AgentProvocateur hat geschrieben:@Vollbreit
Du magst nun irgendwie den Begriff "das Ich" und ich habe keine Verwendung dafür. (Und glaube immer noch, dass dieser Begriff in der Alltagssprache nicht auftaucht).
Ich bin mir nun allerdings noch nicht sicher, ob da nur unterschiedliche Sprachgefühle aufeinandertreffen, sondern auch unterschiedliche Konzepte.
Könnte sein, dass es unterschiedliche Konzepte sind, die sich irgendwo in der Mitte treffen, es wäre nicht das erste mal, dass das passiert, mal sehen.
AgentProvocateur hat geschrieben:Hm, die buddhistische Forderung, man solle sich von seinem Ich lösen, habe ich bisher ganz anders verstanden. Das hat mE wenig bis nichts nichts mit der Annahme eines agierenden Zentrums zu tun, sondern, sich von seinen Trieben, Begierden, Bewertungen, Interessen zu lösen, alle eigenen Bedürfnisse von sich zu werfen und so dann irgendwie eins mit dem Universum zu werden. Oder so.
Eine der Erklärungsstrategien zum Erreichen dieser Egolosigkeit (die es m.E. so nicht geben kann, was ice oben mit Watzlawick beschrieb, trifft es gut), ist, dass das Ich nur ein Bündel Bedürfnisse ist und man sich das klar machen solle, aber der buddhistischen Gelehrte Nagarjuna erkannte, dass da eben immer etwas bleibt, ein Adressat – da auch ein ichloser Mensch im buddhistischen Sinne einen Termin einhalten kann, muss ein Rest-Ich bleiben, was m.E. verschwindet, ist die Egozentrik.
AgentProvocateur hat geschrieben:Die Annahme, es gäbe irgendwie ein Steuerzentrum in Personen, halte ich für falsch.
Es führt in einen Regress, wenn man den Ort der Entscheidnung einem Männchen im Kopf zuschreibt und dann nach dessen Entscheidungszentrum fragt und so weiter.
Aber wenn Du ein Glas aus dem Schrank nimmst, weil Du etwas trinken willst, geht es ja nicht immer nur um Durst, sondern vielleicht auch um Deine Vostellung von Stil oder dergleichen.
AgentProvocateur hat geschrieben:Außerdem glaube ich auch nicht, dass das eine landläufige Auffassung ist, siehe oben meinen verlinkten Text dazu, wie sich Leute selber sehen. Das ist - je nach Kontext/Situation (bzw.: im Text "zoom in" und "zoom out" genannt) - sehr unterschiedlich, wie sie das von sich tun. Man stellt sich zwar vielleicht ein "virtuelles" Zentrum vor, aber kein reales, (ich jedenfalls nicht). Ich halte das Bild eines zentralen "Ich", ein Steuerzentrum, das Entscheidungen, Gedanken und Handlungen steuere, für falsch. Für eine Reifikation.
Ich sehe ein Ich als so eine Art Fähigkeit zur Konzentration oder Verdichtung oder Bündelung der Kräfte an.
Es gibt glaube ich zwei verschiedene Arten wie man ohne Ich leben kann. Einmal irgendwo auf der Tierstufe beginnend, anhand eines vererbten, mal starreren, mal flexibleren Repertoires an Verhaltensmustern aber sehr weitgehend ohne Ich im Sinne des Bewusstseins von sich selbst. Wenn wir eingebunden sind in bestimmten soziale Muster und Automatismen ist das eine ähnliche Situation, auch wenn unsere Denkdrüse unablässig feuert und schwer zu beruhigen ist.
Die andere Situation ist das Gefühl, dass irgendwie alles stimmt. Ein Gefühl der Seligkeit, das zu oft beschrieben wurde um nicht exisiteren zu können und das man auch den Terminus „Einheitserfahrung“ oder so etwas runterbrechen kann. Gleich, ob man dabei das Gefühl hat, es sei alles Ich oder es gäbe kein (von der Welt getrenntes) Ich oder es sei irgendwie alles ein großer wunderbar geordneter Prozess, die gefühlte und vermutlich auch antrainierte Trennung von Ich und Welt fällt dabei zusammen – aber man kann noch denken. Das Ichspiel könnte weiter gespielt werden, es erscheint nur intuitiv als vollkommen absurd und unangemessen. Ich würde letzteres mystisches Erleben nennen, man kann es aber auch Magnetnadelerleben nennen.
Wie Leute sich selber sehen ist sicher kontextabhängig, keine Frage, aber was ich immer wieder beeindruckend fand, ist der Unterschied, der mache ganz in diesem Kontext gefühlter Erwartungen aufgehen lässt und manche eben nicht. Kohlberg beschreibt das Experiment, in dem Studenten unter der Angabe nichtssagender Gründe wie „Machen sie bitte weiter“ oder „Das Experiment erfordert es“ andere Menschen mit schmerzhaften bis potentiell tödlichen Stromstößen traktiert hätten, aber eben nicht alle.
Es waren tendenziell die Intelligenter, die den Versuch abbrachen, aber Intelligenz allein ist nicht ausreichend, denn auch Psychopathen können hochintellignet sein.
Lawrence Kohlberg hat geschrieben:„Zu den Fähigkeiten des Ichs, die in konsistenter Weise mit der experimentell gemessenen, bzw. geschätzten Ehrlichkeit von Kindern korrelieren, gehören die folgenden: Intelligenz (IQ); Bereitschaft, Belohnungen aufzuschieben (die größere Belohnung in der Zukunft wird der kleineren in der Gegenwart vorgezogen) und Aufmerksamkeit (Stabilität und Ausdauer der Aufmerksamkeit bei einfachen experimentellen Aufgaben).“
(L.Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp,1995, S.14)
So kommt Kohlberg später zu dem Schluss:
Lawrence Kohlberg hat geschrieben:„Intelligenz kann als eine notwendige aber noch nicht hinreichende Ursache des moralischen Fortschritts angesehen werden. Alle moralisch fortgeschrittenen Kinder sind gescheit, aber nicht alle gescheiten Kinder sind moralisch fortgeschritten“
(Kohlberg, a.a.O., S.33)
Das sind eher Qualitäten der Ich-Stärke, die man heute Impulskontrolle und Empathiefähigkeit nennen würde.
Menschen mit dieser Ich-Stärke sind in der Lage gemäß ihrer Überzeugungen auch in Stresssituation zu handeln und passen sich nicht stromlinienförmig der Umgebung und ihren (vermeintlichen) Forderungen an.
Damit will ich sagen, dass Ich-Stärke nicht einfach so ein Gefühl ist, sondern im philosophischen Sinne bedeutet, zu den eigenen Prämissen zu stehen, nicht nur theoretisch in Sonntagsreden, sondern praktisch und verbindlich – die praktische Philosophie der Moral und Ethik muss eben auch dort, im Praktischen, gelebt werden.
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:[...] dass man mit jedem „Ich will x“eben doch auf ein Zentrum rekurriert und sich auch meint, [...]
Ja, man meint sich, aber nicht was Zusätzliches.
Es gibt ein einfaches Experiment. Man fragt Menschen, was sie jeweils als ihr Ich oder sich selbst betrachten. Wo beginnt das, wo endet das. Ist im Kopf mehr Ich als in der Kniescheibe. Sin meien Freunde, meine Überzeugungen nun Ich /ghören sie zu mir, oder nicht? Und so weiter.
Viele hatten tatsächlich die Vorstellung, sie seien irgendwie im Kopf (ihr Gehirn oder so was) und der Körper sei eine Art unten dran montierter Maschine, die mit einem selbst nicht so ganz viel zu tun hat. Unter (Gestalt)Psychologen ist die Frage wie nah oder fern einem der eiegen Körper ist. Auch immer interessant, da geht es dann auch darum den ganzen Körper bewusst in Besitz zu nehmen.
Die andere Frage ist, ob in meine rechten Arm mehr Ich/von mir steckt, als in meiner Auffassung über Menschenrechte oder meinem Musikgeschmack. Das ist ja ohnehin beides kaum noch zu verorten.
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Auch Brandom hält das für äußerst relevant:
Robert Brandom hat geschrieben:„Diese Neigung von der Gemeinschaft so zu reden, dass sie irgendwie Einstellungen hat und Performanzen hervorbringt, wie sie eher mit Einzelnen assoziiert werden, ist weder Ausdruck von Nachlässigkeit noch harmlos. [...]
Brandom hat hier mE völlig recht, es ist ein Fehler, einer Gemeinschaft Einstellungen zu unterstellen, falls das bedeuten soll, das sei etwas Zusätzliches, was über die Einstellungen der Mitglieder hinausgeht. Aber was hat das mit dem "Ich" zu tun? So wenig, wie ein "Wir" Einstellungen haben kann, kann ein "Ich" Einstellungen haben. Du hast Einstellungen, ich habe Einstellungen, manche sind gleich, andere sind unterschiedlich.
Eben. Du hast Einstellungen und ich und darüber können wir streiten. Je genauer wir fragen, desto näher kommen wir unserem (aktuellen) Kern, aber wie diskutietiert eine spanischen Einstellung mit einer belgischen? Ist „der Spanier“ jetzt für Stierkampf oder nicht? Wenn ich Deine Einstellung zum Stierkampf wissen möchte, würde ich Dich fragen, aber „den“ Spanier, Hirnfoscher oder Demokraten kann man nicht fragen, da werden die Unklarheiten immer größer, statt kleiner und was bedeutet es nun wenn 78% aller Spanier oder Hirnforscher von x überzeugt sind?
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Da mir das gerade noch mal in den Sinn kommt, Kernberg hat mal als humorisitische Anekdote von einer Frau mit einer multiplen Persönlichkeit erzählt, die über 20 verschiedene Perssönlichkeiten oder Iche beherbegte.
An der Stelle tillt mein Sprachgefühl wieder mal. Damit, zu sagen, die Frau habe 20 verschiedenene Persönlichkeiten, habe ich kein Problem, aber damit, zu sagen, die Frau habe 20 verschiedene Iche, habe ich ein großes Problem.
Der Begriff "Persönlichkeit" scheint mir hier viel besser und passender als der Begriff "Ich".
Die Frau würde es aber so erleben. Du würdest sagen, das seien Facetten Deiner Persönlichkeit, Persönlichkeitsanteile, wie sie jeder hat und damit würdest Du genau jenes solide Ich präsentieren, dass um sie Einheit seines Soseins weiß, so dass Dir alles andere sogar absurd vorkommt. Die Frau mit der multiplen Persönlichkeitsstörung erlebt sich aber nicht als Frau mikt multipler Persönlichkeitsstörung, sondern als Karin (mit eigener Geschichte), Eva, Lena, Sakia …. (alle mit eigenern Geschichte, als abgeschlossene Persönlichkeit).
Ansonsten ist es so, dass der Begriff der Person in der Psychologie manchmal die Bedeutung von weniger als das Ich hat, für Jung ergibt erst die Persona (das eigene Selbstbild) + der Schatten (das mir unbewusste) das Ich. Persönlichkeit hört man aber auch oft, kann man sagen, aber die Frage: „Was macht deine Persönlichkeit aus?“, ist ja nicht unbelasteter als „Was macht dein Ich aus?“ und man würde auch immer fragen: „Was macht sie aus? Was unterscheidet sie von anderen?“
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:AgentProvocateur hat geschrieben:Ich würde sagen: "meine Geschichte". (Oder: "die Geschichte von Willi.")
Hier meinte ich aber wirklich die Geschichte des Dings, was jemand hat und haben muss, wenn er „Ich will“ sagen kann [...]
So ein Ding gibt es meiner Ansicht nach nicht. Daher würde ich hier nach den Fähigkeiten und der Geschichte von Jemandem fragen, nicht nach den Fähigkeiten und der Geschichte seines Ichs.
Das ist irgendwie wie die Fragneranch dem Sitz von Demokratie. Sieht man Demkratie nur als Ablauf funktionaler Prozesse, es gbt Menschen die Kreuze auf Zettel machen, es gibt Menschen die regelmäßig über etwas reden, es gibt Menschen, die vor Gericht kommen und so wieter, dann kann man sich zu Tode beschreiben, verfehlt aber den m.E. entscheidenden Punkt, dass zur Demokratie Demokraten gehören und ich würde sogar noch verschärft formulieren: Menschen mit einem demokratischen Bewusstsein. Das ist keine Petitesse, sondern m.E. entscheidend, denn Versuche der Zwangsdemokratisierung scheitern nicht am Mangel an Wahlurnen, Polizisten, Schulen oder Brunnen, sondern an Menschen, die ein Bewusstsein (das wachsen muss) für Demokratie haben, was mehr als ein Lippenbekenntnis ist.
Dieses demokratischen Bewusstsein hat sicher auch kein Zentrum, im Hirn, in dem man das Grundgesetz findet (das ohnehin kaum jemand gelesen haben dürfte), sondern es ist eher ein Absorbieren der impliziten Regeln des demokratischen Spiels, das man täglich erlebt. Mitsamt der Grenzfälle: Folterdrohungen, Drohnentötungen, Flugzeuge als Waffen abzuschießen und so weiter und wie man sich zu ihnen positioniert. Sehr sehr viel Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders sind implizit vermittelt, aber das heißt nicht, dass sie irgendwie beliebig wären.
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Ein reifes Ich, was Psychologen so als Ziel im Blick haben (und im Grunde auch so nennen), wäre eines, dem ein völliges Abrutschen in Rollen so nicht (mehr) passiert.
Hier würde ich wieder "Persönlichkeit" statt "Ich" sagen.
Da hätte ich kein Problem mit.
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Klar könnte man sagen, Willi sei etwas opportunistisch oder habe Schwierigkeiten zu seinen Überzeugungen zu stehen, aber m.E. sind das alles Einzelphänomene, die zwar stimmen, aber so fragmentatisch daherkommen und in der Gefahr stehen, die Botschaft dahinter, dass Willi nämlich kein reifes Ich hat, aus dem Blick zu verliefen.
Hier auch.
Ja, nur ist wieder in einer anderen Schule Persönlichkeit etwas umfassender als das Ich gemeint, aber die Terminologie der Pyschologie ist uneinheitlich bis zum Chaos, aus verschiedensten Gründen.
AgentProvocateur hat geschrieben:Natürlich. Man will in diesem Zusammenhang wissen, wie der Chef drauf ist, was er für Macken und Vorlieben und Ansichten hat, wie er sich in bestimmten Situationen verhält. Damit man sein zukünftiges Verhalten besser einschätzen kann. Aber niemand würde diese Frage doch so formulieren: "wie ist das Ich des Chefs so?"
Klar.
Ich habe glaube ich auch keine besondere Vorliebe für den Begriff, es scheint mir reine Gewohnheit zu sein.
Ich gebrauche es für die Instanz, die im Menschen Einstellungen hat und habe mcih nie ausgeprägt gefragt, wo die nun verortet ist. Das ist ist „nur“ ein Konzept, allerdings schon in dem Sinne, dass jemand, der diesem Konzept nicht genügt natürlich ganz praktische Probleme hat. Ich habe auch rechte genau Vorstellungen von einem Über-Ich, aber die sind nicht physikalischer Art so nach Größe, Ort, Gewicht und Farbe, sondern es reicht empirisch herzeigen zu können, was man meint, wenn man Über-Ich sagt.
Und wieder sehe ich genau deshlab das Über-Ich nicht nur als leeres Wort, sondern als Begriff in einem Spiel sprachpragmatischer Festlegungen, das Emprisiches beinhaltet.
Ich bin den sematischen Idealisten – falls es denn welche sind, ich glaube nicht – um Brandom hier näher, die die Geschichte (auch die empirische) vom Intersubjektiven aus schreiben, als den Empirisiten, deren Ansatz ist von der Wurzel aus, für verfehlt halte.
AgentProvocateur hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Mehr ist doch bei der Rede von Ich auch nicht gefordert, als die Fähigkeit situationsadäquat zu sprechen.
Tut mir leid, aber ich kann mit dem Begriff "das Ich" immer noch nichts anfangen. Im alltäglichen Gebrauch gibt es mE dafür bessere und verständlichere Synonyme, z.B. "Persönlichkeit" oder "Bewusstsein", (je nach Kontext). Selbst wenn es hier nur um unterschiedliche Sprachgebräuche ginge und nicht auch um unterschiedliche Konzepte, dann habe ich mE immer noch ein gutes Argument dafür, auf diesen Begriff zu verzichten: der ist kein Bestandteil der Umgangssprache, daher ist erst mal unverständlich, was damit gemeint ist, wenn er in der Umgangssprache verwendet wird. Bin mir aber nun, wie gesagt, nicht sicher, ob da nicht auch unterschiedliche Konzepte dahinterstecken, siehe oben.
Ich weiß nicht inwieweit Du eher aus dem Lager der Empristen kommst, mein Grundkonzept ist vom Intersubjektiven auszugehen und das Spiel erster Wahrheiten und Gewissheiten bereits als intersubjektives zu betrachten. Das Ichbewusstsein (meine Existenz) ist dabei m.E. logisch unhintergehbar und bildet den Ausgangspunkt jeder Art von Forschung, aber das Ich/die Persönlichkeit muss m.E. im Laufe der Forschung erkennen, dass es ein entstandenes Ding ist (vielleicht mag das logisch nicht wasserdicht sein, ich glaube jedoch, dass der Solipsismus auch logisch unhaltbar ist), soweit wir das erkennen können.
Durch die Begenung mit dem anderen (sei es Welt oder Du, dem Außen) begegnet mit mein Ich/meine Persönlichkeit immer konturenreicher und so entsteht das Ich und Welt Spiel erst aus dem Intersubjektiven. So grob da würde ich Startlinie für das forschende Ich/Bewusstsein ziehen.