Vollbreit hat geschrieben:Diesen Betrachtungen fehlt zu oft (m.E. aus den gleichen Gründen, warum man klare Kriterien verweigert) der vertikale Aspekt, die Entwicklungshöhe. Man möchte nicht wertend oder gar „faschistoid“ daherkommen, weshalb man die Einteilung in besser und schlechter, gelungen und misslungen, wünschenswert und unerwünscht, höher und nieder, entwickelt und unentwickelt unterlässt.
Das Problem ist hier doch eher, dass man jemanden davon überzeugen muss, warum etwas besser ist, und dann wird es meist kniffelig, wenn man sich nicht in Widersprüche und lückenhafte Argumentationen verwickeln lassen oder Zwang und Manipulation anwenden will. Zappa hat die "Kraft des guten Arguments" angesprochen, damit vollzieht er im Prinzip die zentrale Linie von Habermas nach. Ich finde die voll unterstützenswert, aber was dabei immer das Haar in der Suppe ist, ist, dass man stillschweigend voraussetzen muss, dass beide Parteien sich an den Tisch setzen (wollen und können) und miteinander reden. Wenn man an dem Punkt ist, dass alle bereit sind, miteinander zu reden und gemeinsame Regeln und Ziele zu vereinbaren (die über die grundlegendsten Abwehrrechte gegen Eingriffe in das selbstgestaltete Leben hinausgehen), dann hat man im Prinzip doch schon 80% des Weges geschafft. Aber wie kommt man da hin?
Das ganze ist ja doch recht dilemmatisch: Der Kulturrelativismus ist eine widersprüchliche Position, die Standardwiderlegung ist: Man wende die kulturrelativistische Forderung, dass alle Partikularismen gleichrangig sind, auf ihn selber an; damit nimmt man ihm den universalen Anspruch und macht ihn selber zu einem Partikularismus, der anderen Partikularismen keine Vorschriften mehr über gegenseitige Toleranz machen kann und alle sind zurück auf Los. Das ist übrigens ein Argument, das ich, mal wieder, von Laclau geborgt habe, also einem Vordenker des Poststrukturalismus (muss gesagt werden, damit keiner denkt, die Postmodernen würden ihre eigenen Probleme nicht kennen).
Das Problem ist aber, und das ist eben die Kernerkenntnis des Poststrukturalismus, dass es positiv definierte universale Inhalte nicht mehr geben kann, weil jeder jederzeit deren Axiome auf der Basis der epistemologischen Unentscheidbarkeit (Laclau: "radical undecidability") verwerfen kann. Poppers Fallibilismus ist im Prinzip das Pendant zu diesem Problem im Bereich der Wissenschaft. Der erreichbare Mindestkonsens, und da ist es recht ironisch, dass ausgerechnet Leute, die aus der marxistischen Tradition stammen, das sagen, ist das alte liberale Bonmot, sich von einem ideologischen, für alle verbindlichen Überbau der Gesellschaft loszusagen, und es bei der symmetrischen gegenseitigen Achtung der Freiheitsrechte des jeweils Anderen zu belassen:
Ernesto Laclau (In: Emancipation(s), S.103f.) hat geschrieben:The universal values of the Enlightment, for instance, do not need to be abandoned, but need, instead, to be presented as pragmatic social constructions and not as expressions of a necessary requirement of reason. Finally, the previous reflections show, I think, the direction into which the construction of a postmodern society should move: to indicate the positive communitarian values that follow from the limitations of historical agents, from the contingency of social relations, and from those political arrangements through which society organizes the management of its own impossibility.
Ich stimme diesem Satz umfassend zu, weil er meines Erachtens die Quintessenz unserer epistemologischen und normativen Probleme in eine sowohl intellektuell als auch praktisch einigermaßen befriedigende Richtung überführt. Und er verschleiert vor allem nicht, dass die gesellschaftlichen Arrangements prekär und temporär bleiben werden und keine ideologisch stabile Zukunft im Sinne eines Zeitalters der Vernunft o.ä. anbrechen wird. Allerdings wird damit natürlich auch impliziert, dass das Zusammenleben dauerhaft ein ziemliches Durchwursteln sein und bleiben wird, weil eben niemand mehr eine dogmatisch gesicherte Autorität beanspruchen kann, Deutungen für die Anderen vorzunehmen. Das macht die Konstruktion gemeinsamer positiver Inhalte
zu denen man sich bekennt, äußerst schwierig, weil die Bereitschaft zur Kooperation immer schon eine notwendige Bedingung ist, die nicht innerhalb dieses Rahmens geschaffen werden kann.
Das Problem, das du aber zu Recht ansprichst, ist, dass solche Schlussfolgerungen die meisten Leute überfordern. Die Frage ist, was tut man dann? Wie weit darf man einseitig darin gehen, andere Menschen gezielt zu verändern, insbesondere solche, wo nicht qua Elternschaft ein nachvollziehbarer Erziehungsauftrag besteht? Man wandelt man halt immer ganz hart an der Grenze zur Bevormundung, Infantilisierung usw.
Wie würdest du damit umgehen?
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Lumen hat geschrieben:(ein normaler lächeln-smiley wäre mal schick)
Ok.
Lumen hat geschrieben:Warum sollte Dawkins, oder ich, erläutern, wie wir uns das Zusammenleben vorstellen? Würde das nicht voraussetzen, wir hätten eine utopische oder jedenfalls andere Vorstellung als sie gegenwärtig ist? Und würde auch eine der Vollständigkeit halber mitgelieferte Erklärung nicht den Eindruck erwecken, dass wir eine andere Form forderten, obwohl ich das nicht erkennen kann?
Ich tue mich etwas schwer, die Forderungen gegenüber weiten Teilen der Gesellschaft, die die Neuen Atheisten erheben, nicht als reformatorisch zu sehen. Wenn alles so bleiben kann, wie es ist, wozu streiten wir dann überhaupt? Dann könntest du ja auch nach Hause gehen und die Gläubigen ihren Gott anbeten lassen. Aber das tust du ja auch nicht, Veränderung willst du doch schon herbeiführen, oder nicht?
Lumen hat geschrieben:Religiöse haben ihre Behauptungen noch nicht belegt und Atheisten gehen dann richtigerweise davon aus, dass sie unbelegbar sind (und es bleiben werden), folglich ergeben sich Konsequenzen aus dieser Einsicht.
Ok? Welche denn?
Lumen hat geschrieben:In dem Zusammenhang versuchen Atheisten daher, den Religiösen beizubringen, was "Beweislast" ist. Die trägt der, der die Behauptungen aufstellt.
Nein. Eine Beweislast muss nur erbracht werden, wenn der Behauptende die Übernahme seiner Sichtweise von Anderen verlangt. Wenn innerhalb einer Community Konsens über bestimmte Annahmen herrscht, keine Diskussion mit Außenstehenden gesucht wird und keine Rechtsverletzungen vorliegen, dann besteht auch keine Beweislast, da durch das Fehlen des Beweises keine Geschädigten entstehen. Nur die Gläubigen selbst könnten berechtigterweise Beweise einfordern, schließlich sind sie diejenigen, deren Leben davon beeinflusst werden. Ebenso kann ein Außenstehender Beweise einfordern, wenn er betroffen ist, etwa im Rahmen von Missionsbestrebungen oder weil bestimmte Annahmen (z.B. dass Impfen nicht gottgefällig ist) die Allgemeinheit gefährden. Allerdings geht es dann in erster Linie um spezifische Probleme, nicht um allgemeine Weltbilder.
Lumen hat geschrieben:Solange das eine konsequenzlose Privatmeinung ist, habe ich damit nie ein Problem gehabt. Sobald es aber eine Art gesellschaftliche Joker-Karte ist, müssen eben die Spielregeln dahingegen verständlich gemacht werden, dass es keine solchen Joker-Karten mehr gibt. Natürlich kann jemand eine Meinung haben, auch eine sehr starke und persönliche Sichtweise, die sich nicht an Fakten orientiert. Ich habe nichts dagegen! Es geht nur nicht, dass jemand seine starke persönliche Sichtweise, die sich durch nichts belegen lässt, dahinstellt, als sei sie belegbar und bestens nachvollziehbar. Das ist der springende Punkt.
Meines Erachtens ist das das erste Mal, dass du diese Trennung so deutlich vollziehst. Und wie ich schon im Punkt zuvor geschrieben habe: Kritik sollte immer konkrete Bezugspunkte haben, sonst verkommt sie zum allgemeinen Motzen über die Gesamtsituation. Nicht, dass man die nicht kommentieren dürfte, aber es ist doch deutlich effektiver und berechtigter, da Einspruch zu erheben, wo die "Joker-Karte" konkret gezogen wird und nicht, wo irgendeine abstrakte Möglichkeit besteht, dass jemand das tut.
Lumen hat geschrieben:Religiöse wehren sich gegen diese Einsicht, denn es ist ja wunderbar bequem eine durch nichts belegte Behauptungen auf die Religion zu schieben. Und Akkommodationisten wie du und Nanna sehen zwar das es keine Belege gibt (wenigstens Nanna sieht das), aber ihr wollt die Konsequenzen daraus nicht ziehen und weiter "so tun als ob".
Ich frage nochmal: Welche Konsequenzen? Warum sollte
ich Konsequenzen daraus ziehen, dass mein Nachbar an pinke Einhörner glaubt und denkt, seine Krebsheilung sei von einem Einhorn herbeigeführt worden? Welchen Grund habe ich dafür, überhaupt meine Nase in diese Frage zu stecken oder gar meinem Nachbarn eine Auseinandersetzung mit meinen Argumenten aufzunötigen?
Die "Faktenlage" und meine Argumente, die ich auf meinen persönlichen Annahmen aufbaue, sind für diese Frage völlig irrelevant, deshalb brauchst du darauf auch nicht dauernd herumreiten. Aus Fakten allein folgt nichts ohne ein moraltheoretisches, normatives framework und das einzige, breit akzeptierte ist hierzulande das menschenrechtliche inklusive der Religionsfreiheit.
Meine Ansichten können daher noch so fundiert sein zu dem Thema, ich könnte studierter Onkologe, Literaturwissenschaftler mit Spezialisierung in Märchen, Philosoph, Theologe und Physiker in einer Person sein, es würde nichts daran ändern, dass ich kein Recht habe, jemand anderem in das Steuer seines Lebens zu greifen und für ihn zu entscheiden, was zu denken und zu glauben gut für ihn ist. Das muss er schon selber tun. Und wenn er an Einhörner glauben will, dann reicht dieser Tatbestand alleine nicht dafür aus, sich ihm
deshalb in irgendeiner Form zu nähern. Es muss schon eine konkrete Gefährdung, Schädigung o.ä. von ihm ausgehen, damit meine Einspruchs- und Widerstandsrechte aktiviert werden.
Lumen hat geschrieben:Die einen wollen garnicht erst einsehen, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist, die anderen (ihr) wisst das zwar, wollt aber nicht, dass man daraus -- wie auch immer geartete (!) -- Konsequenzen zieht. Ihr seid die, die aus unerfindlichen Gründen sabotieren, dass die Gesundheitsgefahr offziell festgestellt wird und rationalisiert das dann damit, dass Nicht-Raucher nicht nur das Rauchen verbieten wollen, sondern eventuell gleich noch die Raucher auslöschen wollen. Haargenau das ist die Rhetorik hier.
Wer ist "man"?
Ich ziehe die Konsequenzen daraus, nicht zu rauchen. Ich befürworte auch umfassenden Nichtraucherschutz, weil Passivrauchen eine konkret belegbare Gefährdung darstellt und nachweislich das Leben verkürzt. Ich bitte auch ggf. Freunde, in meiner Anwesenheit nicht zu rauchen, weil ich da extrem schnell eine gereizte Lunge bekomme (= eine konkrete Schädigung erleide). Und selbstverständlich befürworte ich die offizielle Darstellung der Gesundheitsgefahr, die in zahlreichen Studien empirisch nachgewiesen wurde. Ich befürworte auch öffentlich geförderte Austiegshilfen, beim Rauchen genauso wie bei Sekten.
Was ich
nicht befürworte ist das Anpöbeln der Raucher dafür, dass sie rauchen. Der Raucher, der behauptet, Rauchen sei ungefährlich, steht auch nicht in irgendeiner Beweislast, solange er nicht meinen Kindern einredet, dass sie es mal versuchen sollen. Wer auf Andere Rücksicht nimmt, kann qualmen, bis der Arzt kommt, eigene Entscheidung, eigenes Risiko.
Lumen hat geschrieben:Schließlich ist es bisher unklar geblieben, warum wir zwei Maßstäbe anlegen sollen: einmal wenn es um Rauchen und so weiter geht, aber ein anderer Maßstab gelten soll, wenn es um den Ursprung des Universums, der Moral oder der Menschheit und so fort geht (ein weiterer Zusammenhang ist natürlich, dass die Taktik Tabakindustrie über religiöse Institute und Think-Tanks auch für die Religions-Apologetik verwendet wurde).
Falls du wirklich körperliche Schmerzen hast, weil jemand, der neben dir in einer Kneipe sitzt, eine andere Ansicht über die Entstehung des Universums vertritt oder sich in seinen Alltagsentscheidungen auf Gott verlässt, dann geh bitte in Therapie, denn das klingt ernst. Andernfalls tu mir einen Gefallen und lass die absurden Vergleiche stecken.
Lumen hat geschrieben:Soweit ich das Online beurteilen kann, scheuen Religiöse die Beweislast wie der Teufel das Weihwasser und sind sehr stark motiviert, sie fortwährend abzuwälzen.
Dann verlass solche Diskussionen doch einfach, wenn sie dich nerven. Geschieht dir doch nichts. Sollen Andere halt denken, was sie wollen, warum kannst du das so schwer ertragen?
Lumen hat geschrieben:Die Forderung ist die: Gott oder Religion ist keine Joker-Karte für irgendwas. Wir sind dann angekommen, wenn jemand statt Religion auch genausogut Harry Potter zitieren könnte. Kann jemand ja gerne machen, aber es muss eben klar sein, dass der Verweis auf Harry Potter allein noch keine Überzeugungskraft besitzt.
Wann hat dir denn von dir zuletzt irgendwer gefordert, du solltest etwas machen, weil es Gott so wolle? Im Ernst jetzt?