LE MONDE diplomatique: Irdische Metaphysik

LE MONDE diplomatique: Irdische Metaphysik

Beitragvon Sisyphos » Sa 9. Jun 2007, 13:59

Irdische Metaphysik
von Mathias Greffrath (8.6.2007)

http://www.monde-diplomatique.de/pm/2007/06/08.mondeText1.artikel,a0017.idx,2

Die Ursache des Klimawandels ist unser "mangelnder Glaube an Gott". Sagt Kardinal Meisner. Die Theorie ist originell; eine andere besagt, dass die Menschen sich in Krisenzeiten gern in Irrationalismen flüchten. Und so haben denn Astrologen, Kristallschamanen, Wahrsager und Gurus Konjunktur.

Ebenso wie der Feuilleton-Katholizismus: Der Spiegel attackierte jüngst Wissenschaftler und Philosophen, die gegen die Restauration der Religion auf dem ungeschmälerten Welterklärungsmonopol der Wissenschaft bestehen. Gehirnforscher zerstörten den "Raum des Geheimnisses, als wäre unsere Zeit nicht schon an sich ausgenüchtert genug", Biologen wie Richard Dawkins "machen etwas kaputt", raubten uns die metaphysische Verankerung des Menschen, ohne die, so der Papst und Bischof Huber, die Menschheit fatal enden werde.

Das metaphysische Gestammele liegt schräg neben einer anspruchsvollen Wahrheit: Will die Weltgesellschaft die Probleme des Lebens und Überlebens lösen, kann dies mit Wissen und Wollen der Menschen geschehen - und mit einer gefühlten Gewissheit, dass wir Teil eines Ganzen sind, das lange vor uns angefangen hat und mit uns nicht enden soll. Wir brauchen "so etwas wie eine neue Metaphysik", schreibt der englische Schriftsteller Ian McEwan nach einer Expedition zu abbrechenden Eisbergen und degenerierenden Eisbären. Die Religionen könnten das nicht sein. "Sie mögen dem einzelnen Menschen Seelenfrieden geben. Aber sie können uns nicht die Welt erklären." Und gegen die Restaurationstheologie, die dem wissenschaftlichen Denken die Kraft zur Begründung eines Ethos abspricht, setzt er das Credo der Neuzeit: "Es gehört zu den Faszinosa unserer Zeit, intellektuell wie emotional, dass wir in unserer Wissenschaft so etwas wie eine neue Metaphysik haben. Freude, Ehrfurcht, Mitleid, ozeanische Gefühle, all das gibt es auch ohne Religion … Wir haben eine Schöpfungsgeschichte, die unendlich viel komplexer ist als die christliche, die islamische, und die überdies noch den Vorzug hat, wahr zu sein."

[...]

Parlamente der Wissensgesellschaft dürften keinen Gesetzentwurf diskutieren, unter dem steht: Alternativen: keine. Und das europäische Credo heißt nicht, wie der Papst meint, "im Christentum ist Aufklärung Religion geworden", sondern: Aufklärung ist das wirklich gewordene, irdische, legitime Erbe der Religionen.


Ein schöner Text! :up:
Sisyphos
 
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Beitragvon Max » Sa 9. Jun 2007, 15:34

Ich weiß nicht, ob der Kardinal Meisner das FSM kennt. Die Pastafari führen nämlich die Klimaerwährmung auf einen Piratenmangel zurück.
Max
 
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Beitragvon Joe » Sa 9. Jun 2007, 15:54

Vielleicht kennt er es! In früheren Jahrhunderten, als in Europa die Menschen noch intensiver an Gott glaubten, gab es ja auch mehr Freibeuter! :lachtot:

Auch ich finde den obigen Text sehr schön.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Welt, sowie was sie im Innersten zusammenhält, finde ich viel ergreifender als es Religiosität je sein kann. Die Aufklärung hat mehr zu Menschenrechte und sozialem Gewissen beigetragen, als die Religionen in vielen Jahrtausenden.
Joe
 
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