Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Nanna » Do 20. Mär 2014, 02:04

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Das ist, und das wäre meines Erachtens eine recht wichtige Erkenntnis für dich, dein Plädoyer für freiwillge Verträge allerdings auch.

Ja. Es ist ein Plädoyer für eine friedliche Koexistenz. Im Gegensatz zu gewaltbasierten die wir haben. Wenn du Friedensgebote für dogmatisch hältst, dann sollten wir vielleicht gleich zum REcht des Stärkeren übergehen.
Der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich für Gewaltverzicht (zu verstehen als Verzicht auf initiierende Gewalt plädiere, du aber deine Meinung mit Gewalt durchsetzen willst.

Das ist, wenn überhaupt noch, im Mindesten eine grobe Verzerrung und Übertreibung meiner Position. Ich verstehe nicht ganz, warum du so schnell die ganz heftigen verbalen Keulen rausholen musst. Es muss doch hier niemand rhetorisch beeindruckt werden, den pathetischen Verbalklimbim habe ich selber notfalls mindestens genauso gut drauf und kann ihn vom Inhalt recht routiniert trennen. Rüste doch rhetorisch mal ein bisschen ab, ich nehme dich auch dann noch ernst, wenn du nicht in jeden Satz die Maximalempörung legst. Ich finde das ein bisschen unentspannt so.

Zur eigentlichen Sache:
Vollbreit hat auf einen Punkt hingewiesen, an dem ich nochmal einhaken will, weil er meines Erachtens ein Kardinalproblem in deiner Argumentation aufdeckt: Die Diskrepanz in deinem Menschenbild, das sich teilweise selbst widerspricht:
Einerseits führst du ja recht ausdauernd das Bild ins Feld, dass Menschen größtenteils moralisch recht verdorben und zynisch sind, nach außen lächeln und von Demokratie schwafeln, nur um sich dann mit beiden Händen die Taschen vollstopfen, wenn keiner so genau hinschaut. Da beschreibst du dann, dass im Prinzip alle außer dir und ein paar getreuen Libertären das Recht des Stärkeren praktizieren und Strukturen des Staates errichtet haben, um im Wesentlichen diesem Zweck nachgehen zu können.
Andererseits behauptest du im Vollautomatikmodus, dass eine andere Welt ohne Zwang, staatliche Strukturen, Gewaltandrohung etc. möglich wäre, wenn die Menschen nur endlich kapieren würden, dass das summa summarum der produktivere Weg wäre. Du schreibst da selbst "Verzicht auf initiierende Gewalt" und verzichten ist immer etwas aktives, bewusstes, was eine Entscheidung zum Verzicht impliziert: Man tut sowas aus Verantwortungsbewusstsein und rationaler Einsicht heraus.

Nun ist mir nicht ganz klar, wie das logisch zusammengehen soll. Die Menschen, die du dafür kritisierst, zynisch und gewalttätig zu sein, sollen gleichzeitig dafür geeignet sein, freiwillig eine gewaltfreie libertäre Utopie zu bewohnen? Ja, was denn nun? Sind die Menschen nun zynisch, rücksichtslos und selbstbereichernd? Oder sind sie geduldig, einsichtig, rational und stets kooperativ gelaunt?

Ich behaupte, dass du dir da selber eine Falle stellst, indem du die Messlatte extrem hoch anlegst. Gemessen an dem, was du bereits als Gewalt bezeichnest und was du deinen Mitmenschen an Einsicht, Toleranz und Kooperationsvermögen abverlangst, ist es in meinen Augen vorprogrammiert, dass du enttäuscht werden musst und dann schon wegen der extrem großen Fallhöhe, die du selber aufgebaut hast, diese Enttäuschung auch sehr massiv ausfällt. Meines Erachtens wäre da ein Annähernd deiner Ideale an die Niederungen der Realität und eine gelassene Akzeptanz dessen, was realiter machbar ist, angeraten, aber das bleibt dir überlassen.

In meiner Welt ist das alles etwas grauer und flacher, Druck, Sanktionen und offene Gewalt halte ich sorgfältig auseinander, bin mir im Klaren über mein Ausgeliefertsein der Welt gegenüber, aber traue mich auch, das Spiel des Sozialen und Politischen im gesunden Rahmen mitzuspielen. Befürworte ich Gewalt? Nein, sicher nicht. Bin ich notfalls bereit, mir die Hände schmutzig zu machen bzw. Andere dafür zu legitimieren, wenn dadurch wirklich Schlimmeres verhindert werden kann? Ja, teilweise schon. Wie ich schon sagte: C'est la vie. Man muss mit dem hantieren, was man hat, nicht mit dem, was man sich erträumt. Aber ich entscheide darüber sicherlich nicht willkürlich und sehe ganz klare moralische Gründe für bestimmte Institutionalisierungen, die du nicht zu sehen können scheinst und bin bereit, mich argumentativ zu rechtfertigen. Dass du das schnell zynisch entwertest oder polemisch konterst, ohne dich mal wirklich auf meine Argumentation einzulassen, tut mir leid, ist aber in letzter Konsequenz nicht meine Entscheidung und irgendwo auch nicht mein Schaden.

Zum Rest:
provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Altersversorgung und Krankenversicherung sind zwei Fragen, wo per definitionem die Schwachen von den Starken mitgetragen werden müssen, d.h. wo den Starken nur begrenzte opt-out-Möglichkeiten eingeräumt werden können.

Das ist kollektivistische Dogmatik.

Was auch immer dir als gut klingender Kampfbegriff dafür gefällt. Ich sehe es unter der Prämisse, dass man das Gebot der Menschenwürde ernst nimmt, einfach als klar folgend an, dass wir in unseren Gesellschaftsordnungen Routinen dafür vorsehen, Alten und Kranken im Rahmen unserer Möglichkeiten eine anständige Lebensqualität ermöglichen, und das können, da wiederhole ich mich, eben nur die Gesunden und Produktiven leisten. Da "gesund und produktiv" leider nicht automatisch mit "gut, edel und mildtätig" einhergeht und auch psychologisch die meisten Leuten leider zu kurzsichtig programmiert sind, als dass sie die Folgen ihrer Egonummern durchschauen, gibt es bestimmte verpflichtende Abgaben, die das Problem einigermaßen lösen. Wenn das das ist, was du unter kollektivistischer Dogmatik zu verstehen ist, bin ich gerne kollektivistischer Dogmatiker. Label mich, wie immer du willst.

provinzler hat geschrieben:Der Staat zwingt alle minderjährigen Personen in Unterrichtsvollzugsanstalten, wo es in erster Linie darum geht, sie vom Lernen abzuhalten, eigenständiges Denken durch konsequente Bestrafung abzutrainieren, und sie möglichst davon abzuhalten, mündige Bürger zu werden, weil es darum geht willige Staatshausschweine heranzuziehen.

Es tut mir ehrlich leid, dass deine Schulzeit solche Wunden geschlagen hat, dass dich dieses Thema jedes Mal, wenn es aufkommt, derart emotional aufwühlt. Aber es ist trotzdem deine Aufgabe, da mal die Verletzungen zum Heilen zu bringen, sonst wirst du bis zum Ende deines Lebens blindlings auf den Staat eindreschen und nicht zur Ruhe kommen. Und ich sage das nicht, um den Staat zu schützen (hat der nicht nötig), sondern weil du mit diesem Thema extrem programmier- und provozierbar bist und es dir ganz sicher nicht gut tut, eine derart offene Flanke zu haben. Man muss ja nur "Schulpflicht" rufen und schon bist du mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks am Routieren. Arbeite diesen Groll mal auf, der frisst dich sonst nur.

Das ist übrigens kein Gesprächsabbruch und auch kein Pathologisieren, sondern ein ernstgemeinter guter Rat. Lass mal die Wut los, und wenn du runtergekommen bist, können wir das Thema Schulpflicht auch gern nochmal in aller Ruhe durchgehen, nur, die emotionalisierte Nummer hatte ich schon ein, zweimal zu oft.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Anders gesagt: eine vernunftgemäße, im emphatischen Sinne autonome Entscheidung ("Sapere aude!") kann ein Mensch nur treffen, nachdem er Bildung genossen hat.

Richtig, aber um sich zu bilden, ist die in den Unterrichtsvollzugsanstalten verbrachte Zeit, ziemlich kontraproduktiv. Da lernt man letztlcih nur möglichst gut zu blöken.

Nur nochmal für's Protokoll: Es gibt Szenarien, in denen ich mir Homeschooling vorstellen könnte, aber das ändert am eigentlichen Argument nichts, dass der Staat notfalls über den Kopf der Eltern hinweg versuchen darf und muss, Kindern allgemeine Bildungsinhalte zu vermitteln.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Wie auch immer man es im Detail bewertet, ich kann nicht erkennen, wie man in diese Zahlen eine Explosion von Verordnungen hineininterpretieren könnte.

Du unterschlägst, dass diese neuen Gesetze im Normalfall ja zu den bestehenden noch hinzukommen, und eher selten alte dafür wegfallen.

Nein, ich unterschlage das nicht, ich hatte sogar absolute Zahlen angeführt. Die Gesamtzahl der bundesdeutschen Gesetze hat sich z.B. von 2003 zu 2009 um 273 auf 1924 reduziert. Der Umfang der Texte ist insgesamt wahrscheinlich trotzdem gestiegen, etwa durch Zusammenlegungen, aber zumindest zeigt das, dass auch der Bestand durchaus einer Pflege unterzogen wird und die Story vom unkontrollierten Endloswachstum der Gesetze nun auch nicht von so banaler Richtigkeit ist, wie du unterstellst.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Gandalf » Do 20. Mär 2014, 07:50

Nanna hat geschrieben:Deine Differenzierungsfähigkeit in politischen Fragen ist wie gewohnt auf dem Niveau eines Braunkohlebaggers. Wie einfach die Welt doch ist, wenn man verstanden hat "wie es wirklich ist".


war ja klar - der Hinweis auf physische Begrenzungen und Tatsachen (also das was "wirk_lich") erscheint den "Mystikern der Muskeln" als reine Polemik. Wäre ja noch schöner wenn das tolle intellektuelle Konstrukt, mit der man mittels esoterischem Brimborium nach Anerkennung in "der Gesellschaft" strebt, durch eine "banale physikalische Turingmaschine" wie z.B. ein Braunkohlebagger in Frage gestellt wird.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon provinzler » Do 20. Mär 2014, 08:14

Vollbreit hat geschrieben:Inwiefern?

Naja, zum einen sagst du, dir ist egal wie ich das organisiere, auf der andren Seite findest du es aber gut, dass ich da in eine Zwangsversicherung einzahlen muss, in der negative Realrendite garantiert werden.

Vollbreit hat geschrieben:Wenn nur der Fußballplätze finanziert, der Fußball spielt, Bibliotheken und Theater und dergleichen, kann man viele Kultureinrichtungen schließen.

Fakt ist dabei gleichzeitig, dass von den sogenannten Sportausgaben (um das Beispiel mal aufzugreifen) immer weniger dahin geht, dass Kinder Platz zum Fußballspielen haben, sondern dass Städte und Länder Kapitalgesellschaften, die dann Millionen an kurzbehoste Athleten ausschütten. Wenn Schalke 04 mal wieder pleite ist (so alle 4-5 Jahre), dann schießt die Stadt Gelsenkirchen mal wieder nen zweistelligen Millionbetrag zu. Mal verschenkt man ein Grundstück, mal kauft man Anteile an Stadien (die ohne die Fussballer wertlos sind).
In Mönchengladbach leiht sich die Stadt Geld zu 4% und leihts den Fußballern für 2%, damit die ein neues Stadion bauen konnten. Alles auch von denen zu finanzieren, denen Fußball am Arsch vorbeigeht. Geld das in die Taschen der Spieler, Funktionäre und Vermittler fließt, weil die Städte ja praktischerweise immer alles auffangen (Oder wie im Fall Kaiserslautern das Land). Ich bin selber Fußballfan und schau auch gern Biathlon, aber ich finde das trotzdem nicht richtig.


Vollbreit hat geschrieben: Man kann den Ruf labeln, auf das ist ein lukratives, allerdings flüchtiges Geschäft. Ist die Frage, ob wir dann nicht schnell bei den gleichen Werten wäre, wie wir sie jetzt „erzwungenermaßen“ haben. Das würde zwar dazu führne, dass die Mehrheit der Firmen nur anßtändig ist, weil sich das gut vermarkten lässt, allerdings ist ja auch nicht auszuschließen, dass die Vertreter und Befolger der wahren Werte der guten alten Zeit zuweilen ihre Hintergedanken hatten.

Letztlich ist doch das genau das was grad passiert, wenn Markenartikler versuchen ihre Marke durch irgendwelche Maßnahmen zu schützen, während andre versuchen das Unternehmen schlecht darzustellen. Wenn man mal nachbohrt sind das übrigens sehr sehr oft Leute, die bei der jeweiligen Firma als Pressesprecher o.ä. abgelehnt wurden, und die jetzt dafür bestrafen wollen.

Vollbreit hat geschrieben:Ja, danke, habe ich gelesen und sogar verstanden, aber warum so weit oben einsteigen? So rein strategisch gedacht. Woher willst Du wissen, dass Dir Kartelle nicht das Wasser abgraben, die stehen doch bestimmt nicht auf Quereinsteiger?

Das kommt drauf an wie du das GEschäftsmodell strickst. Zwei wesentlcihe Vorteile wären beispielsweise Zugriff auf Zentralbankfinanzierung und ein Zentralbankkonto (kein Counterpartyrisk mehr). Abgesehen von der Möglichkeit Einlagengeschäft zu betreiben und damit günstige Investitionsfinanzierung zu haben (wobei freilich eine hohe Liquidität zu halten ist).

Vollbreit hat geschrieben: Hast Du nicht (ernst gemeinte Frage) am Ende des Tages ein zu gutes Herz für die Branche (wie sie heute ist)?

Für bestimmte Ebenen bestimmt (diese Drückerkolonnen beispielsweise). Mit andren Dingen (diese Wertpapiergeschichten) hab ich weniger Probleme.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon provinzler » Do 20. Mär 2014, 11:59

Nanna hat geschrieben:Die Diskrepanz in deinem Menschenbild, das sich teilweise selbst widerspricht:

Die Position wirkt nicht mehr so wiedersprüchlich, wenn man die Anreizstrukturen mit einbezieht, und meine Überzeugung dass ca. 80% der Menschheit reine Mitläufer sind. Die Frage ist halt ob die Strukturen so sind, dass sie Zynismus belohnen, oder andre Dinge.
Nanna hat geschrieben:In meiner Welt ist das alles etwas grauer und flacher, Druck, Sanktionen und offene Gewalt halte ich sorgfältig auseinander,

Im Endeffekt läuft es immer auf offene Gewalt hinaus, falls du auf Idee kommen solltest, dich gegen die Vorstufen zu wehren.

Nanna hat geschrieben:Was auch immer dir als gut klingender Kampfbegriff dafür gefällt. Ich sehe es unter der Prämisse, dass man das Gebot der Menschenwürde ernst nimmt,

Das Gebot der Menschenwürde ernstzunehmen hieße in meinen AUgen zuerst einmal den Willen dieser Menschen zu respektieren.
Du maßt dir an, über andre Leute einfach so zu entscheiden, aufgrund deiner ganz persönlichen Sicht, was Würde bedeutet. Du definierst hier einen positiven Freiheitsbegriff, denn du neulich noch so verdammt hast.
Nanna hat geschrieben:Lass mal die Wut los, und wenn du runtergekommen bist, können wir das Thema Schulpflicht auch gern nochmal in aller Ruhe durchgehen, nur, die emotionalisierte Nummer hatte ich schon ein, zweimal zu oft.

Das Thema ist für mich auch zu Ende durchgekaut. Für mich ist das schlicht ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Punkt.
Nanna hat geschrieben: dass der Staat notfalls über den Kopf der Eltern hinweg versuchen darf und muss, Kindern allgemeine Bildungsinhalte zu vermitteln.

Man "lernt" bestenfalls, was zu tun ist, um sich im Soziotop Schule gut zu behaupten. (Arschkriechen, Ja-Sagen und auf keinen Fall aus der Herde ausscheren).
Dinge, die einem im Leben weiterhelfen lernt man in der SChule nicht. Dafür jede Menge Unfug, die man erstmal loswerden muss, um schlauer zu werden.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Vollbreit » Do 20. Mär 2014, 12:38

provinzler hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Inwiefern?
Naja, zum einen sagst du, dir ist egal wie ich das organisiere, auf der andren Seite findest du es aber gut, dass ich da in eine Zwangsversicherung einzahlen muss, in der negative Realrendite garantiert werden.
Ich sehe das auf zwei Ebenen. Wenn wir das Spiel Staat spielen wollen, geht das nur, wenn mehr oder weniger alle mitspielen. Der Grund ist relativ einfach: Der Staat, bei dem ich einigermaßen gerne mitspiele, hat auch eine Pflicht denen gegenüber, die sich mit dem Staat nicht identifizieren können. Soll heißen, wenn jemand auf der Straße wegen akuter schwerer Krankheit zusammenbricht, will ich nicht, dass man erst nachschaut, ob der die richtige Verträge unterschrieben hat und wenn nicht, ansonsten verrecken lässt, sondern das jedem geholfen wird. Dem Staat darf man zumuten, dass er ertragen kann, dass viele Bürger ihn nicht verstehen und einige ihn verachten, dennoch gibt es Leute, die da tapfer ihren Dienst machen, für uns alle.
Die andere Geschichte: Wenn es ein besseres Spiel als Staat gibt oder der Staat innerhalb des System verbessert werden kann, dann bin ich dafür. Wenn es ein Teil dieser Verbesserung ist, dass einige - Du zum Beispiel – nicht mehr alle Spiele mitspielen müssen, weil es da bestimmte Ausnahmen gibt, auf die man sich verständigt hat, dann ist das in Ordnung. Nur dafür brauche ich Argumente und nicht nur Andeutungen.

provinzler hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Wenn nur der Fußballplätze finanziert, der Fußball spielt, Bibliotheken und Theater und dergleichen, kann man viele Kultureinrichtungen schließen.
Fakt ist dabei gleichzeitig, dass von den sogenannten Sportausgaben (um das Beispiel mal aufzugreifen) immer weniger dahin geht, dass Kinder Platz zum Fußballspielen haben, sondern dass Städte und Länder Kapitalgesellschaften, die dann Millionen an kurzbehoste Athleten ausschütten. Wenn Schalke 04 mal wieder pleite ist (so alle 4-5 Jahre), dann schießt die Stadt Gelsenkirchen mal wieder nen zweistelligen Millionbetrag zu. Mal verschenkt man ein Grundstück, mal kauft man Anteile an Stadien (die ohne die Fussballer wertlos sind).
Ja und der Sänger Thomas Quasthoff hat sich von der klassischen Musik zurückgezogen, weil es dort immer mehr um Kommerz geht. Man schielt drauf was ankommt und sich verkaufen lässt, da fließt die Kohle hin, der Rest gerät unter die Räder, das Spektrum wird immer begrenzter. Ist nun die Kommerzialisierung das Problem oder die Subventionierung oder hängt beides gar zusammen?

provinzler hat geschrieben:In Mönchengladbach leiht sich die Stadt Geld zu 4% und leihts den Fußballern für 2%, damit die ein neues Stadion bauen konnten. Alles auch von denen zu finanzieren, denen Fußball am Arsch vorbeigeht. Geld das in die Taschen der Spieler, Funktionäre und Vermittler fließt, weil die Städte ja praktischerweise immer alles auffangen (Oder wie im Fall Kaiserslautern das Land). Ich bin selber Fußballfan und schau auch gern Biathlon, aber ich finde das trotzdem nicht richtig.
Du hast das doch sicher schon konsequent weitergedacht. Wenn Du sowas wie die Buchpresibindung und anderes dem Markt frei gibst, beförderst Du dann nicht am ehesten jene dumpfe Massenkulktur, die Du nicht magst?
Man kann das Gegenargument vorbringen, dass würde sich dann schon wieder einpendeln, aber manche Traditionen sind einfach weg, wenn das kulturelle Nad der Tradition reißt. Klar, ein paar Eliten tragen das weiter, aber der Unterschied zwischen einer Masse die dann vermutlich erst recht gierig und neidisch ist und einer kleine elitären Clique, ist der wirklich in Deinem Sinne? Meinst Du, die metaphysische Setzung, man müsse der Natur dann eben ihren Lauf lassen sei richtig?

provinzler hat geschrieben:Letztlich ist doch das genau das was grad passiert, wenn Markenartikler versuchen ihre Marke durch irgendwelche Maßnahmen zu schützen, während andre versuchen das Unternehmen schlecht darzustellen. Wenn man mal nachbohrt sind das übrigens sehr sehr oft Leute, die bei der jeweiligen Firma als Pressesprecher o.ä. abgelehnt wurden, und die jetzt dafür bestrafen wollen.
Ja, das passiert, wenn Werte zur Ware werden, findest Du das richtig und gut?

provinzler hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ja, danke, habe ich gelesen und sogar verstanden, aber warum so weit oben einsteigen? So rein strategisch gedacht. Woher willst Du wissen, dass Dir Kartelle nicht das Wasser abgraben, die stehen doch bestimmt nicht auf Quereinsteiger?
Das kommt drauf an wie du das GEschäftsmodell strickst. Zwei wesentlcihe Vorteile wären beispielsweise Zugriff auf Zentralbankfinanzierung und ein Zentralbankkonto (kein Counterpartyrisk mehr). Abgesehen von der Möglichkeit Einlagengeschäft zu betreiben und damit günstige Investitionsfinanzierung zu haben (wobei freilich eine hohe Liquidität zu halten ist).
Okay, da kenne ich mich überhaupt nicht aus und gehe davon aus, dass Du weißt, was Du tust.

provinzler hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Hast Du nicht (ernst gemeinte Frage) am Ende des Tages ein zu gutes Herz für die Branche (wie sie heute ist)?

Für bestimmte Ebenen bestimmt (diese Drückerkolonnen beispielsweise). Mit andren Dingen (diese Wertpapiergeschichten) hab ich weniger Probleme.
Wei gesagt, ich bin der Meinung, dass jeder das Recht hat und haben soll, es auch seinem Weg zu versuchen und ich gehöre immer zu denjenigen die das unterrstützen.
Wenn mir etwas im privaten Kontakt komisch vorkommt, versuche ich immer herauszubekommen, ob es dabei um andere Ziele geht, die man sich nicht direkt traut anzugehen und versuche dann direkte Wege aufzuzeigen, aber wer sich seiner Sache sicher ist und genau das will, da habe ich nichts gegen.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Nanna » Do 20. Mär 2014, 13:12

Gandalf hat geschrieben:war ja klar

Siehst du, genau das dachte ich mir auch! Deine Platte hab ich schon zehn Mal gehört, dass du überzeugt bist, genau zu wissen, wie alles ist und funktionieren muss, weiß ich auch - worüber ist dann noch zu reden?

provinzler hat geschrieben:Die Position wirkt nicht mehr so wiedersprüchlich, wenn man die Anreizstrukturen mit einbezieht, und meine Überzeugung dass ca. 80% der Menschheit reine Mitläufer sind. Die Frage ist halt ob die Strukturen so sind, dass sie Zynismus belohnen, oder andre Dinge.

Das ändert nichts daran, dass völlig unklar ist, wie du die Masse dazu kriegen willst, deine favorisierten Anreizstrukturen zu implementieren. Auch ein vertragsbasiertes System wie deines benötigt immer noch sehr viel gemeinsame Rechtsordnung. Das entsteht nicht einfach von selber, indem man sich in politischer Alexandertechnik übt und einfach "das Schlechte nicht tut", sondern bedarf einer breiten Unterstützung von Leuten, die das mehr oder weniger bewusst mittragen.

Der Widerspruch schwingt doch selbst in deinen eigenen Worten immer mit: Einerseits möchtest du ein System maximaler "Selbstverantwortung", andererseits besteht die übergroße Mehrheit der Bevölkerung - auch deine Worte! - aus "Mitläufern". Mit Mitläufern ist keine Selbstverantwortung zu machen, das sind ja widersprüchliche Begriffe. Und einfach mal zu behaupten, dass sich das schon ändern würde, wäre wirklich kein Argument mehr, sondern reines Wunschdenken. Sorry, aber da klafft immer noch eine dicke Lücke in deiner Argumentation.

provinzler hat geschrieben:Im Endeffekt läuft es immer auf offene Gewalt hinaus, falls du auf Idee kommen solltest, dich gegen die Vorstufen zu wehren.

Wenn ein Konflikt anders nicht beigelegt werden kann, tut es das meist. Ich behaupte aber mal, dass das in der libertären Utopie genauso laufen würde, weil das nichts mit dem politischen System zu tun hat, in dem man lebt, sondern einfach ein (in Gandalfs Vokabular) "mögliches Handlungsmuster" ist, das sich in Konflikten seit Jahrtausenden fest als letzte Eskalationsstufe etabliert hat. Es gehört schon sehr viel Zivilisierung dazu, freiwillig darauf zu verzichten. Deshalb haben wir ja das staatliche Gewaltmonopol errichtet, damit Gewaltausübung wenigstens einigermaßen kontrolliert wird. Gewalt war schon vor dem Staat da, die hat nicht der Staat in die Welt gebracht. Er ist, neben anderen Gründen seiner Existenz, eine Antwort auf das Gewaltpotential der Menschen und muss daher auch selbst zur Gewaltausübung fähig sein, aber das kann man ihm meines Erachtens nur begrenzt vorwerfen.

Ich verstehe schon, dass du kein muskelbepackter Knacki bist, der drei Läden ausgeraubt hat, und es in deinem Fall um andere Fragen geht. Ich wäre anstelle des Staates zu Verhandlungen über bestimme Punkte bereit (Homeschooling evtl. unter Auflagen, Liberalisierung bestimmter Vorsorgesysteme unter Umständen ebenfalls, müsste ich mehr Detailwissen haben), aber ich befürworte das prinzipielle Recht des Staates, Bürger zu disziplinieren, die gesetzlichen Regeln nicht folgen wollen, weil ich die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung als solche erst mal wichtiger und fundamentaler für den gesellschaftlichen Frieden finde, als dass der Bestand der Gesetze von lupenreiner Perfektion ist.

provinzler hat geschrieben:Das Gebot der Menschenwürde ernstzunehmen hieße in meinen AUgen zuerst einmal den Willen dieser Menschen zu respektieren.
Du maßt dir an, über andre Leute einfach so zu entscheiden, aufgrund deiner ganz persönlichen Sicht, was Würde bedeutet. Du definierst hier einen positiven Freiheitsbegriff, denn du neulich noch so verdammt hast.

Der Menschenwürdebegriff ist meines Erachtens eine Voraussetzung dafür, dass wir als Menschen in gegenseitiger Achtung zusammen leben können. Wenn nun jemand alt und/oder krank ist und dadurch von der Gesellschaft ausgeschlossen wird, gar physisch in seiner Existenz bedroht ist, geht bei der Grundrechtekollision deiner und seiner Rechte meines Erachtens das Recht auf Leben des Betroffenen eindeutig vor dein Recht auf Eigentum.

Der positive Freiheitsbegriff spielt da mit rein, keine Frage, aber wenn du aufmerksam gelesen hast, was ich neulich geschrieben habe, dann hast du auch gelesen, dass ich davon gesprochen habe, dass ein Gemeinwesen zum Funktionieren einen Grundbestand positiver Freiheiten, gemeinsamer Narrative usw., also kurz gesagt: eine positive Ordnung, braucht, um funktionieren zu können.

provinzler hat geschrieben:Man "lernt" bestenfalls, was zu tun ist, um sich im Soziotop Schule gut zu behaupten. (Arschkriechen, Ja-Sagen und auf keinen Fall aus der Herde ausscheren).
Dinge, die einem im Leben weiterhelfen lernt man in der SChule nicht. Dafür jede Menge Unfug, die man erstmal loswerden muss, um schlauer zu werden.

Ich dachte, das Thema wäre durchgekaut?
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon provinzler » Do 20. Mär 2014, 13:36

Vollbreit hat geschrieben:Ja und der Sänger Thomas Quasthoff hat sich von der klassischen Musik zurückgezogen, weil es dort immer mehr um Kommerz geht. Man schielt drauf was ankommt und sich verkaufen lässt, da fließt die Kohle hin, der Rest gerät unter die Räder, das Spektrum wird immer begrenzter. Ist nun die Kommerzialisierung das Problem oder die Subventionierung oder hängt beides gar zusammen?

Das Problem ist die subventionierte Kommerzialisierung. Vereinfacht gesagt, werden die Kosten sozialisiert, die Einnahmen fließen in private Kanäle. Hier werden aus Steuergeldern die Taschen von Einzelnen gefüllt. Warum das gemacht wird ist mir auch klar. Brot und Spiele. Man will halt ablenken, von dem was man selbst so alles anstellt.

Vollbreit hat geschrieben:Du hast das doch sicher schon konsequent weitergedacht. Wenn Du sowas wie die Buchpresibindung und anderes dem Markt frei gibst, beförderst Du dann nicht am ehesten jene dumpfe Massenkulktur, die Du nicht magst?

Die Buchpreisbindung gibt es so m.W. nur in Deutschland und Österreich. M.W. ist das Phänomen Buch außerhalb dieser beiden Länder bisher nicht ausgestorben. Und auch wenn ich es schade finde, dass das alte herkömmliche schön gebundene Buch langsam aber sicher gegen das Taschenbuch, E-Books usw. verliert. Ich leite daraus nicht das Recht ab, solche Entwicklungen durch Eingriffe zu unterbinden.

Vollbreit hat geschrieben:Ja, das passiert, wenn Werte zur Ware werden, findest Du das richtig und gut?

Ich versteh irgendwie nicht ganz, was du mit der Formulierung meinst.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon provinzler » Do 20. Mär 2014, 13:52

Nanna hat geschrieben:Das ändert nichts daran, dass völlig unklar ist, wie du die Masse dazu kriegen willst, deine favorisierten Anreizstrukturen zu implementieren. Auch ein vertragsbasiertes System wie deines benötigt immer noch sehr viel gemeinsame Rechtsordnung. Das entsteht nicht einfach von selber, indem man sich in politischer Alexandertechnik übt und einfach "das Schlechte nicht tut", sondern bedarf einer breiten Unterstützung von Leuten, die das mehr oder weniger bewusst mittragen.

Die Implementierung hat mit der Masse überhaupt nichts zu tun, das war immer, ist heute und wird immer Sache der Eliten sein. Freilich sind das diejenigen die vom Status quo am stärksten profitieren, deswegen laufen auch all diese Revolutionen letztlich immer ins Leere. Es wechseln nur die Köpfe, die Systematik bleibt erhalten, weil die Fleischtröge viel zu lukrativ sind um sie aufzugeben, wenn man einmal davor sitzt. Einzige Lösung wäre es die Fleischtröge systematisch zu begrenzen, was aber auch schwer realisierbar ist, weil diejenigen die davor sitzen, genau darüber befinden. Insofern hast du Recht, das wird sich nie ändern.

Nanna hat geschrieben:Wenn ein Konflikt anders nicht beigelegt werden kann, tut es das meist.

Wobei Konfliktbeilegung in diesem Fall nur durch bedingungslose Unterwerfung erfolgen kann, niemals auf Basis eines Kompromisses.

Tja und was gibts nun für Alternativen, aufbauend auf diesen Erkenntnissen? Den Zyniker geben, der das immer noch scheiße findet, aber konsequent nach Fleischtöpfe strebt? Den Heuchler spielen, der sich und andren vorlügt, dass alles richtig zu finden, und dabei an die Fleischtöpfe strebt? Eine Gehirnwäsche verpassen lassen, nach der man den Großen Bruder einfach liebt und glücklich ist als SChaf in der Herde blöken zu dürfen? (auch wenn du das vermutlich besser euphemisieren würdest). Den Don Quijote geben? Oder sich selbst die Kugel?
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Nanna » Do 20. Mär 2014, 23:56

provinzler hat geschrieben:Warum das gemacht wird ist mir auch klar. Brot und Spiele. Man will halt ablenken, von dem was man selbst so alles anstellt.

Ich glaube, dass du da der breiten Mehrheit der Eliten wesentlich mehr Intentionalität unterstellst, als da vorherrscht. Es gibt sicherlich nicht wenige, die ihre Position ausnutzen und es gibt auch unheimlich geschickte Großlobbyisten an den Schnittstellen von Politik und Wirtschaft, aber ein durchgeplantes grand scheme, mit dem das Volk systematisch ausgenommen wird, gibt es meines Erachtens eher nicht.

Ich denke, dass es, wenn es überhaupt so sein sollte, eher ein bisschen wie in der Hofkultur von Versailles läuft: Der Großteil lebt das schöne Leben und denkt nicht so ernsthaft darüber nach, wessen Schweiß dafür geflossen ist, sondern empfindet die Umstände einfach als natürlich gegeben und schleift die vorgegebenen Pfade immer etwas weiter ein. Ein paar diabolische Gestalten gibt es sicherlich auch, keine Frage, aber nach jedem Skandal oder Leak oder einer Archivöffnung, wo für kurze Zeit oder im Rückblick ein Einblick in elitäre Bereiche sichtbar wird, wird meines Erachtens schnell deutlich, dass innerhalb der Eliten ähnlich viel dillettiert wird, wie in der Alltagsrealität der Normalbürger auch. Die haben in der Mehrheit häufig auch keinen echten Überblick über das, was ihre Handlungen für Folgen haben.

provinzler hat geschrieben:Die Implementierung hat mit der Masse überhaupt nichts zu tun, das war immer, ist heute und wird immer Sache der Eliten sein. Freilich sind das diejenigen die vom Status quo am stärksten profitieren, deswegen laufen auch all diese Revolutionen letztlich immer ins Leere. Es wechseln nur die Köpfe, die Systematik bleibt erhalten, weil die Fleischtröge viel zu lukrativ sind um sie aufzugeben, wenn man einmal davor sitzt.

Es ist in der Tat eine bekannte Folge von Revolutionen, dass die Eliten nicht abgeschafft, sondern ausgetauscht der eventuell sogar nur umbenannt werden (aus Kadern werden z.B. Oligarchen). Und es gibt das "iron law of oligarchy", das in den Sozialwissenschaften die konsequente Neigung von Massenbewegungen beschreibt, sich formal zu organisieren, zu bürokratisieren und Funktions- und Führungseliten auszubilden. Die Grünen sind ein gutes Beispiel dafür, wie aus einer Massenbewegung ein gut organisierter Parteiapparat wurde, die Piraten eines, das sich "erfolgreich" gegen Karrieristen gewehrt hat und damit gleichzeitig jede Chance verbaut hat, die inneren Fliehkräfte im Zaum zu halten, was einer de-facto-Selbstabschaffung gleichkommt. Den Brights ist es im kleineren Maßstab übrigens ähnlich gegangen. An dem Beispiel sieht man gut, dass fehlende Eliten- und Hierarchienbildung ein Reformvorhaben genauso crashen kann wie eine überdrehte.

Trotzdem muss man meines Erachtens festhalten, dass die meisten Revolutionen meist schon positive Hinterlassenschaften zurücklassen. Die ehemaligen Ostblock-Bürger sind heute viel freier und wohlhabender, die Franzosen leben auch besser als zu Königs Zeiten und in Deutschland wurde nach 1848 wenigstens überhaupt mal eine Demokratiebewegung möglich, die den Namen halbwegs verdiente. Insofern sollte man da nicht zu pessimistisch sein. Wobei ich glaube, dass wir heute in der EU einem politischen Klima leben, in dem wir mit graduellen Reformen eh besser dran sind, als mit Revolutionswirren, die die Wirtschaft erstmal für fünf Jahre ins Klo schicken.

provinzler hat geschrieben:Einzige Lösung wäre es die Fleischtröge systematisch zu begrenzen, was aber auch schwer realisierbar ist, weil diejenigen die davor sitzen, genau darüber befinden. Insofern hast du Recht, das wird sich nie ändern.

Ich glaube, ich bin da optimistischer, aber ich kann mich vielleicht auch über kleinere Erfolge mehr freuen. Freiheit zu schaffen, ist ein langwieriger Lernprozess, sowohl für Eliten als auch für Normalbürger. In Entwicklungsländern verachten die Eliten häufig das einfache Volk und halten es für dumm (und daher auch nicht irgendwelcher Bildungsanstrengungen würdig), da sind wir schon deutlich weiter. Das Volk braucht Bildung und Kontrollmöglichkeiten, die Eliten müssen den Meinungsbildungsprozess klug und offen moderieren, es muss sich Streitkultur entwickeln, unangenehme Wahrheiten müssen gesagt werden können, ohne dass man ausgebuht wird; das alles gesamtgesellschaftlich zu lernen, dauert Generationen und ist nie abgeschlossen. Manchmal brauchen wir auch mehrere schlimme Krisen, bis wir die richtigen Schlüsse ziehen. Da ist noch lange nicht das letzte Wort gesprochen und historisch gesehen ist es trotz tiefer Täler unterm Strich doch eigentlich in den letzten Jahrtausenden am Ende stets aufwärts gegangen. Wird schon.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Wenn ein Konflikt anders nicht beigelegt werden kann, tut es das meist.

Wobei Konfliktbeilegung in diesem Fall nur durch bedingungslose Unterwerfung erfolgen kann, niemals auf Basis eines Kompromisses.

Es wäre unredlich, dem zu widersprechen: Ja, es kann durchaus für das Individuum diese Folge haben. Gleichzeitig haben aber Individuen auch die Möglichkeiten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und darauf hinzuwirken, dass ihnen Rechte eingeräumt werden. Wenn du beispielsweise für die Erlaubnis von Homeschooling bist, kannst du dafür politisch agitieren und damit ist deine Unterwerfung unter das Primat des Rechts schon nicht mehr bedingungslos. Du kannst etwas ändern, auch wenn es schwierig ist und ganz schön Opfer fordern würde. Aber gut, wer hätte es nicht gern einfach und die Welt von vornherein so eingerichtet, wie es seinen Präferenzen entspricht? So finden wir sie halt nicht vor und wer was anders haben will, muss aufstehen und handeln.

Ein Problem entsteht für dich vor allem dann, wenn du die politischen Spielregeln unserer Gesellschaft derart fundamental ablehnst, dass du dich nicht darauf einlassen kannst, mitzuspielen. Dann wirst du in der Tat nichts erreichen können.

provinzler hat geschrieben:Tja und was gibts nun für Alternativen, aufbauend auf diesen Erkenntnissen? Den Zyniker geben, der das immer noch scheiße findet, aber konsequent nach Fleischtöpfe strebt? Den Heuchler spielen, der sich und andren vorlügt, dass alles richtig zu finden, und dabei an die Fleischtöpfe strebt? Eine Gehirnwäsche verpassen lassen, nach der man den Großen Bruder einfach liebt und glücklich ist als SChaf in der Herde blöken zu dürfen? (auch wenn du das vermutlich besser euphemisieren würdest). Den Don Quijote geben? Oder sich selbst die Kugel?

Ich würde dir a) zu einer inneren Distanzierung und b) zum Don Quijote raten, der erhält sich von allen deinen Entwürfen am meisten Würde und Autonomie. Man muss die Spielregeln nicht lieben, um ihre (momentane) faktische Geltung anzuerkennen. Wenn du dir ein konkretes Ziel setzt und das mit langem Atem verfolgst (möglicherweise mit einem Horizont über deine eigene Lebensspanne hinaus), kannst du etwas erreichen. Du musst dir halt klar sein, dass du dir einen verdammt großen Gegner ausgesucht hast, und dass schnelle Erfolge nicht drin sein werden. Ansonsten ist auch der innere Biedermeier möglich, wo du dich abwendest von politischen Themen, nach außen hin soweit nötig die Regeln akzeptierst (siehe Vollbreits Beiträge) und es dir nach innen mit Freunden und Familie gemütlich machst. Finde ich persönlich nicht so toll, aber deutlich gesünder als vor Ärger dauernd zu rotieren und Angesichts der eigenen Ohnmacht zu verzweifeln, ist es allemal. So oder so, eine gelassene Akzeptanz der Gegebenheiten ist auf jeden Fall der Schlüssel, und dann läuft es entweder darauf hinaus, es sich halbwegs gemütlich einzurichten (Wein, Weib und Gesang sind durchaus nicht das Schlechteste im Leben!), oder sich in bewusster Verachtung der Ausgangschancen in den Kampf für eine bessere Welt zu stürzen. Nur, bitte nicht fortwährend aufregen und verzweifeln. Macht nur Herzinfarkt und einen miesen Gesichtsausdruck.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Mär 2014, 10:38

provinzler hat geschrieben:Das Problem ist die subventionierte Kommerzialisierung. Vereinfacht gesagt, werden die Kosten sozialisiert, die Einnahmen fließen in private Kanäle. Hier werden aus Steuergeldern die Taschen von Einzelnen gefüllt. Warum das gemacht wird ist mir auch klar. Brot und Spiele. Man will halt ablenken, von dem was man selbst so alles anstellt.
Das war jetzt nicht mein Punkt. Die liberale Grundansicht ist ja zum einen die Freiheit des Individuums, zum anderen die Freiheit der Märkte. Die Idee dahinter ist, dass der Mensch schon weißt was er will und das dann auch einfordert, also Angebot und Nachfrage.
Ab hier beginnen die Glaubensfragen. Wenn das mit Angebot und Nachfrage nicht so gut funktioniert, sagen Wirtschaftsliberale, das liege daran, dass der Markt eben nicht vollkommen frei agieren kann und die Vertreter staatlicher Regulierungen, dass dies ein guter Grund sei auf anderswo aufzupassen.
Das neoliberale Versprechen war ja, dass man die Wirtschaft machen lassen soll, dann kämen mehr Arbeitsplätze, bessere Löhne und gerechtere Bedingungen von selbst, was dann allerdings oft vertagt wurde mit dem Argument, man konkurriere ja nun global und in Bulgarien oder China ginge das alles billiger und man drohte mit Weggang.
Irgendwann stellte man sich die Frage, ob man überhaupt auf der Ebene der Massen- und Billigartikel konkurrieren sollte und da gibt es die Argumente, dass billig oft nur kurzfristig billig ist (weil es mit Langzeitproblematiken verknüpft ist, die dann durchaus teuer werden können), ob man nicht selbst auf Qualität und das Renommee von „Made in Germany“ setzen sollte und man stellte fest, dass die Versprechen von mehr Arbeitsplätzen zu besseren Konditionen oft nicht gehalten wurden.
Gegenwärtig läuft der Trend in vielen Branchen in die Richtung, dass immer weniger Leute, möglichst bessere Leistungen bringen sollen, als es vorher der Fall war, was einen hohen Krankenstand und einen schlechter Betriebsklima ergibt, was in einigen Branchen auch schlecht durch Billigarbeitskräfte aus dem Ausland kompensiert werden kann. Ich höre das sowohl für Spitzentechnologiekonzerne aus Österreich (in amerikanischer Hand), sowie für den Medizin- und Pflegesektor und Deutschland.

provinzler hat geschrieben:Die Buchpreisbindung gibt es so m.W. nur in Deutschland und Österreich. M.W. ist das Phänomen Buch außerhalb dieser beiden Länder bisher nicht ausgestorben.
Okay, das ist erst mal ein Argument was sticht, wie da genau die Verteilung ist, weiß ich nicht.

provinzler hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ja, das passiert, wenn Werte zur Ware werden, findest Du das richtig und gut?
Ich versteh irgendwie nicht ganz, was du mit der Formulierung meinst.
Hm, ich weiß nicht, wie weit ich da ausholen soll. Momentan gibt es eine Trend zu Billigkrempel auf allen Ebenen, was man m.E. erst mal so hinnehmen sollte, denn der Markt ist frei. Die Leute ziehen auch mehr um als früher, da kann man den Eiche massiv Schrank vielleicht nicht so gut gebrauchen. Was ich bedauerlich finde, ist dass auch die Zahlungsmoral massiv sinkt, d.h. manches Unternehmen geht pleite, weil die Kunden einfach zahlen oder routiniert prozessieren usw. Schade, kann man da sagen, aber das ist ein gesellschaftliches Problem, das kann der Markt nicht lösen. Dennoch steht ja am Anfang des liberalen Gedankens ja eine ethische Überlegung.
Man kann das nun sportlich sehen und sagen, dass es zu jeder Bewegung auch eine Gegenbewegung gibt und wenn die Sehnsucht nach Qualität und Tradition sich natürlich einstellt, wird der Markt sich auf darauf einstellen. Dann wird eben wieder Qualitätsliteratur gedruckt, vernünftige Möbel hergestellt, man entdeckt die Hausmusik wieder und baut Gamben und Orgeln. Und da habe ich meine Zweifel, wenn es darum geht, ob man bestimmte Bewegungen einfach so wieder umdrehen kann. 1) Wenn bestimmte Traditionen gerissen sind, kann man sie eben nicht eine oder zwei Generationen später wieder aufnehmen, weil nun niemand mehr weiß, wie das geht. 2) Wenn alle möglichen Zuchtformen von Tieren und Pflanzen patentiert werden, dann ist irgendwann selbst der gekniffen, der friedlich im bayrischen Wald sein Gemüse züchten will. Dann hättest Du einen massiven Eingriff in das Privatleben, allerdings dann von Seiten der Märkte.

Mit den Werten und der Ware, das meinte ich ursprünglich so: Ethischen Fragen sind am Markt angekommen und ein realer Kostenfaktor, ob Schlecker, Deutsche Bank (Wetten auf Nahrungsmittelknappheit), ADAC, Billigkleidung (Kinderarbeit) und so weiter. D.h. in den Maße, wie die Wirtschaft sich von staatlicher Regulierung freistrampelt, sieht sie sich dennoch mit diesen Themen konfrontiert. Das kann man dadurch „lösen“ indem man dem Markt weitere Freiheiten gibt und bspw. die großen Konzerne auch eigene Medien haben und durch diese Einfluss auf die Bevölkerung nehmen. Die staatliche Gehirnwäsche würde von einer Megakonzerngehirnwäsche ersetzt, könnte man befürchten, einen Paradefall stellt ja Italien da.
Meine Meinung ist ja, dass die Politik die Zügel schon längst aus der Hand gegeben und kapituliert hat und es daher ohnehin klug wäre, mit der Wirtschaft zu kooperieren und von der Seite organisierter Verbraucherverbände eben den Einfluss zu nehmen, den man nehmen kann, durch Kooperation, Sanktionierung und ich vermute dass das „Leaken“ zukünftig nicht nur die Politik, sondern auch mächtige Konzerne betreffen wird.
Das mal so reingehauen, in die Runde.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Nanna » Fr 21. Mär 2014, 11:01

Vollbreit hat geschrieben:
provinzler hat geschrieben:Die Buchpreisbindung gibt es so m.W. nur in Deutschland und Österreich. M.W. ist das Phänomen Buch außerhalb dieser beiden Länder bisher nicht ausgestorben.
Okay, das ist erst mal ein Argument was sticht, wie da genau die Verteilung ist, weiß ich nicht.

Ich helf doch gern, wenn's um Statistiken geht. ;-)
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Mär 2014, 13:19

@ Nanna:

Danke.
Ich weiß nicht inwieweit man die Diskussion um die Bücher vertiefen soll, ich kann die Argumente nachvollziehen, die pro Buchpreisbindung sind, aber ich weiß nicht, wie sich das real im Bezug auf Schutz der Qualität vor den tumben Massenprodukten (die ja auch nicht nur schlecht sein müssen, die rigide Trennung zwischen U und E ist ja typisch deutsch) auswirkt, aber den Punkt gebe ich erst mal provinzler.

@ alle:

Ich glaube ja, dass die sehr weit Linken und die sehr weit Rechten das gemeinsame Problem haben, mit der Welt, wie sie ist, nicht zurechtzukommen.

Die sehr weit Linken erklären uns dann, dass alles Übel von einem gefräßigen Kapitalismus ausgeht und von einer Verschwörung von Wirtschaftseliten, Reichen, Mächtigen und deren Lobbyisten ausgeht, unterstützt von der dummen bürgerlichen Masse und kapitalistisch verführt ist jeder, der den Wunsch verspürt in den Urlaub zu fahren.
Beschworen wird ein heiler Naturzustand, als noch niemand Eigentum hat und der aus Mittags fischen und abends grillen besteht.
Um diesen Urzustand wiederherzustellen sehen sich sehr weit Linke legitimiert, dass „Schweinesystem“ und den „faschistischen Bullenstaat“ zu zerstören.

Die sehr weit Rechten erzählen uns dann, dass alles Übel von der kollektivistischen Gleichmacherei ausgeht und von einer Verschwörung einer linksradikalen Medienmafia, mit Leuten, die den Marsch durch die Institutionen nur angetreten haben, um im blinden pathologischen Hass auf das Vaterland Stalins Zerstörungswerk zu vollenden, unterstützt von einer tumben Massen von Leistungsverweigerern und Sozialschmarotzern, die es sich in der sozialen Hängematte bequem gemacht haben, während die letzten aufrechten tapfer ihrem Tagwerk nachgehen. Beschworen wird ein heiler Urzustand, als das Volk noch nicht genetisch durchmischt war, und in aller Kraft, Schönheit und Reinheit erstrahlte.
Um diesen Urzustand wiederherzustellen sehen sich sehr weit Rechte legitimiert, dass „Schmarotzer- und Kanakenparadies“ zu zerstören.

Wer denkt, das sei eine grobe und oberflächliche Beschreibung unterhalte sich mit entsprechenden Vertretern und er wird kennen, dass die paar Zeilen oft noch zu differenziert sind. Sie alle erzählen Schöpfungsmythen, von einer heilen Welt, wie sie früher mal war und später (wieder) mal sein soll.

Das Paradies ist meinst erreicht, wenn die Welt befreit ist, von linken oder rechtem Gedankengut, wenn es keinen Atheismus oder keine Religionen mehr gibt.
Jeder hat so seinen Ort des Urbösen und die etwas Klügeren schaffen es, virtuose Märchen zu erzählen, warum mit dem Beginn des Individualismus, des Kollektivismus, des Atheismus oder der Religiösität (oder der Technisierung, des Fleischessens, der Werkzeugbenutzung …) alles Übel der Welt begann.

Es ist problemlos möglich, zu jedem Vorgang in der Welt, ob aktuell oder historisch, einen der extremen Interpreten zu befragen und lustigerweise können linksextreme Interpreten den Vorgang lückenlos aus ihren Zutaten rekonstruieren, ebenso wie das rechtsextreme Interpreten können, sowie die Extremisten anderer Weltanschauungen. Aber da liegt vielleicht schon der Fehler.

„Ein anderes Beispiel ist die moderne politische Ordnung. Seit der Französischen Revolution begreifen die Menschen im Westen Freiheit und Gleichheit als grundlegende Werte. Doch diese beiden Werter stehen im Widerspruch zueinander. Gleichheit lässt sich nur erreichen, wenn die Freiheit der Bessergestellten beschnitten wird. Und wenn jeder unbegrenzte Freiheit hat, dann geht das auch Kosten der Gleichheit. Die gesamte politischen Geschichte seit 1789 lässt sich als der Versuch verstehen, diesen Widerspruch aufzulösen. Wer je einen Roman von Charles Dickens gelesen hat, der weiß, dass die liberalen europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts die Freiheit in den Vordergrund stellten, auch wenn das bedeutete, dass Arme eingesperrt wurden und Waisen sich als Taschendiebe verdingen mussten. Und wer je eine Roman von Alexander Solschenitzyn gelesen hat, der hat erfahren, dass die Gleichheit des Kommunismus eine grausame Tyrannei hervorbrachte, die jeden Aspekt des Lebens kontrollieren wollte. Der Sozialstaat versucht einen Mittelweg zu gehen, weshalb er von allen Seiten kritisiert wird.
So wie es der mittelalterlichen Kultur nie gelang, Rittertum und Christentum unter einen Hut zu bekommen, so schafft es die moderne Welt nicht, Freiheit und Glecihehit zu vereinbaren. Das ist jedoch kein Defekt der mittelalterlichen oder modernen Kultur. Im Gegenteil, Widersprüche sind unvermeidlicher Teil jeder menschlichen Kultur. Mehr noch, sie sind der Motor der Geschichte und machen unsere Art so kreativ und dynamisch, wie sie ist.
Ungereimtheiten, Spannungen und Konflikte machen die Würze jeder Kultur aus. Deshalb vertritt jeder Angehörige einer bestimmten Kultur unweigerlich Vostellungen und Werte, die einander widersprechen oder sich gegenseitig ausschließen. Dieses Phänomen ist so verbreitet, dass es sogar eine eigen Namen hat: die kognitive Dissonanz. Unte dem Begriff versteht man zwar eine psychische Störung, doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine überlebenswichtige Angelegenheit. Wenn wir nicht in der Lage wäre, gleichzeitig völlig unvereinbare Vorstellungen und und Werte zu vertreten, wäre unsere gesellschaftliche Ordnung längst zusammengebrochen.“
(Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, DVA 2013, S.203f)


Das heißt, wenn diese Analyse stimmt und wenn man die Schichten übereinanderlegt, die sich aus verschiedenen Forschungszweigen abbilden, dann ergibt sich ein Bild, was dem in etwa entspricht, zumindest nicht widerspricht, dann ist das Märchen von der einen Urquelle oder dem letzten, eindeutigen Ziel, schlichter Quatsch. Nicht, dass es dies und das in der Welt gibt, ist das Problem, das Problem sind Individuen, die mit Ambivalenzen nicht umgehen können, weil sie dabei kognitiv, aber vor allem emotional überfordert sind.

Es sind die Fortgeschritteneren, denen das gelingt, während man diejenigen, die noch nicht so weit sind, mit Mythen ernährt. Ich will nicht sagen abspeist, denn das kulturelle Kraftfutter der Ambivalenzen ist für die Mythengläubigen unverdaulich, löst sogar Würgreflexe aus. Und, auch die Mythengläubigen haben ein Recht auch ihre Mythen. Die Evolution, gerade auch die geistige schreitet in Stufen voran und die gelungene Anpassung an eine immer komplexere Welt ist eine Psyche, die mit Komplexitäten umgehen kann und nicht auf Regressionsstufen zurückfällt.

Es suchen vermutlich noch immer zu viele nach dem gelobten Land, die streiten sich in der Anschauung, wer ihnen dieses gelobte Land zeigt: Die Religion, die Wissenschaft, die freie Wirtschaft, ein charismatischer Führer, aber die Freiheitsangst, wie ich sie hier sehe und von der ich glaube, dass auch Götz Aly sie so meinte, ist die Angst ohne Programm und Vorturner dazustehen, frei eben.
Da natürlich jede Gesellschaft nach wie vor ihre Werte hat und auch braucht, ist Freiheit (fast) nur auf dem Rücken von Konventionen, Gesetzen und Überzeugungen möglich.
Eben weil die Gesellschaft keine homogene Einheit ist, sondern (in jedem Land) Individuen umfasst, die unterschiedlich weit entwickelt sind und sich um die jeweiligen Mythen gruppieren, die für ihre „Glaubensgemeinschaft“ gemacht sind. Religiöse Mythen, Wirtschaftsmythen, Wissenschaftsmythen und davon abgegrenzt die Menschen die weniger mythengläubig sind und sich trauen freier zu agieren, Stufen die sich nach oben und unter weiter fortsetzen, aber für dieses Thema (und viel anderen) ist dies der entscheidende Punkt.

Man müsste in meinen Augen herausarbeiten, dass Gläubigkeit nicht zwingend am Inhalt hängt (wer an Neuromythen glaubt, ist strukturell nicht anders dabei, als der, der an religiöse Mythen glaubt) und was den reinen Glauben (der bustabengetreu ist) von einer weiteren Stufe unterscheidet, die man mythsich-rational nennen könnte (und auf der sich Kreationisten tummeln) und was beide von den im Geiste freien Menschen unterscheidet, die rational im besten Sinne aufgestellt sind, vielleicht anfangs noch zu zweckrational bis auch das überwunden wird.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Jounk33 » Fr 21. Mär 2014, 13:53

Vollbreit hat geschrieben:
Ich glaube ja, dass die sehr weit Linken und die sehr weit Rechten das gemeinsame Problem haben, mit der Welt, wie sie ist, nicht zurechtzukommen.

Die sehr weit Linken erklären uns dann, dass alles Übel von einem gefräßigen Kapitalismus ausgeht und von einer Verschwörung von Wirtschaftseliten, Reichen, Mächtigen und deren Lobbyisten ausgeht, unterstützt von der dummen bürgerlichen Masse und kapitalistisch verführt ist jeder, der den Wunsch verspürt in den Urlaub zu fahren.
Beschworen wird ein heiler Naturzustand, als noch niemand Eigentum hat und der aus Mittags fischen und abends grillen besteht.
Um diesen Urzustand wiederherzustellen sehen sich sehr weit Linke legitimiert, dass „Schweinesystem“ und den „faschistischen Bullenstaat“ zu zerstören.

Die sehr weit Rechten erzählen uns dann, dass alles Übel von der kollektivistischen Gleichmacherei ausgeht und von einer Verschwörung einer linksradikalen Medienmafia, mit Leuten, die den Marsch durch die Institutionen nur angetreten haben, um im blinden pathologischen Hass auf das Vaterland Stalins Zerstörungswerk zu vollenden, unterstützt von einer tumben Massen von Leistungsverweigerern und Sozialschmarotzern, die es sich in der sozialen Hängematte bequem gemacht haben, während die letzten aufrechten tapfer ihrem Tagwerk nachgehen. Beschworen wird ein heiler Urzustand, als das Volk noch nicht genetisch durchmischt war, und in aller Kraft, Schönheit und Reinheit erstrahlte.
Um diesen Urzustand wiederherzustellen sehen sich sehr weit Rechte legitimiert, dass „Schmarotzer- und Kanakenparadies“ zu zerstören.

Wer denkt, das sei eine grobe und oberflächliche Beschreibung unterhalte sich mit entsprechenden Vertretern und er wird kennen, dass die paar Zeilen oft noch zu differenziert sind. Sie alle erzählen Schöpfungsmythen, von einer heilen Welt, wie sie früher mal war und später (wieder) mal sein soll.


Leider ist das wirklich nicht nur eine sehr grobe Beschreibung sondern auch nicht mehr aktuell. So wie Sie das beschreiben waren Linke und Rechte noch in den 80er Jahren, aber das hat sich gewaltig geändert.
Ich sage mal "Linksextreme" haben momentan überhaupt keine grosse Probleme mehr mit dem Kapitalismus, bzw. man sieht andere Feindbilder als wichtiger an. was komisch ist weil der Kapitalismus von 45 bis 2000 nie so ausgeprägt war wie er z.B. heute ist. Dafür sehen Linksextreme überall nur Faschisten und Rassismus, die kleinsten Nazikundgebungen ufern für Antifas teilweise zu Nazirevolutionen aus. Das geht teilweise so weit, dass man per Facebook und Twitter jagt auf vermeindliche Maulwürfe innerhalb der eigenen Reihen macht. Also die Gefahr des Kapitalismuses spielt eine immer geringere Rolle bei Linksextremisten, während Faschismus und/ oder Antisemitismus nun die Schwerpunkte sind.

Bei "Rechtsextremen" hat sich das Feindbild auch vollkommen gewandelt. Echte nach aussen hin erkennbare Rechtsextreme gibt es ohnehin kaum noch, die verstecken sich irgendwo in Vorpommern um ihre letzten Führer herum. Die neuen Rechten sind Leute die mit anscheinend "vernüftigeneren" Agumenten daherkommen und sich ausdrücklich gegen den NS Staat aussprechen, jedoch als eine Art Volksaufklärer tarnen, indem man vor den Gefahren der Globalisierung des Kapitalismus warnt und überall nur Verschwörungen der US und Bundesregierung sieht. Also man muss nicht lange suchen, man findet die recht schnell bei Youtube, dort versuchen sie sowas wie die "Wahre Wahrheit" zu verkünden und öffenen jede Büchse um dort den Geruch der Verschwörung zu riechen, sowas wie Chemtrails oder satanistische Rituale der US Präsidenten usw. Also kurz, neue Rechtsextreme konzentrieren sich nicht mehr offen auf Ausländer oder Juden usw, als Feindbild, sondern auf die Regierung und den Kapitalismus.

Eine andere Extremistengruppe sind mittlerweile die Neoliberalen, also die die wollen, dass alles so weiter läuft wie bisher. Die sehen wiedrrum nur Linksradikale und faule Leute die alles zersetzen möchten.

Also alle Lager haben irgendwie ihre Feindbilder gewechselt. Man kann nun umfassend sagen, der Extremist hat was gegen den Extremisten. Ich sehe Leute die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen als jemand mit wenig Lebenssinn und Motivation. Also man sucht sich Motivation von ausserhalb, weil man sozusagen keine eigene Familie hat, so will man in einer Gang sein, einer ersatzfamilie. So wie im Sport Fussballverein. Von dem her würde ich es auch so ähnlich sagen, dass Linke und rechte Probleme mit mehrere Meinungen haben und sich irgendwann mal auf eine versteifen. Teilweise kann ich das verstehen, weil es mir in der neuen medienlandschaft ähnlich geht. Schwarz-Weiss sehen war damals viel einfacher als heute diese vielen Farben zu unterscheiden.
Und wenn ich an eine Verschwörungstheorie glaube dann an die, dass diese Links-Rechts-Lager erhalten werden müssen um ein weitgehend uneiniges Volk zu haben, das sich mehr oder weniger selbst kontrolliert und kritisiert.

EDIT: Und übrigens, Linke, Rechte und Liberale haben eigentlich alle einen Ursprung, in der bürgerlichen Revolution (französischen Revolution). Ich finde diesen Fakt interessant.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Nanna » Fr 21. Mär 2014, 14:31

Jounk33 hat geschrieben:EDIT: Und übrigens, Linke, Rechte und Liberale haben eigentlich alle einen Ursprung, in der bürgerlichen Revolution (französischen Revolution). Ich finde diesen Fakt interessant.

Gute Beobachtung. Ich kann bei Gelegenheit mal etwas Tiefergehendes dazu sagen. Kurz auf den Punkt gebracht kann man sagen, dass die moderne Ideologie als solche durch die französische Revolution überhaupt erst in die Welt gekommen ist, weil die Jakobiner den rationalistischen Anspruch der Aufklärung so vollumfänglich umgesetzt haben, dass sämtliche Eschatologien der Religionen, die sich auf das Jenseits bezogen, ins Diesseits transferiert werden mussten (das Jenseits war als Heilsort ja abgeschafft). Seitdem ist die Menschheit vom Versuch getrieben, wortwörtlich das Paradies auf Erden zu schaffen mit Freiheit, Gleichheit, Wohlstand und Harmonie für alle (siehe Vollbreits Beitrag). Die ganzen Ideologien zielen darauf im Kern ab, diesen utopischen Zustand zu verwirklichen, der vor der frz. Revolution mittels der Religion einfach ins Leben nach dem Tod verlagert wurde.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Gandalf » Fr 21. Mär 2014, 20:34

Nanna hat geschrieben:
Gandalf hat geschrieben:war ja klar

Siehst du, genau das dachte ich mir auch! Deine Platte hab ich schon zehn Mal gehört, dass du überzeugt bist, genau zu wissen, wie alles ist und funktionieren muss, weiß ich auch - worüber ist dann noch zu reden?

Das frage ich mich auch: 'Du' hast ja (sachlich verfehlt) auf eine Aussage von mir geantwortet, ohne diese zu widerlegen!?
Ich nehme zur Kenntnis und verabschiede mich hier: Dir geht es einfach nur um's Reden innerhalb soziologischer Beliebigkeit und nicht um nachvollziehbare Argumente auf Basis physikalischer Größen und Beziehungen.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Mär 2014, 22:04

Jounk33 hat geschrieben:Leider ist das wirklich nicht nur eine sehr grobe Beschreibung sondern auch nicht mehr aktuell. So wie Sie das beschreiben waren Linke und Rechte noch in den 80er Jahren, aber das hat sich gewaltig geändert.
Ich sage mal "Linksextreme" haben momentan überhaupt keine grosse Probleme mehr mit dem Kapitalismus, bzw. man sieht andere Feindbilder als wichtiger an. was komisch ist weil der Kapitalismus von 45 bis 2000 nie so ausgeprägt war wie er z.B. heute ist. Dafür sehen Linksextreme überall nur Faschisten und Rassismus, die kleinsten Nazikundgebungen ufern für Antifas teilweise zu Nazirevolutionen aus. Das geht teilweise so weit, dass man per Facebook und Twitter jagt auf vermeindliche Maulwürfe innerhalb der eigenen Reihen macht. Also die Gefahr des Kapitalismuses spielt eine immer geringere Rolle bei Linksextremisten, während Faschismus und/ oder Antisemitismus nun die Schwerpunkte sind.

Ja, war ein bisschen holzschnittartig. Ist m.E. auch eine bunte Mischung aus Antifa, Antiamerikanismus, Antizionismus (wie der Antisemitismus verklärt dort heißt), Antikapitalismus, vor allem gegen die Polizei meistens in Form von Aktionen gegen Konzerne die die Umwelt schädigen, das ist eine Mischung aus alter Politik und modernem Gewaltevent.

Jounk33 hat geschrieben:Bei "Rechtsextremen" hat sich das Feindbild auch vollkommen gewandelt. Echte nach aussen hin erkennbare Rechtsextreme gibt es ohnehin kaum noch, die verstecken sich irgendwo in Vorpommern um ihre letzten Führer herum. Die neuen Rechten sind Leute die mit anscheinend "vernüftigeneren" Agumenten daherkommen und sich ausdrücklich gegen den NS Staat aussprechen, jedoch als eine Art Volksaufklärer tarnen, indem man vor den Gefahren der Globalisierung des Kapitalismus warnt und überall nur Verschwörungen der US und Bundesregierung sieht.
Würde ich auch so sehen, sie geben die Kümmerer und sind auch interessiert an Gewaltevents, hier so ein bisschen verwoben mit der Hooliganszene und eben getarnter, teilweise bewusst in der Aufmachung des schwarzes Blocks. Aber die „guten alten Faschos“ gibt es auch noch, nicht nur im Osten, teilweise verbreiten die auf der Straße Angst und Schrecken, dort, wo sich die Polizei zurückzieht, in den brachliegenden Regionen in NRW (Sauerland und ländliche Bezirke). Formen des Antikapitalismus gab es auch früher schon, in der Verherrlichung des deutschen Arbeiters, der brav seine Pflicht tut.

Jounk33 hat geschrieben:Also man muss nicht lange suchen, man findet die recht schnell bei Youtube, dort versuchen sie sowas wie die "Wahre Wahrheit" zu verkünden und öffnen jede Büchse um dort den Geruch der Verschwörung zu riechen, sowas wie Chemtrails oder satanistische Rituale der US Präsidenten usw. Also kurz, neue Rechtsextreme konzentrieren sich nicht mehr offen auf Ausländer oder Juden usw, als Feindbild, sondern auf die Regierung und den Kapitalismus.
Kommt drauf an, wen man meint. Viele Rechte, wenn sie dumm sind, sind erschreckend ideologie- und politikfrei, aber wahr ist auch, dass man es sich nicht mehr so leicht machen kann, die Rechten als gröhlende Proleten abzutun, was allerdings schon länger falsch war, ich glaube, auch die sehr recht Szene war da immer schon breiter aufgestellt, man stellte sie nur gerne anders da.

Jounk33 hat geschrieben:Eine andere Extremistengruppe sind mittlerweile die Neoliberalen, also die die wollen, dass alles so weiter läuft wie bisher. Die sehen wiederrum nur Linksradikale und faule Leute die alles zersetzen möchten.
Das ist doch auch nicht so wahnsinnig neu. Aber ich würde die noch moderater beurteilen, als die Extremisten des extremen Spektrums.

Jounk33 hat geschrieben:Also alle Lager haben irgendwie ihre Feindbilder gewechselt.
Soweit würde ich dann doch nicht gehen, der Markenkern bleibt doch erhalten, wie man ja an Koalitionen sieht, die immernoch das Weltjudentum als den Feind sehen, da ist der Antikapitalismus nur über Bande gespielt.

Jounk33 hat geschrieben:Man kann nun umfassend sagen, der Extremist hat was gegen den Extremisten. Ich sehe Leute die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen als jemand mit wenig Lebenssinn und Motivation.
Weiß ich nicht, ist vielleicht auch zu einfach. Unter denen, die Gewalt als Event sehen, gibt es durchaus auch junge, smarte Anwälte und zwischen Hools und Rechten gibt es Vernetzungen, wenngleich beide Gruppen nicht identisch sind.

Jounk33 hat geschrieben:Also man sucht sich Motivation von ausserhalb, weil man sozusagen keine eigene Familie hat, so will man in einer Gang sein, einer ersatzfamilie. So wie im Sport Fussballverein.
Na, das finde ich zu schablonenhaft, obwohl ich zugegeben da auch nicht gut vorgelegt habe.

Jounk33 hat geschrieben:Von dem her würde ich es auch so ähnlich sagen, dass Linke und rechte Probleme mit mehrere Meinungen haben und sich irgendwann mal auf eine versteifen. Teilweise kann ich das verstehen, weil es mir in der neuen medienlandschaft ähnlich geht. Schwarz-Weiss sehen war damals viel einfacher als heute diese vielen Farben zu unterscheiden.
Ja, das ist es, was ich sagen will, das Eindeutigkeit ein attraktives Angebot ist. Und das für weitaus breitere Schichten als man gewöhnlich meint.
Und nachvollziehen kann ich das auch. Denn eindeutige Rollen und Gruppen sind auch solche in denen man sich auch noch beweisen kann, ein „Held“ sein kann. Es ist ja irgendwie auch ein wenig fade, den braven Lebensmanager zu geben, der nicht weiter auffällt.
.
Jounk33 hat geschrieben:Und wenn ich an eine Verschwörungstheorie glaube dann an die, dass diese Links-Rechts-Lager erhalten werden müssen um ein weitgehend uneiniges Volk zu haben, das sich mehr oder weniger selbst kontrolliert und kritisiert.
Ich glaub nicht so recht dran. Wer inszeniert das denn?
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Mär 2014, 22:09

Gandalf hat geschrieben:Ich nehme zur Kenntnis und verabschiede mich hier: Dir geht es einfach nur um's Reden innerhalb soziologischer Beliebigkeit und nicht um nachvollziehbare Argumente auf Basis physikalischer Größen und Beziehungen.


Dass die Popperfans ihren Popper so schlecht kennen:
Karl Popper hat geschrieben:„Da ist zum Beispiel der verfehlte und missverständliche methodologische Naturalismus oder Szientismus, der verlangt, dass die Sozialwissenschaftten endlich von den Naturwissenschaften lernen, was wissenschaftliche Methode ist. Dieser verfehlte Naturalismus stellt Forderungen auf wie: Beginne mit Beobachtungen und Messungen; das heißt zum Beispiel, mit statistischen Erhebungen; schreite dann induktiv zu Verallgemeinerungen vor und zur Theorienbildung. Auf diese Weise wirst Du dem Ideal der wissenschaftlichen Objektivität näher kommen, sowie das in den Sozialwissenschaften überhaupt möglich ist. Dabei musst Du Dir darüber klar sein, das in allen Sozialwissenschaften die Objektivität weit schwieriger zu erreichen ist (falls sie überhaupt zu erreichen ist) als in den Naturwissenschaften; denn Objektivität bedeutet Wertfreiheit, und der Sozialwissenschaftler kann sich nur in den seltensten Fällen von den Wertungen seiner eigenen Gesellschaftsschicht soweit emanzipieren, um auch nur einigermaßen zur Wertfreiheit und Objektivität vorzudringen.
Meiner Meinung nach ist jeder dieser Sätze, die ich hier diesem verfehlten Naturalismus zugeschrieben habe, grundfalsch und auf ein Missverständnis der naturwissenschaftlichen Methode begründet, ja geradezu auch einen Mythus – einen leider weit verbreiteten und einflussreichen Mythus von induktiven Charakter der naturwissenschaftlichen Methode und vom Charakter der naturwissenschaftlichen Objektivität.
...
[...] Es ist gänzlich verfehlt anzunehmen, dass die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers anhängt. Und es ist gänzlich verfehlt zu glauben, dass der Naturwissenschaftler objektiver ist als der Sozialwissenschaftler. Der Naturwissenschaftler ist ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen, und er ist leider – wenn er nicht zu den wenigen gehört, die dauernd neue Ideen produzieren – gewöhnlich äußerst einseitig und parteiisch für seine eigenen Ideen eingenommen.“
(K.R.Popper, Logik der Sozialwissenschaft (1962) Aus: Der Positivismusstreit der deutschen Soziologie, 1969 Luchterhand S.103-123; von mir zitiert aus: Wissenschaftstheorie, Aschendorff, 1975, S.81-84)
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Vollbreit
 
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Jounk33 » Sa 22. Mär 2014, 00:07

Vollbreit,
Vollbreit hat geschrieben:Ich glaub nicht so recht dran. Wer inszeniert das denn?

Keine natürliche Personen. Eher Statistiken.
*siehe Link unten

Nanna,
Ja bin ich auch von überzeugt. Also vor der bürgerlichen Revolution war Glück und Unglück allein Gottes Wille, bzw. seiner Vertreter in Form von Lehnsherr und Klerus. Danach erkannte man, Oh verdammt, jetzt bin ich ja für mein eigenes Leben verantwortlich. Das bewirkte mit der Zeit eine starke Überbewertung des Lebens an sich und einen viel höheren Stellenwert des gesunden und wohlständigen eigenen Körpers.
Man kann es auch anders formulieren und zwar, heute wird Macht über das Leben ausgeübt, damals über den Tod. Will heissen, man kann heute jemanden oder ganze Gruppen beherrschen indem man mit schlechterem Leben droht, oder gar ein Leben nicht als vollwertig anerkennt. Während man früher mit einem schlechten leben nach dem Tod drohen konnte kann man heute mit einem schlechten Leben vor dem Tod drohen. Wenn man z.B. auf die ganz alltägliche Frage "Wie geht's" mit "schlecht" antwortet, so impliziert das allein schon die Vermutung, dass mit mir was nicht stimmen könnte, ich was falsch gemacht haben könnte, weil der gesunde und aktive Körper zur Norm geworden ist und der alte und kranke Körper und Geist entweder geregelte Kontrolle und Hilfe braucht oder sozial unsichtbar zu sein hat.
Auch Kriege und Strategien änderten sich vollständig, wenn es vorher lediglich darum ging das Recht des Lehnsherr durchzusetzen, geht es seit der bürgerlichen Revolution um das Recht eines Volkes, also um die Gesamtheit vieler Individualkörper. Also es kann so zu Motivationen kommen in denen versucht wird das eigene Leben zu erhöhen indem anderes erniedrigt oder ausgelöscht wird. (Rassismus, politische Idologie) Das war eigentlich vorher nur das Recht des Lehnsherren, nun ist man als Individualkörper ja Teil einer Bevölkerung.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Foucaults Biomacht-Theorien verweisen, die ich wirklich recht interessant finde und vieles an unserer heutigen Gesellschaft erklären könnte.
http://www.momo-berlin.de/Foucault_Vorl ... 03_76.html
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Nanna » Sa 22. Mär 2014, 01:12

Gandalf hat geschrieben:Das frage ich mich auch: 'Du' hast ja (sachlich verfehlt) auf eine Aussage von mir geantwortet, ohne diese zu widerlegen!?

Ich kann dir nicht vermitteln, was ich meine und ich kann dir auch nicht vermitteln, dass ich bereits seit geraumer Zeit dein Weltbild nachvollzogen habe und nicht dasselbe zum fünften Mal hören muss. Insofern wirst du weiterhin überzeugt sein, dass ich dich nicht verstehe und ich, dass du mich nicht verstehst. Also: worüber reden?

Gandalf hat geschrieben:Ich nehme zur Kenntnis und verabschiede mich hier: Dir geht es einfach nur um's Reden innerhalb soziologischer Beliebigkeit und nicht um nachvollziehbare Argumente auf Basis physikalischer Größen und Beziehungen.

Womit 1a belegt wäre, dass du wirklich keinen Schimmer davon hast, worüber ich eigentlich rede. Naja, mach's gut!

@Jounk33:
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass meine Focault-Kenntnisse sich sehr in Grenzen halten. Ich versuche, es mir in den nächsten Tagen mal zu Gemüte zu führen.
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Re: Gleichheitssucht und Freiheitsangst

Beitragvon Vollbreit » Sa 22. Mär 2014, 10:55

@ Jounk33:

Danke, für den interessanten link. Ich greife, gut bei der Hälfte, einen Punkt heraus: die Norm.
Wir können nicht so recht mit ihr, keiner liebt die wirklich.

Doch auf der anderen Seite lautet ja eine meiner Subbotschaften, dass offenbar noch viel weniger Menschen ohne sie können.
Exemplarisch kann man es an antitheistischen Bewegungen sehen, die bemüht sind die eine Norm in den Wind zu schießen um sogleich andere – freilich von ihnen unerkannte und oft nicht weniger rigide - aufzustellen: wo Gottes Wille dereinst die höchste Instanz war, der man nicht zu widersprechen wagte, da nimmt heute die Wissenschaft diese Position ein.
Wer würde es wagen, wenn er nicht demonstrieren will, dass er nicht recht bei Verstand ist, der Wissenschaft, dem was objektiv gilt zu widersprechen?

Zum Glück gibt immer mehr, die sich nicht von plumpen szientistischen Mythen abspeisen lassen. Aber die Frage warum wir es nicht können, die ist die spannendere. Warum können wir von der absolut legitimierbaren Norm nicht lassen, warum diese Phobie gegen das was oft zu schnell Relativismus genannt wird, die kurioserweise das Zeug hat den deutschen Papst mit dem englischen Atheisten-Papst zu verbinden.

Wir verlieren den Ansatzpunkt, jenen ersten Punkt, der uns so wichtig ist.
Yuval Noah Harari hat geschrieben:Aber wie bringt man Menschen dazu, an erfundene Ordnungen wie das Christentum, die Demokratie oder den Kapitalismus zu glauben? Die oberste Regel ist: Sie dürfen nie zugeben, dass diese Ordnung nur ein Fantasieprodukt ist. Sie müssen immer darauf bestehen, dass die Ordnung, auf die sich die Gesellschaft stützt, eine objektive Wirklichkeit ist, die von Göttern geschaffen wurde oder den Gesetzen der Natur entspricht. Die Menschen sind nicht deshalb ungleich, weil Hammurabi das sagt, sondern weil Enlil und Marduk die Dinge so geordnet haben. Die Menschen sind nicht deshalb gleich, weil die Väter der amerikanischen Verfassung das so wollten, sondern weil Gott sie so erschaffen hat. Die Marktwirtschaft ist nicht deshalb das beste Wirtschaftssystem, weil Adam Smith das behauptet, sondern weil sie den Gesetzen der Natur entspricht.“
(Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, DVA 2013, S.143f)


Dabei gibt diese Norm uns alle Freiheiten, bzw. die Möglichkeit, uns unsere Fesseln selbst zu schmieden.
Die Natur legt uns überhaupt keine Regeln auf und wo sie uns begrenzt sind wir zumeist einverstanden, gegen das Atmen müssen oder die Schwerkraft hat nie jemand ernsthaft protestiert.
Mit der Ansicht, dass eigentlich alle unsere Regeln auf purer Willkür fußen (wobei zu erörtern wäre, ob es wirklich Willkür ist, ich glaube nicht), können wir schlecht umgehen, weshalb wir fast verzweifelt nach einem Ansatzpunkt der Regeln – von uns erdacht, für uns gemacht – suchen, der irgendwie doch nicht von uns gemacht ist. Was wären wir derzeit glücklich, wenn wir unsere Menschenrechte aus der Physik ableiten könnten, dann, so glauben Szientisten, wären sie mehr wert. Der eigentliche Witz ist, dass es Menschen gibt, die lieber bereit sind auf die Schwerkraft oder die Gene der Buntbarsche zu hören, als sich selbst zu vertrauen.
Eine weitere Geschichte der Freiheitsangst.
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