stine hat geschrieben:Deswegen schreib und lese ich hier, damit Menschen, die Ahnung haben mir etwas beibringen. Leider funktioniert das oft nur so, dass man sich erst niederknüppeln lassen muss, weil man zu bestimmten Themen aufgrund der gesetzten Schalter im Gehirn gerne mal missverstanden wird.
Um solche Missverständnisse zu vermeiden, schreib doch einfach nicht, dass etwas "wissenschaftlich gesehen" so oder so ist, sondern frag nach oder sag, welche Wissenschaft was genau meint, da gibt es durchaus Unterschiede.
Um mal versuchsweise darzustellen, warum es eigentlich zwischen (Natur-)Wissenschaft und (formaler, Sozial- und Geistes-)Wissenschaft zu unterschiedlichen Sichtweisen kommt:
Grob gesagt ist das Weltbild hinter den Naturwissenschaften der Naturalismus. Viele Naturalisten sind Reduktionisten. Die Idee des Reduktionismus lautet:
Verstehe ich alle Einzelteile, dann habe ich auch das Ganze verstanden.Das hat den Vorteil, dass man sich kein neues Auto kaufen muss, wenn die Zündkerzen defekt sind, man tauscht sie einfach aus und das Auto fährt als wäre nichts gewesen. Praktisch kann ich jedes einzelne Teil des Autos einmal austauschen und das Ding würde klaglos fahren.
Die Biologie ist selbst ein breites Feld, in der Disziplin Molekularbiologie oder synthetische Biologie aber reduktionistisch. Heißt, die ominöse Eigenschaft Leben (die Biologen bis heute noch nicht übereinstimmend definiert haben) ist demzufolge nicht mehr als die Summe ihrer Teile, sondern, kennt man die richtigen Teile, kann man Leben erzeugen. Der Erfolg gibt den Biologen recht und so weit ist das alles formal recht unkompliziert.
Das Weltbild einiger formaler, Sozial- und Geisteswissenschaften ist wesentlich holistisch. Holismus ist ein problematisches Wort, weil viele Naturalisten dabei sowas wie Metaphysik und Geisterglaube assoziieren.
Holismus meint aber einfach, dass die Kenntniss des „Ganzen“, der Kontextes, also „mehr“ das Verständnis vergrößert, nicht der Blick auf immer kleinere Einheiten. Einfaches Beispiel: „Gut, so machen wir es.“ Der Satz ist an sich zu verstehen. Es scheint, dass sich zwei Leute abgesprochen haben und einig sind. Worüber wissen wir nicht. Wir erfahren auch nicht mehr, wenn wir nun den Satz in einzelne Wörter zerlegen und versuchen deren Bedeutung genauer zu erfassen und wenn man das Wort dann in seine Buchstaben und die in ihre Bestandteile zerlegt, versteht man immer weniger und der Sinn geht flöten. Um mehr zu erfahren, brauchen wir den Kontext. Wenn der Satz davor lautet: „Dann fahren wir beide mit dem Taxi.“, wissen wir schon mehr und je mehr Informationen wir bekommen, umso genauer unsere Kenntnisse. Das bedeutet Holismus.
Sprache zu erfassen ist immer ein holistischer Akt. Das Wort bekommt seine Bedeutung erst im Satz und der im Text. Eine Naturwissenschaft zu verstehen ist ebenfalls ein holistischer Akt. Wenn ich irgendwas mit einem Gerät messe, muss ich wissen, was ich tue, was ich gemessen habe. Die Messung stützt oder widerlegt evtl. eine Theorie, die jemand aufgestellt hat. Die exakteste Messreihe bringt mir nichts, wenn ich nicht verstehe, in welchen Kontext sie eingebettet ist und ob die Daten die Theorie nun tendenziell stützen oder widerlegen. Eine Theorie zu begreifen ist ebenfalls ein holistischer Akt. Die Evolutionstheorie versteht man nicht, indem man abzählt, wieviel „e“ in dem Wort vorkommen, sondern wenn man das Konzept versteht und sieht, wo und wie es sich auswirkt.
Wissenschaft zu betreiben und zu verstehen ist oftmals beides. Ein reduktionistisches Spiel, wenn man z.B. eine Zelle genauer auf die Funktion ihrer Organellen untersucht und ein holistisches Spiel, wenn ich erkennen und erklären muss, was meine Entdeckung bedeutet. Wie verändert bspw. die Entdeckung, dass man ohne das Konzept einer „Lebenskraft“ auskommt, unseren Blick auf die Welt und damit unsere bisherigen Weltbilder? Wie verändert die Entdeckung der Selbstorganisation unseren Blick auf die Notwendigkeit eiens Schöpfers?
In dem Moment, wo ich reduktionistisch arbeite, betrachte ich dieWelt durch eine bestimmte Brille, nämlich die, dass alle komplexen Einheiten durch die Kenntnis ihrer Bestandteile ausreichend zu beschrieben und besser zu verstehen sind. Bei Autos und in der Biologie der Zelle ist das richtig, für das verstehen von Texten und Theorien ist es nicht richtig.
Wenn bspw. so ein Klassiker wie „Die Hirnforschung hat beweisen, dass ...“ kommt, muss man schauen, ob intern, im Rahmen der Neurobiologie, richtig gearbeitet wurde, z.B. was die Ergebnisse tatsächlich besagen. Dann kann man aber noch schauen, ob die Schlüsse aus Theorien tatsächlich so sind, wie dargestellt. Hier steht die Neurobiologie in Konkurrenz mit anderen Wissenschaften und die Bedingungen hier sind nicht, ob richtig gerechnet und gemessen wurde, sondern, ob man sagen kann, dass, wenn man z.B. kein neurobiologisches Korrelat des Ichs findet, das dann automatisch heißt, dass es kein Ich gibt.
Einen Stapel bunter Bilder hinzuknallen und zu sagen: „Da, schau, nirgendwo ein Ich zu sehen“, reicht das bereits? Warum sollte ein Ich irgendwo im Hirn „leuchten“? Was sagt die Philosophie dazu, die Juristerei, die Psychologie? Vielleicht ist das Ich-Konzept der Neurolobiologie allen anderen vorzuziehen, aber dann muss man begründen, warum das so sein soll. Vielleicht spielt es nur eine Rollen neben anderen, dann muss man schauen, wie es gewichtet wird und auch das muss man begründen. Das heißt hier vergleicht man Theorien mit einander, das findet nicht zu den Bedingungen des Redukltionismus statt, sondern zu denen des Holismus, weil man größere Einheiten miteinander in Beziehung setzen muss. Das Ichkonzept der Neurobiologe, mit dem der Philosophie, mit dem der Psychologie usw.
Schon die vergleichende Verhaltensforschung, Ethologie, ein anderes Teilgebiet der Biologie arbeitet ja viel holistischer, wobei es natürlich hier, wie überall immer um Schwerpunkte geht. Wenn ich das Verhalten von Gänsen beobachte, kann ich das beschreiben, bis ich grün werden, früher oder später werde ich meine Beobachtungen deuten müssen, was wiederum nur mit Blick auf eine Gesamtheit Sinn ergibt. Dass ein Wolf Demutgesten zeigt (etwas, was Menschen als solche interpretieren), kann man einerseits weiter in Einzelheiten zerlegen: Kopfhaltung, Ohrenstellung, die Art zu Gehen, Schweifhaltung, zu bellen, zu reagieren, Nackenfell ... doch erst die Gesamttheorie, dass z.B. das Rudel optimal funktionieren soll und das durch eine dynamische Rangordnung hergestellt werden kann, kann das Verhalten erhellen.
Und natürlich konkurrieren auch hier die Theorien, wem das Verhalten nun nutzt und wie es zu erklären ist und hier konkurrieren mathematische Modelle mit Beobachtungen, der Frage ob Tierverhalten eher als Art oder Individualverhalten gedeutet werden kann und eine Menge anderer Fragen.
So als Rückmeldung für mich: Hilft Dir das irgendwie, oder nicht?