls es in Berlin tatsächlich (sic) ein solches Gebäude gibt und falsch, falls das nicht der Fall ist.
Ja, so sehe ich das auch.
Damit ist Tatsache zu sein, etwas, was einer Behauptung zukommt, oder eben auch nicht, aber nicht einem Gebäude, einem Auto oder der Sonne.

AgentProvocateur hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:„Frau Merkel ist Stand heute, 11.8.2013, Bundeskanzlerin.“ Dazu muss ich nicht wissen, welche Schuhgröße sie hat oder ob sie Makrelen mag. Von diesem Satz würde ich sogar behaupten, dass er eine Tatsache ausdrückt oder behauptet.

Ja, genau. Wo ist nun Dein Problem mit dem Begriff "Tatsache"?
Ich habe eigentlich kein Problem mit dem Begriff „Tatsache“, ich behaupte nur, dass das mit den Tatsachen, nicht so leicht ist, wie man denkt.

Der Modus ist klar, eine Tatsachenbehauptung ist dann wahr, wenn das Behauptete tatsächlich der Fall ist.
Nun ist es so. Ich habe Frau Merkel persönlich noch nie gesehen (klar, im Fernsehen, in der Zeitung schon). Warum darf ich annehmen, dass es sie gibt, dass sie Bundeskanzlerin ist? (Ich zweifle keine Sekunde, dass beides der Fall ist.)

a) Ich habe Kopfschmerzen.
b) Es regnet.
c) Frau Merkel ist Kanzlerin.
d) Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beträgt 299.792, 458 km/sec.
e) Klavierspielen zu lernen ist gar nicht so schwer.
f) Rückwärtslaufen kann jeder.
g) Die Grundmotivation aller Lebewesen ist der Egoismus.
h) Die Wahlbeteiligung der nächsten Bundestagswahl droht historisch gering zu werden.
i) Morgen wird es regnen.

Allen Behauptungen von a) bis i) ist gemein, dass die genau dann wahr sind, wenn das, was sie behaupten tatsächlich der Fall ist.
So weit, so gut, so leicht.

Um b) zu verifizieren, muss ich aus dem Fenster gucken und wissen, wann der Behauptende sich wo aufhält. Ich muss weiter davon ausgehen, dass der Behauptende klar im Kopf ist und sagt, was er meint und meint, was er sagt. Ferner muss ich davon ausgehen, dass er „Regen“ begrifflich korrekt zuzuordnen gelernt hat, also die derzeit gebräuchlichen öffentlichen Sprachspiele einigermaßen beherrscht.
Es wäre gut, Strategien zu kennen, die mich im Falle eines begründeten Zweifels und hinreichendem Interesse, herausfinden lassen, ob b) tatsächlich der Fall ist.
Ich könnte (falls nahe genug) selbst hinfahren und gucken. Ich könnte einen Nachbarn des Behauptenden anrufen und fragen: „Sagen sie mal, regnet es bei ihnen wirklich, kann ich mir gar nicht vorstellen?“ Ich könnte den lokalen Wetterdienst anrufen.


Um a) zu verifizieren, muss ich einfach nur in mich hineinlauschen, bzw. Kopfschmerzen sind zuweilen so aufdringlich, dass man sie schwerlich nicht wahrnehmen kann.
Seit Wittgensteins Ausführungen über die Unmöglichkeit einer Privatsprache wissen wir, dass man auch ins eigene Innere nicht einfach so hieinlauschen kann, sondern man muss sich zunächst öffentliche Sprachspiele angeeignet haben um zu wissen, dass das, was man hat „Schmerzen“ sind und dass das, wo sie gerade auftreten, „der Kopf“ ist (genannt wird).
Das heißt, der Weg ins Allerprivateste, führt über die Aneignung öffentlich verfügbarer Techniken.
Das heißt nicht, dass man vorher kein Schmerzempfinen hat, man weiß nur nicht, dass es „Schmerzen“ sind, die man empfindet. Inwieweit man ein Empfinden von sich selbst hat, ohne öffentliche Spiele ist auch zu diskutieren und keinesfalls sonnenklar.
Und dennoch darf man bei allem Wittgenstein nicht vergessen, dass man als Subjekt eine ausgezeichnete Berechtigung hat über seine eigene Befindlichkeit Auskunft zu geben und es sehr gute Gründe geben muss, um jemandem diese prima facie Berechtigung abzusprechen.

Der gleiche Gedanke noch mal anders: Was genau macht uns eigentlich so sicher, dass etwas der Fall ist, wenn wir selbst nachgeaschaut haben? „Ja, im Kühlschrank ist noch Bier, ich hab es selbst gesehen.“ Wenn wir es selbst gesehen haben, dann zweifeln wir nicht mehr.
Ist es nicht gerade die Strategie z.B. von Dennett oder auch allgemein des Szientismus uns „beizubringen“, dass unsere Sinne uns täuschen können? Dass man der Aussage, dass man etwas mit eigenen Augen gesehen hat oder dabei war, lieber nicht zu sehr trauen sollte? Dass die Empfindung eines Subjekts, aufrichtig oder nicht, weitgehend wertlos ist, bestenfalls den Rang von Anekdoten einnimmt? Dass das einzige was wiklich zählt und belastbar ist, die objektivierte Darstellung ist?
Tatsachen sind also nicht das was ich selbst empfinde, sehe oder irgendwie wahrnehme, sondern das, was irgendwelche Studien ergeben haben.
Dürfen wir uns also doch nicht so sicher sein, wenn wir es selbst gesehen haben?


Um e) zu verifizieren müsste man Klavier spielen lernen und könnte zu dem Schluss kommen: „Also ich find's sauschwer.“ Beide könnten aber beteuern und dabei nicht lügen, dass ihre jeweilige Sicht stimmt. Was ist denn jetzt die Tatsache? Oder gibt es zwei, sich widersprechende Tatsachen?


Um d) zu verifizieren, muss man ins Lexikon schauen. Oder Physiker werden und selbst nachmessen.
Aber eigentlich steht der Satz nur als Stellvertreter für alle Sätze, von denen wir aus guten Gründen annehmen, dass sie wahr und richtig sind und nicht daran zweifeln, weil wir es so gelernt haben. „Wird schon stimmen“, meint man. „Es wäre aufgefallen, wenn der Wert falsch gewesen wäre“, ist die allgemeine Ansicht. Man verlässt sich zum einen auf die Fachleute und ihre Sorgfältigkeit und Redlichkeit, zum anderen wäre es nicht möglich und überaus unökonomisch, das Rad in jedem Leben neu erfinden zu müssen.
Wir knüpfen an, an Praktiken unserer Gesellschaft, mal tradiert, mal neuer, z.B., wenn wir lernen eine Schleife zu binden, Auto zu fahren und das richtige Verhalten in einem Restaurant oder im Umgang mit dem Internet einzuüben. Aber wir erben nicht nur diese Praktiken sodern auch Berechtigungen, nämlich zu behaupten, die Lichtgeschwindigkeit sei so und so, obwohl wir es nie überprüft haben und auch nie die Absicht haben, es zu tun.
Ob es Higgs-Bosonen, den Welle-Teilchen-Dualismus, Tiefseefische oder Pluto wirklich gibt, weiß ja im Grunde kein Mensch und dennoch reden wir darüber in der Art, wie wir darüber reden, dass Merkel Kanzlerin ist oder der Supermarkt geöffnet hat.
Doch wir erben nicht nur die Berechtigung einzelne Fakten zu behaupten, sodern auch komplexe Theorien, die wir ebenfalls selbst kaum je überprüft haben.
(Redlicherweise allerdings nur dann, wenn wir verstanden haben, wovon wir reden. Das trennt Blender und Kenner oder zumindest redlich Bemühte.)

Um h) und i) zu verifizieren, kann man lapidar gesagt nur abwarten und Tee trinken. Regnet es morgen, entspricht die Behauptung den Tatsachen, regnet es nicht, war sie falsch. Dasselbe mit der Wahlbeteiligung. Aber das machen wir nicht. Wir nehmen unsere Prognosen in einer ganz anderen Art und Weise ernst, etwa, wenn wir vom Klimawandel reden. Kein Mensch sagt: „Ja, schaun mer mal, was das Jahr 2100 so bietet, dann wissen die Nachkommen, ob die Aussagen über den Klimawandel den Tasachen entsprechen, oder nicht.“ Vielmehr ist man der Ansicht man müsse heute, oder am besten gestern, was tun, denn, wenn alles so weitergeht wie bisher, führt das in eine Katastrophe.
Eigentlich wissen wir ziemlich wenig über den Klimawandel und die diversen Modelle zeigen eine große Streubreite, dennoch wird mit viel Emotion diskutiert, dass die Behauptungen den Tatsachen entsprechen werden. Mir geht es hier nicht um eine inhlatliche Diskussion der Klimahypothesen, sondern darum, zu zeigen, wie wichtig uns zuweilen das ist, was kommen wird, oft wichtiger als das, was der Fall ist. Inwieweit diskutiert man hierbei über Tatsachen?


Um g) zu verifizieren, tja, ist das so einfach? Hier ist ja etwas schon der Fall oder eben nicht, aber ich kann keine Messsonde irgendwo reinstecken und habe kurze Zeit später die Antwort (wobei auch dazu viel zu sagen wäre). Hier geht es um Interpretation und mehr noch darum, welches mein bevorzugtes Modell der Interpretation ist.
Für manche ist eben alles Egoismus und Konkurrenz. Sarah Blaffer Hrdy, eine renommierte Biologin (http://de.wikipedia.org/wiki/Sarah_Blaffer-Hrdy) schreibt die Geschichte der Evolution ganz ähnlich und doch ganz anders, nämlich aus der Perspektive der Weiblichkeit, der Mutter vor allem. Evolution, sagt sie sinngemäß, war immer schon eine Geschichte der Kooperation, der Sorge, des Miteinander, der Behütung, der Pflege, aber es könnte durchaus der Tatsache geschuldet sein, dass die Evolution eine von Männern erzählte Geschichte ist und Männer schauen eben ein wenig anders in die Welt. Wo sie hinschauen, erblicken sie Krieg, Kampf und Konkurrenz, Frauen würden etwas ganz anderes sehen.
So wird auch „Mutter Natur“, so das Buch von Blaffer-Hrdy, auf Algorithmen und Funktionsweisen eingekürzt, zur Nutzenoptimierung. So kann man auch die Natur ertragen, die ewig Unerträgliche, weil Unberechenbare.

Der Szientismus ist sehr technikfixiert, sehr machbarkeitsorientiert, zudem recht aggressiv in seinen Diskreditierungsversuchen und im Wesen sehr männlich. In ihrem letzten Buch, hat die große Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich die These aufgestellt, die Psychoanalyse sei dem Wesen nach sehr weiblich und böte Männern die Chance sich mit ihrer weiblichen Seite auseinanderzusetzen. Ganz ohne Quotenregelung ist die Zahl der Psychoanalytikerinnen von Rang groß, nahezu von der ersten Stunde an: www.psychoanalytikerinnen.de/

Man muss nicht die Flöhe husten hören um die leise, unausgesprochene Entwertung wahrzunehmen, dass Frauen sich eben dort wohl fühlen, wo es nicht so genau, klar und rational zugeht. Psyche, Kinder, Tiere (dort eher die Pflege, als die Forschung), Sozialarbeit, Gesundheitswesen das ist die Stärke der Frau. Auch bei Placebostudien, sprechen Frauen eher auf Placebos an. Sie sind irgendwie doch verführbarer, emotionaler und das ist irgendwie schlecht, weil unpräzise. Ob das nun die alter patriachale Leier ist oder hormonell präsiponiert, oder Rollen, in die sich beide gerne fügen, spielt keine größere Rolle, die Frage ist, warum die Perspektive der einen Hälfte stets die richtige sein soll? Nur aus Gewohnheit, weil diese Hälfte die Prinzipien aufgestellt hat, mit Hilfe derer sie meint darüber richten zu können, was gut und schlecht ist, ohne derart wertende Begriffe aussprechen zu müssen?


Um f) zu falsifizieren, muss man das Buch „Deutschland dritter Klasse“ lesen:
Friedrichs/Müller/Baumholt hat geschrieben:„Können Sie rückwärtslaufen?“, hatte uns der Rektor ziemlich am Anfang unseres Aufenthalts an der Fröbelschule gefragt. Und bevor wir Antworten konnten, sagte er: „Viele hier nicht.“ Christopf Graffweg sieht sich auf dem Schulhof um. Es ist große Pause. „Wer immerzu Videospiele spielt, lernt vielleicht, strategisch zu denken, aber er weiß irgendwann nicht mehr, was hinter ihm los ist. Wer nie auf einen Baum klettert oder auf der Straße spielt, lernt auch nicht, sich in alle Richtungen zu orientieren. Das versuchen wir hier nachzuloen. Ganz schön spät“, sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. […]
„Die meisten hier haben Probleme sich vier, fünf Minuten am Stück zu bewegen“ sagt Andreas Sportlehrer. Ihm fallen die motorischen Probleme seiner Schüler nicht nur im Schwimmbad auf. In der Turnhalle macht er mit ihnen statt Ballspielen erst mal Gleichgewichtsübungen. Viele habe Probleme, sich auch nur wenige Sekunden auf einem Bein zu halten. Und er übt mit ihnen links und rechts zu unterscheiden, balanciert, guckt, dass sie lernen, Arme und Beine zu koordinieren.[...]
Es ist nicht nur die Bewegung, die den Schülern fehlt. Zu Hause in den Familien liest zum Beispiel selten jemand vor oder geht mit den Kindern nach draußen, spielt oder macht Musik mit ihnen. Auch stellen die Lehrer fest, dass bei ihren Schülern zu Hause wenig geredet wird, schon gar nicht über Gefühle.
(Julia Friedrichs, Eva Müller, Boris Baumholt, Deutschland dritter Klasse, 2009, Hoffmann und Campe, S.127f)


Es ist die Frage, ob man wirklich warten soll, bis die ironische Selbst-Dekonstruktion des Szientismus so weit fortgeschritten ist, dass alle Welt die dann wissenschaftlich abgesicherte Tatsache als geerbte Berechtigung verinnerlicht hat, die besagt, dass es ganz nützlich ist, geradezu ein evolutionärer Vorteil, sich als Ich zu empfinden, wissend, dass das natürlich eine Illusion ist und diese Illusion dennoch zwecks Selbstoptimierung zu unterstützen, in der Weise, dass man so tut, als sei man nicht nur ein Rechner mit Ohren, sondern haben auch noch einen Emotionsprozessor und einen Körper. Möglicherweise wird man sogar herausfinden ob und wie diese Funktionseinheiten zusammenspielen und weitere Optimierungsstrategien errechnen.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » Mo 12. Aug 2013, 12:15

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Gut, was ist mit einem Foto aus der Schlacht um Stalingrad? Tatsache oder nicht? Du kannst nicht davor stehen und Dir die Schlacht angucken.
Von Stalingrad habe ich Fotos, nicht nur Zeichnungen.
Was Dir aber für die Aussage, mit Bildern (Fotos) könne man feststellen was Tatsache ist, da man das fotographierte Bild verinnerlichen und das Abbild in der Realität wiedererkennen kann, nicht hilft. Die Schlacht um Stalingrad ist Geschichte.

ujmp hat geschrieben:Den Wirklichkeitsgehalt von Fotos kann ich anhand von Fotos abschätzen, die Dinge zeigen, die ich selbst auch aus direkter Anschauung kenne. Die beste Erklärung für Fotos und Filme von der Schlacht in Stalingrad ist daher für mich, dass sie stattgefunden hat.
Ich behaupte mal keck, dass, wenn Du nicht Experte für den zweiten Weltkrieg oder Fotographie bist, Du eine Fälschung nicht erkennen würdest.
Es bleibt das Annehmen von etwas Erzähltem, Berichtetem, Sekundärem.

ujmp hat geschrieben:Und wie ich schon sagte, ist dem gegenüber die beste Erklärung für eine Zeichnung von einem Pegasus, dass er eine reine Erfindung ist.

Dass im Zeitalter des Computers ein Foto immer höherwertiger ist, als eine Zeichnung, ist schwer zu glauben. Vor Jahren schon hat mal ein Profi der Branche gesagt: „Geben sie mir ihr harmlosestes Urlaubsvideo und ich mache daraus einen Fall für den Staatsanwalt.“

ujmp hat geschrieben:Ich kann zwar nicht beweisen, dass es diese Fabelwesen nicht gibt, ich kann mir aber mit Leichtigkeit und innerhalb von Minuten Dutzende andere Fabelwesen selbst ausdenken: Pferd mit Düsenantrieb, Schwein mit Flügeln, Esel mit Ästen und Zweigen, Fisch mit Hufen an den Flossen, Meerjungfisch mit dem Unterkörper einer Frau, Maus mit Zebrastreifen, Dreihorn, Vierhorn, Vielhorn, Igel mit Kugelschreiberstacheln usw. usw. usw.


Und ich kann mir Autos ausdenken die fliegen, schwimmen und sprechen, gibt es deshalb keine Autos?

ujmp hat geschrieben:Deren Existenz ist nicht auszuschließen, ok, dies ist nur eben kein besonders cleveres Kriterium, um sie für existent zu halten!
Wir reden ja auch nicht über die Existenz von fliegenden Pferden, sondern darüber, was eine Tatsache ist. Du sagtest, das wovon man sich ein Bild machen kann, sei eine Tasache oder bilde eine ab, da man das Abgebildete in der Realität dann wieder erkennen könne. Das ist aber nicht immer der Fall, da Fotos zuweilen unwiederbringlich Vergangenes zeigen, Zeichnung auch etwas zeigen können, was es gibt, z.b. das Brandenburger Tor und Fotos eine Montage sein können.
Aber, zugegeben, ein Foto von etwas zu haben, ist schon mal besser als nichts, wenn man untermauern will, dass es sich bei einer Aussage um eine Tatsachenbehauptung handelt, auf die man sich festlegen lässt. Zudem muss man wissen, wie man mit einem Foto umgeht, was uns zwar vollkommen geläufig ist, aber auch das ist eine Praxis, die wir erlernen mussten. Aber das reicht nicht, es ist eine Facette, ein emprisches Datum, das eine Aussage stützt.

Ich könnte z.B. behaupten: „Es gibt Menschen, die den Islam für ein Land halten.“
Damit behaupte ich nicht, der Islam sei ein Land und dieser Satz bleibt auch wahr, wenn man nachweisen kann, dass der Islam kein Land ist.

ujmp hat geschrieben:Die Überzeugung, dass die Schlacht um Stalingrad stattgefunden hat, speist sich außerdem aus vielen andern Quellen und hängt nicht nur von der prinzipiellen Beurteilbarkeit eines Fotos ab.
Das verrückt den Fokus m.E. in die Richtung, dass es sich um eine gemeinschaftlich geteilte Überzeugung handelt, was ich nicht als Makel empfinden würde.
(Meine Überzeugung ist dabei, dass weder die Konsens- noch die Korrespondenztheorie für sich zureichend sind [die Konsenstheorie im Kriterium, die Korrespondenztheorie wird zirkulär und kann oft nicht erklären, woran man erkennt, dass etws der Fall ist], sie praktisch in der Kombination verwendet werden, vielleicht noch mit der Kohärenztheorie, und da ganz brauchbar sind, dennoch könnte manches durch die Machen rutschen.)
Aber ich glaube, auch wenn Du meinst, dass es sich um eine Vielzahl der Quellen, statt der Überzeugungen handelt, kommt man in etwa an dieselebe Stelle, denn für mehr Quellen, brauchst Du wieder mehr Experten, die ihre Echtheit belegen und wiederum solche, die Dir sagen, dass die Experten zurecht als solche gelten und keine Scharlatane sind.

Dennoch trennt man ja Weltbilder, die von sich behaupten auf überwiegend oder einzig und allein Tatsachen zu beruhen von solchen, von denen man annimmt, sie beruhten auf Mythen, Erfindungen, Hörensagen, unreflektierter Tradierung. Also grobe Einteilung oder Orientierung von Stufen von Weltbildern finde ich das angemessen, aber wie so oft liegt der Teufel im Detail.
Gerade Szientisten, die gerne von sich annehmen, sie hätte überhaupt kein Weltbild (weil so etwas wie „Weltbild“ für sie schon Wischi-Waschi-Sprech ist) und seien lediglich an Fakten orientiert, kürzen die Wahrnehmung der Realität dramatisch ein. Hierzu meint Habermas:
Jürgen Habermas hat geschrieben: „Ich habe noch nie verstanden, warum wir uns in der Wissenschaft auf den externen Zugang, den wir zur Natur haben, beschränken, uns von unserem vortheoretischen Wissen trennen und die Lebenswelt artifiziell verfremden sollten – selbst wenn wir es könnten. Die Rattenpsychologie mag ja für Ratten gut sein. Der Naturalismus im ganzen erzwingt aber keineswegs die naturalistisch verfremdete Selbstbeschreibung eines Subjekts, das sich in seiner Welt partout unter den grammatischen Bedingungen von Ding-Ereignis-Sprachen – oder entsprechenden Theoriesprachen erkennen möchte.“
(J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Suhrkamp 1988, S.29)
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 12. Aug 2013, 18:28

ujmp hat geschrieben:Das ist eine Definitionsfrage des Wortes "Tatsache", ich sag ja, ich will mich um Wörter streiten. Aber es geht so auch glaube ich nicht weil du "Tatsache" ("tatsächlich") auf der rechten Seite stehen hast, was diese Definition zirkulär macht.

Aber ich habe und wollte auch keine Definition des Begriffes "Tatsache" geben.

ujmp hat geschrieben:Falls du das meinst, ich finde es nicht redundant zu sagen, das "Brandenburger Tor in Berlin ist eine Tatsache" weil "Brandenburger Tor in München ist eine Tatsache" falsch ist.

Nach meinem Sprachgefühl hört sich beides falsch an. Ich würde sagen: "es gibt das Brandenburger Tor in Berlin" und "es gibt kein Brandenburger Tor in München".
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 12. Aug 2013, 18:42

Vollbreit hat geschrieben:Ich habe eigentlich kein Problem mit dem Begriff „Tatsache“, ich behaupte nur, dass das mit den Tatsachen, nicht so leicht ist, wie man denkt.

Der Modus ist klar, eine Tatsachenbehauptung ist dann wahr, wenn das Behauptete tatsächlich der Fall ist.
Nun ist es so. Ich habe Frau Merkel persönlich noch nie gesehen (klar, im Fernsehen, in der Zeitung schon). Warum darf ich annehmen, dass es sie gibt, dass sie Bundeskanzlerin ist? (Ich zweifle keine Sekunde, dass beides der Fall ist.)

Aber das hatten wir doch schon ausführlich im Wahrheitsthread: es ist ein grundlegender Unterschied, 1) ob A der Fall ist und 2) ob jemand weiß, (feststellen kann, berechtigt annehmen kann), dass A der Fall ist.

1 bezieht sich auf die Realität, die Tatsache, das, was der Fall ist und 2 auf das, was wir erkennen und gerechtfertigt annehmen können. 1 ist eine ontologische Frage, ("was gibt es?"), 2 eine epistemische Frage, ("was können wir wissen?").

Deinen weiteren Ausführungen kann ich nicht recht folgen, Du müsstest die für mich irgendwie besser strukturieren.

(Ich empfehle ein Buch zur Erkenntnistheorie, z.B. dieses: Franz von Kutschera - Grundfragen der Erkenntnistheorie).
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » Mo 12. Aug 2013, 18:59

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber das hatten wir doch schon ausführlich im Wahrheitsthread: es ist ein grundlegender Unterschied, 1) ob A der Fall ist und 2) ob jemand weiß, (feststellen kann, berechtigt annehmen kann), dass A der Fall ist.

1 bezieht sich auf die Realität, die Tatsache, das, was der Fall ist und 2 auf das, was wir erkennen und gerechtfertigt annehmen können. 1 ist eine ontologische Frage, ("was gibt es?"), 2 eine epistemische Frage, ("was können wir wissen?").

Ja, ich weiß auch, dass Du Dich und Myron die Sache damit klar ist, für mich nicht.
Die Konsenstheorie verfehlt zu bestimmen, was der Fall sein muss, um von Wahrheit zu sprechen (bzw. ich glaube die Korrespodenztheorie ist zum großen Teil in die Konsenstheorie eingewoben) die Korrespondenztheorie lässt im Unklaren woran wir das erfolgreiche Erreichen in der Praxis erkennen.

Der Rest soll besagen, dass hinter dem was wir Tatsache nenen außer im Nahbereich viele Unwägbarkeiten stehen, so dass das korrespondenztheoretischen Manko, zu wissen, was eine Tatsache ist, aber nicht ob wir von einer reden, stärker ins Gewicht fällt.
Dich besorgt das irgendwie nicht, was mich wundert, da Dir ansonsten Feinheiten stets auffallen. Was ist der Grund für Deine achselzuckende „Man kann halt nicht alles wissen“ Einstellung?
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 12. Aug 2013, 20:02

Vollbreit hat geschrieben:Der Rest soll besagen, dass hinter dem was wir Tatsache nenen außer im Nahbereich viele Unwägbarkeiten stehen, so dass das korrespondenztheoretischen Manko, zu wissen, was eine Tatsache ist, aber nicht ob wir von einer reden, stärker ins Gewicht fällt.
Dich besorgt das irgendwie nicht, was mich wundert, da Dir ansonsten Feinheiten stets auffallen. Was ist der Grund für Deine achselzuckende „Man kann halt nicht alles wissen“ Einstellung?

Das ist in Kürze schwer zu erklären. Ich empfehle nochmal das oben verlinkte Buch dazu, es reicht, für dieses spezielle Thema (Wahrheit, Tatsachen, Wissen, Erkennen, Evidenz, perfektes Wissen) das Kapitel 1 zu lesen, das sind ca. 30 Seiten, das sollte zu machen sein.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Myron » Mo 12. Aug 2013, 22:24

AgentProvocateur hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Das ist eine Definitionsfrage des Wortes "Tatsache", ich sag ja, ich will mich um Wörter streiten. Aber es geht so auch glaube ich nicht weil du "Tatsache" ("tatsächlich") auf der rechten Seite stehen hast, was diese Definition zirkulär macht.

Aber ich habe und wollte auch keine Definition des Begriffes "Tatsache" geben.
ujmp hat geschrieben:Falls du das meinst, ich finde es nicht redundant zu sagen, das "Brandenburger Tor in Berlin ist eine Tatsache" weil "Brandenburger Tor in München ist eine Tatsache" falsch ist.

Nach meinem Sprachgefühl hört sich beides falsch an. Ich würde sagen: "es gibt das Brandenburger Tor in Berlin" und "es gibt kein Brandenburger Tor in München".


Das Brandenburger Tor ist eine Sache und keine Tatsache. Tatsachen werden sprachlich in der Regel durch dass-Sätze ausgedrückt, z.B.: Dass das Brandenburger Tor in Berlin steht, ist eine Tatsache.
Ontologisch betrachtet, ist eine Tatsache entweder ein wahrer Aussagesatz, ein wahrer Gedanke (im nichtpsychologischen, Frege'schen Sinn—Engl. proposition) oder ein bestehender, wirklicher Sachverhalt. Insbesondere im Englischen wird der Begriff <Tatsache> oft im Sinn von <bekannte/erkannte/gewusste/festgestellte Tatsache> verwendet. Im engeren ontologischen Sinn ist Bekanntheit/Erkanntheit/Gewusstheit/Festgestelltheit jedoch kein Wesensmerkmal des Tatsachenbegriffs, und zwar unabhängig davon, ob Tatsachen als Wahrheiten oder als wirkliche Sachverhalte aufgefasst werden.

Facts: http://plato.stanford.edu/entries/facts/
States of affairs: http://plato.stanford.edu/entries/states-of-affairs/
Propositions: http://plato.stanford.edu/entries/propositions/
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Myron » Mo 12. Aug 2013, 22:38

AgentProvocateur hat geschrieben:Unter „Szientismus” verstehe ich übrigens dies: die Auffassung, nur und ausschließlich Naturwissenschaften könnten interessante Fragen aufwerfen und beantworten und Wissen generieren. Alles andere, alle Fragen, die nicht von irgend einer Naturwissenschaft behandelt wird, in deren Gebiet falle, sei eine uninteressante und irrelevante Frage. Mit anderen Worten: alle akademischen Fachgebiete, die nicht unter "Naturwissenschaft" fielen, seien für die Tonne, verzichtbar und könnten ersatzlos gestrichen werden.


Wer vertritt den ernsthaft einen solch verrückten Szientismus? Wer fordert den ernsthaft die Abschaffung der Geisteswissenschaften, der Kunst, des Sports und aller nichtwissenschaftlichen Hobbys?
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