provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Das ist, und das wäre meines Erachtens eine recht wichtige Erkenntnis für dich, dein Plädoyer für freiwillge Verträge allerdings auch.
Ja. Es ist ein Plädoyer für eine friedliche Koexistenz. Im Gegensatz zu gewaltbasierten die wir haben. Wenn du Friedensgebote für dogmatisch hältst, dann sollten wir vielleicht gleich zum REcht des Stärkeren übergehen.
Der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich für Gewaltverzicht (zu verstehen als Verzicht auf initiierende Gewalt plädiere, du aber deine Meinung mit Gewalt durchsetzen willst.
Das ist, wenn überhaupt noch, im Mindesten eine grobe Verzerrung und Übertreibung meiner Position. Ich verstehe nicht ganz, warum du so schnell die ganz heftigen verbalen Keulen rausholen musst. Es muss doch hier niemand rhetorisch beeindruckt werden, den pathetischen Verbalklimbim habe ich selber notfalls mindestens genauso gut drauf und kann ihn vom Inhalt recht routiniert trennen. Rüste doch rhetorisch mal ein bisschen ab, ich nehme dich auch dann noch ernst, wenn du nicht in jeden Satz die Maximalempörung legst. Ich finde das ein bisschen unentspannt so.
Zur eigentlichen Sache:
Vollbreit hat auf einen Punkt hingewiesen, an dem ich nochmal einhaken will, weil er meines Erachtens ein Kardinalproblem in deiner Argumentation aufdeckt: Die Diskrepanz in deinem Menschenbild, das sich teilweise selbst widerspricht:
Einerseits führst du ja recht ausdauernd das Bild ins Feld, dass Menschen größtenteils moralisch recht verdorben und zynisch sind, nach außen lächeln und von Demokratie schwafeln, nur um sich dann mit beiden Händen die Taschen vollstopfen, wenn keiner so genau hinschaut. Da beschreibst du dann, dass im Prinzip alle außer dir und ein paar getreuen Libertären das Recht des Stärkeren praktizieren und Strukturen des Staates errichtet haben, um im Wesentlichen diesem Zweck nachgehen zu können.
Andererseits behauptest du im Vollautomatikmodus, dass eine andere Welt ohne Zwang, staatliche Strukturen, Gewaltandrohung etc. möglich wäre, wenn die Menschen nur endlich kapieren würden, dass das summa summarum der produktivere Weg wäre. Du schreibst da selbst "Verzicht auf initiierende Gewalt" und verzichten ist immer etwas aktives, bewusstes, was eine Entscheidung zum Verzicht impliziert: Man tut sowas aus Verantwortungsbewusstsein und rationaler Einsicht heraus.
Nun ist mir nicht ganz klar, wie das logisch zusammengehen soll. Die Menschen, die du dafür kritisierst, zynisch und gewalttätig zu sein, sollen gleichzeitig dafür geeignet sein, freiwillig eine gewaltfreie libertäre Utopie zu bewohnen? Ja, was denn nun? Sind die Menschen nun zynisch, rücksichtslos und selbstbereichernd? Oder sind sie geduldig, einsichtig, rational und stets kooperativ gelaunt?
Ich behaupte, dass du dir da selber eine Falle stellst, indem du die Messlatte extrem hoch anlegst. Gemessen an dem, was du bereits als Gewalt bezeichnest und was du deinen Mitmenschen an Einsicht, Toleranz und Kooperationsvermögen abverlangst, ist es in meinen Augen vorprogrammiert, dass du enttäuscht werden musst und dann schon wegen der extrem großen Fallhöhe, die du selber aufgebaut hast, diese Enttäuschung auch sehr massiv ausfällt. Meines Erachtens wäre da ein Annähernd deiner Ideale an die Niederungen der Realität und eine gelassene Akzeptanz dessen, was realiter machbar ist, angeraten, aber das bleibt dir überlassen.
In meiner Welt ist das alles etwas grauer und flacher, Druck, Sanktionen und offene Gewalt halte ich sorgfältig auseinander, bin mir im Klaren über mein Ausgeliefertsein der Welt gegenüber, aber traue mich auch, das Spiel des Sozialen und Politischen im gesunden Rahmen mitzuspielen. Befürworte ich Gewalt? Nein, sicher nicht. Bin ich notfalls bereit, mir die Hände schmutzig zu machen bzw. Andere dafür zu legitimieren, wenn dadurch wirklich Schlimmeres verhindert werden kann? Ja, teilweise schon. Wie ich schon sagte: C'est la vie. Man muss mit dem hantieren, was man hat, nicht mit dem, was man sich erträumt. Aber ich entscheide darüber sicherlich nicht willkürlich und sehe ganz klare moralische Gründe für bestimmte Institutionalisierungen, die du nicht zu sehen können scheinst und bin bereit, mich argumentativ zu rechtfertigen. Dass du das schnell zynisch entwertest oder polemisch konterst, ohne dich mal wirklich auf meine Argumentation einzulassen, tut mir leid, ist aber in letzter Konsequenz nicht meine Entscheidung und irgendwo auch nicht mein Schaden.
Zum Rest:
provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Altersversorgung und Krankenversicherung sind zwei Fragen, wo per definitionem die Schwachen von den Starken mitgetragen werden müssen, d.h. wo den Starken nur begrenzte opt-out-Möglichkeiten eingeräumt werden können.
Das ist kollektivistische Dogmatik.
Was auch immer dir als gut klingender Kampfbegriff dafür gefällt. Ich sehe es unter der Prämisse, dass man das Gebot der Menschenwürde ernst nimmt, einfach als klar folgend an, dass wir in unseren Gesellschaftsordnungen Routinen dafür vorsehen, Alten und Kranken im Rahmen unserer Möglichkeiten eine anständige Lebensqualität ermöglichen, und das können, da wiederhole ich mich, eben nur die Gesunden und Produktiven leisten. Da "gesund und produktiv" leider nicht automatisch mit "gut, edel und mildtätig" einhergeht und auch psychologisch die meisten Leuten leider zu kurzsichtig programmiert sind, als dass sie die Folgen ihrer Egonummern durchschauen, gibt es bestimmte verpflichtende Abgaben, die das Problem einigermaßen lösen. Wenn das das ist, was du unter kollektivistischer Dogmatik zu verstehen ist, bin ich gerne kollektivistischer Dogmatiker. Label mich, wie immer du willst.
provinzler hat geschrieben:Der Staat zwingt alle minderjährigen Personen in Unterrichtsvollzugsanstalten, wo es in erster Linie darum geht, sie vom Lernen abzuhalten, eigenständiges Denken durch konsequente Bestrafung abzutrainieren, und sie möglichst davon abzuhalten, mündige Bürger zu werden, weil es darum geht willige Staatshausschweine heranzuziehen.
Es tut mir ehrlich leid, dass deine Schulzeit solche Wunden geschlagen hat, dass dich dieses Thema jedes Mal, wenn es aufkommt, derart emotional aufwühlt. Aber es ist trotzdem deine Aufgabe, da mal die Verletzungen zum Heilen zu bringen, sonst wirst du bis zum Ende deines Lebens blindlings auf den Staat eindreschen und nicht zur Ruhe kommen. Und ich sage das nicht, um den Staat zu schützen (hat der nicht nötig), sondern weil du mit diesem Thema extrem programmier- und provozierbar bist und es dir ganz sicher nicht gut tut, eine derart offene Flanke zu haben. Man muss ja nur "Schulpflicht" rufen und schon bist du mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks am Routieren. Arbeite diesen Groll mal auf, der frisst dich sonst nur.
Das ist übrigens kein Gesprächsabbruch und auch kein Pathologisieren, sondern ein ernstgemeinter guter Rat. Lass mal die Wut los, und wenn du runtergekommen bist, können wir das Thema Schulpflicht auch gern nochmal in aller Ruhe durchgehen, nur, die emotionalisierte Nummer hatte ich schon ein, zweimal zu oft.
provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben: Anders gesagt: eine vernunftgemäße, im emphatischen Sinne autonome Entscheidung ("Sapere aude!") kann ein Mensch nur treffen, nachdem er Bildung genossen hat.
Richtig, aber um sich zu bilden, ist die in den Unterrichtsvollzugsanstalten verbrachte Zeit, ziemlich kontraproduktiv. Da lernt man letztlcih nur möglichst gut zu blöken.
Nur nochmal für's Protokoll: Es gibt Szenarien, in denen ich mir Homeschooling vorstellen könnte, aber das ändert am eigentlichen Argument nichts, dass der Staat notfalls über den Kopf der Eltern hinweg versuchen darf und muss, Kindern allgemeine Bildungsinhalte zu vermitteln.
provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Wie auch immer man es im Detail bewertet, ich kann nicht erkennen, wie man in diese Zahlen eine Explosion von Verordnungen hineininterpretieren könnte.
Du unterschlägst, dass diese neuen Gesetze im Normalfall ja zu den bestehenden noch hinzukommen, und eher selten alte dafür wegfallen.
Nein, ich unterschlage das nicht, ich hatte sogar absolute Zahlen angeführt. Die Gesamtzahl der bundesdeutschen Gesetze hat sich z.B. von 2003 zu 2009 um 273 auf 1924 reduziert. Der Umfang der Texte ist insgesamt wahrscheinlich trotzdem gestiegen, etwa durch Zusammenlegungen, aber zumindest zeigt das, dass auch der Bestand durchaus einer Pflege unterzogen wird und die Story vom unkontrollierten Endloswachstum der Gesetze nun auch nicht von so banaler Richtigkeit ist, wie du unterstellst.