AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube, dass die Aussage: „Das Brandenburger Tor ist eine Tatsache“, nicht sehr glücklich ist, aber wenn Du drauf bestehst, können wir da weiter machen.
Was charakterisiert denn dann Tatsachen, wenn das Bradenburger Tor eine ist? Mir geht es um die einfache Frage: Was ist eine Tatsache?
Wenn ich hier mal einspringen darf: das Brandenburger Tor ist keine Tatsache, sondern ein Gebäude in Berlin. Die Aussage: "das Brandenburger Tor ist ein Gebäude in Berlin" ist eine Tatsachenbehauptung. Die wahr ist, falls es in Berlin tatsächlich (sic) ein solches Gebäude gibt und falsch, falls das nicht der Fall ist.
Ja, so sehe ich das auch.
Damit ist Tatsache zu sein, etwas, was einer Behauptung zukommt, oder eben auch nicht, aber nicht einem Gebäude, einem Auto oder der Sonne.
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:„Frau Merkel ist Stand heute, 11.8.2013, Bundeskanzlerin.“ Dazu muss ich nicht wissen, welche Schuhgröße sie hat oder ob sie Makrelen mag. Von diesem Satz würde ich sogar behaupten, dass er eine Tatsache ausdrückt oder behauptet.
Ja, genau. Wo ist nun Dein Problem mit dem Begriff "Tatsache"?
Ich habe eigentlich kein Problem mit dem Begriff „Tatsache“, ich behaupte nur, dass das mit den Tatsachen, nicht so leicht ist, wie man denkt.
Der Modus ist klar, eine Tatsachenbehauptung ist dann wahr, wenn das Behauptete tatsächlich der Fall ist.
Nun ist es so. Ich habe Frau Merkel persönlich noch nie gesehen (klar, im Fernsehen, in der Zeitung schon). Warum darf ich annehmen, dass es sie gibt, dass sie Bundeskanzlerin ist? (Ich zweifle keine Sekunde, dass beides der Fall ist.)
a) Ich habe Kopfschmerzen.
b) Es regnet.
c) Frau Merkel ist Kanzlerin.
d) Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beträgt 299.792, 458 km/sec.
e) Klavierspielen zu lernen ist gar nicht so schwer.
f) Rückwärtslaufen kann jeder.
g) Die Grundmotivation aller Lebewesen ist der Egoismus.
h) Die Wahlbeteiligung der nächsten Bundestagswahl droht historisch gering zu werden.
i) Morgen wird es regnen.
Allen Behauptungen von a) bis i) ist gemein, dass die genau dann wahr sind, wenn das, was sie behaupten tatsächlich der Fall ist.
So weit, so gut, so leicht.
Um b) zu verifizieren, muss ich aus dem Fenster gucken und wissen, wann der Behauptende sich wo aufhält. Ich muss weiter davon ausgehen, dass der Behauptende klar im Kopf ist und sagt, was er meint und meint, was er sagt. Ferner muss ich davon ausgehen, dass er „Regen“ begrifflich korrekt zuzuordnen gelernt hat, also die derzeit gebräuchlichen öffentlichen Sprachspiele einigermaßen beherrscht.
Es wäre gut, Strategien zu kennen, die mich im Falle eines begründeten Zweifels und hinreichendem Interesse, herausfinden lassen, ob b) tatsächlich der Fall ist.
Ich könnte (falls nahe genug) selbst hinfahren und gucken. Ich könnte einen Nachbarn des Behauptenden anrufen und fragen: „Sagen sie mal, regnet es bei ihnen wirklich, kann ich mir gar nicht vorstellen?“ Ich könnte den lokalen Wetterdienst anrufen.
Um a) zu verifizieren, muss ich einfach nur in mich hineinlauschen, bzw. Kopfschmerzen sind zuweilen so aufdringlich, dass man sie schwerlich nicht wahrnehmen kann.
Seit Wittgensteins Ausführungen über die Unmöglichkeit einer Privatsprache wissen wir, dass man auch ins eigene Innere nicht einfach so hieinlauschen kann, sondern man muss sich zunächst öffentliche Sprachspiele angeeignet haben um zu wissen, dass das, was man hat „Schmerzen“ sind und dass das, wo sie gerade auftreten, „der Kopf“ ist (genannt wird).
Das heißt, der Weg ins Allerprivateste, führt über die Aneignung öffentlich verfügbarer Techniken.
Das heißt nicht, dass man vorher kein Schmerzempfinen hat, man weiß nur nicht, dass es „Schmerzen“ sind, die man empfindet. Inwieweit man ein Empfinden von sich selbst hat, ohne öffentliche Spiele ist auch zu diskutieren und keinesfalls sonnenklar.
Und dennoch darf man bei allem Wittgenstein nicht vergessen, dass man als Subjekt eine ausgezeichnete Berechtigung hat über seine eigene Befindlichkeit Auskunft zu geben und es sehr gute Gründe geben muss, um jemandem diese prima facie Berechtigung abzusprechen.
Der gleiche Gedanke noch mal anders: Was genau macht uns eigentlich so sicher, dass etwas der Fall ist, wenn wir selbst nachgeaschaut haben? „Ja, im Kühlschrank ist noch Bier, ich hab es selbst gesehen.“ Wenn wir es selbst gesehen haben, dann zweifeln wir nicht mehr.
Ist es nicht gerade die Strategie z.B. von Dennett oder auch allgemein des Szientismus uns „beizubringen“, dass unsere Sinne uns täuschen können? Dass man der Aussage, dass man etwas mit eigenen Augen gesehen hat oder dabei war, lieber nicht zu sehr trauen sollte? Dass die Empfindung eines Subjekts, aufrichtig oder nicht, weitgehend wertlos ist, bestenfalls den Rang von Anekdoten einnimmt? Dass das einzige was wiklich zählt und belastbar ist, die objektivierte Darstellung ist?
Tatsachen sind also nicht das was ich selbst empfinde, sehe oder irgendwie wahrnehme, sondern das, was irgendwelche Studien ergeben haben.
Dürfen wir uns also doch nicht so sicher sein, wenn wir es selbst gesehen haben?
Um e) zu verifizieren müsste man Klavier spielen lernen und könnte zu dem Schluss kommen: „Also ich find's sauschwer.“ Beide könnten aber beteuern und dabei nicht lügen, dass ihre jeweilige Sicht stimmt. Was ist denn jetzt die Tatsache? Oder gibt es zwei, sich widersprechende Tatsachen?
Um d) zu verifizieren, muss man ins Lexikon schauen. Oder Physiker werden und selbst nachmessen.
Aber eigentlich steht der Satz nur als Stellvertreter für alle Sätze, von denen wir aus guten Gründen annehmen, dass sie wahr und richtig sind und nicht daran zweifeln, weil wir es so gelernt haben. „Wird schon stimmen“, meint man. „Es wäre aufgefallen, wenn der Wert falsch gewesen wäre“, ist die allgemeine Ansicht. Man verlässt sich zum einen auf die Fachleute und ihre Sorgfältigkeit und Redlichkeit, zum anderen wäre es nicht möglich und überaus unökonomisch, das Rad in jedem Leben neu erfinden zu müssen.
Wir knüpfen an, an Praktiken unserer Gesellschaft, mal tradiert, mal neuer, z.B., wenn wir lernen eine Schleife zu binden, Auto zu fahren und das richtige Verhalten in einem Restaurant oder im Umgang mit dem Internet einzuüben. Aber wir erben nicht nur diese Praktiken sodern auch Berechtigungen, nämlich zu behaupten, die Lichtgeschwindigkeit sei so und so, obwohl wir es nie überprüft haben und auch nie die Absicht haben, es zu tun.
Ob es Higgs-Bosonen, den Welle-Teilchen-Dualismus, Tiefseefische oder Pluto wirklich gibt, weiß ja im Grunde kein Mensch und dennoch reden wir darüber in der Art, wie wir darüber reden, dass Merkel Kanzlerin ist oder der Supermarkt geöffnet hat.
Doch wir erben nicht nur die Berechtigung einzelne Fakten zu behaupten, sodern auch komplexe Theorien, die wir ebenfalls selbst kaum je überprüft haben.
(Redlicherweise allerdings nur dann, wenn wir verstanden haben, wovon wir reden. Das trennt Blender und Kenner oder zumindest redlich Bemühte.)
Um h) und i) zu verifizieren, kann man lapidar gesagt nur abwarten und Tee trinken. Regnet es morgen, entspricht die Behauptung den Tatsachen, regnet es nicht, war sie falsch. Dasselbe mit der Wahlbeteiligung. Aber das machen wir nicht. Wir nehmen unsere Prognosen in einer ganz anderen Art und Weise ernst, etwa, wenn wir vom Klimawandel reden. Kein Mensch sagt: „Ja, schaun mer mal, was das Jahr 2100 so bietet, dann wissen die Nachkommen, ob die Aussagen über den Klimawandel den Tasachen entsprechen, oder nicht.“ Vielmehr ist man der Ansicht man müsse heute, oder am besten gestern, was tun, denn, wenn alles so weitergeht wie bisher, führt das in eine Katastrophe.
Eigentlich wissen wir ziemlich wenig über den Klimawandel und die diversen Modelle zeigen eine große Streubreite, dennoch wird mit viel Emotion diskutiert, dass die Behauptungen den Tatsachen entsprechen werden. Mir geht es hier nicht um eine inhlatliche Diskussion der Klimahypothesen, sondern darum, zu zeigen, wie wichtig uns zuweilen das ist, was kommen wird, oft wichtiger als das, was der Fall ist. Inwieweit diskutiert man hierbei über Tatsachen?
Um g) zu verifizieren, tja, ist das so einfach? Hier ist ja etwas schon der Fall oder eben nicht, aber ich kann keine Messsonde irgendwo reinstecken und habe kurze Zeit später die Antwort (wobei auch dazu viel zu sagen wäre). Hier geht es um Interpretation und mehr noch darum, welches mein bevorzugtes Modell der Interpretation ist.
Für manche ist eben alles Egoismus und Konkurrenz. Sarah Blaffer Hrdy, eine renommierte Biologin (
http://de.wikipedia.org/wiki/Sarah_Blaffer-Hrdy) schreibt die Geschichte der Evolution ganz ähnlich und doch ganz anders, nämlich aus der Perspektive der Weiblichkeit, der Mutter vor allem. Evolution, sagt sie sinngemäß, war immer schon eine Geschichte der Kooperation, der Sorge, des Miteinander, der Behütung, der Pflege, aber es könnte durchaus der Tatsache geschuldet sein, dass die Evolution eine von Männern erzählte Geschichte ist und Männer schauen eben ein wenig anders in die Welt. Wo sie hinschauen, erblicken sie Krieg, Kampf und Konkurrenz, Frauen würden etwas ganz anderes sehen.
So wird auch „Mutter Natur“, so das Buch von Blaffer-Hrdy, auf Algorithmen und Funktionsweisen eingekürzt, zur Nutzenoptimierung. So kann man auch die Natur ertragen, die ewig Unerträgliche, weil Unberechenbare.
Der Szientismus ist sehr technikfixiert, sehr machbarkeitsorientiert, zudem recht aggressiv in seinen Diskreditierungsversuchen und im Wesen sehr männlich. In ihrem letzten Buch, hat die große Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich die These aufgestellt, die Psychoanalyse sei dem Wesen nach sehr weiblich und böte Männern die Chance sich mit ihrer weiblichen Seite auseinanderzusetzen. Ganz ohne Quotenregelung ist die Zahl der Psychoanalytikerinnen von Rang groß, nahezu von der ersten Stunde an:
www.psychoanalytikerinnen.de/Man muss nicht die Flöhe husten hören um die leise, unausgesprochene Entwertung wahrzunehmen, dass Frauen sich eben dort wohl fühlen, wo es nicht so genau, klar und rational zugeht. Psyche, Kinder, Tiere (dort eher die Pflege, als die Forschung), Sozialarbeit, Gesundheitswesen das ist die Stärke der Frau. Auch bei Placebostudien, sprechen Frauen eher auf Placebos an. Sie sind irgendwie doch verführbarer, emotionaler und das ist irgendwie schlecht, weil unpräzise. Ob das nun die alter patriachale Leier ist oder hormonell präsiponiert, oder Rollen, in die sich beide gerne fügen, spielt keine größere Rolle, die Frage ist, warum die Perspektive der einen Hälfte stets die richtige sein soll? Nur aus Gewohnheit, weil diese Hälfte die Prinzipien aufgestellt hat, mit Hilfe derer sie meint darüber richten zu können, was gut und schlecht ist, ohne derart wertende Begriffe aussprechen zu müssen?
Um f) zu falsifizieren, muss man das Buch „Deutschland dritter Klasse“ lesen:
Friedrichs/Müller/Baumholt hat geschrieben:„Können Sie rückwärtslaufen?“, hatte uns der Rektor ziemlich am Anfang unseres Aufenthalts an der Fröbelschule gefragt. Und bevor wir Antworten konnten, sagte er: „Viele hier nicht.“ Christopf Graffweg sieht sich auf dem Schulhof um. Es ist große Pause. „Wer immerzu Videospiele spielt, lernt vielleicht, strategisch zu denken, aber er weiß irgendwann nicht mehr, was hinter ihm los ist. Wer nie auf einen Baum klettert oder auf der Straße spielt, lernt auch nicht, sich in alle Richtungen zu orientieren. Das versuchen wir hier nachzuloen. Ganz schön spät“, sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. […]
„Die meisten hier haben Probleme sich vier, fünf Minuten am Stück zu bewegen“ sagt Andreas Sportlehrer. Ihm fallen die motorischen Probleme seiner Schüler nicht nur im Schwimmbad auf. In der Turnhalle macht er mit ihnen statt Ballspielen erst mal Gleichgewichtsübungen. Viele habe Probleme, sich auch nur wenige Sekunden auf einem Bein zu halten. Und er übt mit ihnen links und rechts zu unterscheiden, balanciert, guckt, dass sie lernen, Arme und Beine zu koordinieren.[...]
Es ist nicht nur die Bewegung, die den Schülern fehlt. Zu Hause in den Familien liest zum Beispiel selten jemand vor oder geht mit den Kindern nach draußen, spielt oder macht Musik mit ihnen. Auch stellen die Lehrer fest, dass bei ihren Schülern zu Hause wenig geredet wird, schon gar nicht über Gefühle.
(Julia Friedrichs, Eva Müller, Boris Baumholt, Deutschland dritter Klasse, 2009, Hoffmann und Campe, S.127f)
Es ist die Frage, ob man wirklich warten soll, bis die ironische Selbst-Dekonstruktion des Szientismus so weit fortgeschritten ist, dass alle Welt die dann wissenschaftlich abgesicherte Tatsache als geerbte Berechtigung verinnerlicht hat, die besagt, dass es ganz nützlich ist, geradezu ein evolutionärer Vorteil, sich als Ich zu empfinden, wissend, dass das natürlich eine Illusion ist und diese Illusion dennoch zwecks Selbstoptimierung zu unterstützen, in der Weise, dass man so tut, als sei man nicht nur ein Rechner mit Ohren, sondern haben auch noch einen Emotionsprozessor und einen Körper. Möglicherweise wird man sogar herausfinden ob und wie diese Funktionseinheiten zusammenspielen und weitere Optimierungsstrategien errechnen.