molosovsky hat geschrieben:Die Metaphysik, die oftmals respektierte Großphantastik vom ollen Aristoteles.
Die zeitgenössischen analytischen Metaphysiker, deren Texte ich lese, machen überhaupt nicht den Eindruck, als wären sie "Großphantasten". Mit dem Großen und Ganzen beschäftigen sie sich allerdings sehr wohl — aber genauso mit diffizilen Einzelfragen.
molosovsky hat geschrieben:Nun ist es meiner Meinung nach durchaus zulässig metaphysische Spekulationen zu betreiben, jedoch ziemlich gewagt, von metaphysischen Erkentnissen oder gar Wahrheiten zu sprechen.
Einer der bedeutendsten (wenn nicht der bedeutendste) Metaphysiker des 20. Jh.s, der Amerikaner David Lewis, ist sich dessen voll bewusst. Für die Metaphysik wie für die Philosophie allgemein gilt:
"Philosophy is as shaky as can be."(Lewis, David. "Mathematics is Megethology." In
Papers in Philosophical Logic, Vol. 1, 203-230. Cambridge: Cambridge University Press, 1998. p. 218)
Ich spreche nicht von metaphysischen Erkenntnissen oder metaphysischem Wissen, sondern nur von metaphysischen
Einsichten. Doch selbst bei dieser Ausdrucksweise ist Folgendes zu beachten:
"Our 'intuitions' are simply opinions; our philosophical theories are the same. Some are commonsensical, some are sophisticated; some are particular, some are general, some are more firmly held, some less. But they are all opinions, and a reasonable goal for a philosopher is to bring them into equilibrium. Our common task is to find out what equilibria there are that can withstand examination, but it remains for each of us to come to rest at one or another of them. If we lose our moorings in everyday common sense, our fault is not that we ignore part of our evidence. Rather, the trouble is that we settle for a very inadequate equilibrium. If our official theories disagree with what we cannot help thinking outside the philosophy room, then no real equilibrium has been reached. Unless we are doubleplusgood doublethinkers, it will not last. And it should not last, for it is safe to say that in such a case we will believe a great deal that is false.
Once the menu of well-worked-out theories is before us, philosophy is a matter of opinion. Is this to say that there is no truth to be had? Or that the truth is of our own making, and different ones of us can make it differently? Not at all. If you say flatly that there is no god, and I say that there are countless gods but none of them are our worldmates, then it may be that neither of us is making any mistake of method. We may each be bringing our opinions to equilibrium in the most careful possible way, taking account of all the arguments, distinctions, and counterexamples. But one of us, at least, is making a mistake of fact. Which one is wrong depends on what there is.(Lewis, David.
Philosophical Papers. Vol. 1. New York: Oxford University Press, 1983. x+xi)
Dass philosophische/metaphysische Theorien im Grunde Meinungen darstellen, bedeutet keineswegs, dass alle gleichwertig sind. Denn es gibt gute, d.i. argumentativ gut begründete, und schlechte, d.i. argumentativ schlecht oder gar nicht begründete. Doch selbst wenn die schlechten Theorien aussortiert sind, bleiben immer noch mehrere konkurrierende übrig, die gleichermaßen bestens ausgeklügelt sind, und bezüglich deren deshalb keine objektive Entscheidung mehr getroffen werden kann. Die besten Theorien, die sich intern sowie sowohl mit dem Common Sense als auch mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen im Gleichgewicht befinden, stehen damit gleichberechtigt nebeneinander. Wir können also praktisch nicht umhin, nolens volens mit einem Meinungspluralismus in der Philosophie und insbesondere in der Metaphysik zu leben.
"Wenn die Angebotsliste der wohlausgeklügelten Theorien einmal vor uns liegt, wird die Philosophie zur Meinungssache." (David Lewis)
Lewis war übrigens Atheist:
"I think of this world we live in as entirely godless."(Lewis, David.
Philosophical Papers. Vol. 1. New York: Oxford University Press, 1983. xi, fn. 4)
molosovsky hat geschrieben:Strenggenommen kann aber ein Naturalist angesichts des noch Unbekannten nur ins wittgenstein’sche Schweigen verfallen, und das halte ich für fatal, denn über das große Unbekannte zu sinnieren ganz den anderen zu überlassen erscheint mir nicht als gute Taktik.
Ich mutmaße, dass der Mensch aufgrund seines sehr hohen geistigen Entwicklungsstandes eine angeborene Neigung zum Philosophieren und damit auch zum transempirischen Spekulieren hat.
Die analytische Philosophie hat ihre antimetaphysische Phase längst überwunden. Man verdammt die Metaphysik nicht mehr als ein Unding, ein Ding der Unmöglichkeit (man verneint allerdings spätestens seit Kant die Möglichkeit einer
wissenschaftlichen M.), sondern man widmet sich ihr wieder wie zu den Zeiten der alten Griechen — mit dem Unterschied, dass heutzutage an die metaphysischen Themen wesentlich logischer und analytischer herangegangen wird, und überdies die Erkenntnisse der Wissenschaften dabei stets in Betracht gezogen werden.
Es geht also gar nicht mehr um "Metaphysik: Ja oder Nein?", sondern um "Gute Metaphysik vs. schlechte Metaphysik".
molosovsky hat geschrieben:Was halt reinspielt in jegliche Form von Metaphysik (zu der ich Religion auch zähle) ist eben Wunschdenken.
Dass die metaphysischen Präferenzen einer Person nicht nur rein theoretischer Natur sind, scheint wahrscheinlich.
Emotionale Faktoren spielen dabei wohl eine mehr oder minder große, mehr oder minder bewusste Rolle, was nicht heißen soll, dass es in metaphysischen Angelegenheiten für die Ratio generell unmöglich ist, die Oberhand zu behalten.
molosovsky hat geschrieben:Als atheistischer Phantast hab ich durchaus Respekt und meinen Gefallen an metaphysischen Spekulationen, aber ich setzte mich in vielen Debatten in die Nesseln, wenn ich gestehe, daß Metaphysik eben hauptsächlich ästhetische Reize für mich bietet.
Da kommt mir ein schönes Zitat in den Sinn:
"Hatte Diotavelli die Arithmetik in Religion verwandelt oder die Religion in Arithmetik? Vielleicht beides. Oder vielleicht war er nur ein Atheist, der mit der Ekstase eines höchsten Himmels flirtete."(Umberto Eco, zitiert in J. D. Barrow: "Ein Himmel voller Zahlen: Auf den Spuren mathematischer Wahrheit")
molosovsky hat geschrieben:Zuletzt: Der Begriff Metaphysik stammt zwar von Aristoteles (besser gesagt: seinen Herausgebern), aber "Schuld" an diesem "Ideenkrieg um das Sein" ist sein Mentor Platon, dieser grimmige Fäntäsy-Mystiker.
Platons Haupthinterlassenschaft ist die Zwei-Welten-Theorie, die besagt, dass es einen
mundus sensibilis, d.i. eine sinnliche erfahrbare Welt, und einen
mundus intelligibilis, d.i. eine übersinnliche, nur der reinen Vernunft zugängliche Welt, gibt.
molosovsky hat geschrieben:Aber es gehört nun mal zum Naturell des Menschen, sich besonders heftig zu versteifen und reinzusteigern, desto schlimmer, umso weniger gesichert und zugänglich das Gebiet ist, um das gestritten wird. Immerhin: wer würde nicht gerne als erster das Unbekannte erforschen, ausdeuten, zähmen und nutzbar machen?
Eines meiner Lieblingszitate von Hegel:
"Die natürlichen Dinge sind beschränkt, und nur natürliche Dinge sind sie, insofern sie nichts von ihrer allgemeinen Schranke wissen, insofern ihre Bestimmtheit nur eine Schranke für uns ist, nicht für sie. Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist."
(Hegel: "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", §60)
Man könnte hier vom "Paradox der Transzendenz" sprechen:
Wer sich der Grenzen seines Verstandes bewusst ist, der hat sie damit überschritten.
Einerseits können wir unsere Verstandesgrenzen qua Grenzen nicht überschreiten, und andererseits können wir es doch!