tertz hat geschrieben:Wie unterscheidet der Arzt wahnhafte Ideen von zutreffenden Ideen?
Er kann es nicht.
Denn auch er weiß nicht, was zutrifft. Er glaubt es nur zu wissen aufgrund gewisser Erfahrungen, die sich auf eine Reihe von Postulaten stützen, und weil es seine verdammte Pflicht ist, gesellschaftlich störende Außenseiter aus dem Weg zu diagnostizieren.
tertz hat geschrieben:Wie überall im Leben. Durch Beweisbarkeit des Standpunkts.
Schön wärs. Aber der Psychiater kann seinen Standpunkt gar nicht beweisen. Er kann nur sich selber und seinen Berufskollegen vermitteln, dass sich sein Standpunkt mit den Maßstäben im Einklang befindet, die er sich selbst zugrunde gelegt hat (aufgrund gewisser Informationen - genauso wie es der Schizophrene in Bezug auf sich selbst vermag). Der einzige Unterschied ist der, dass der Schizophrene Leute belästigt, während Psychiater angepasst genug ist, um nicht als störend wahrgenommen zu werden.
Dies ist übrigens auch der Grund, warum schon die biblischen Unheilspropheten um 600 v.Chr. als geisteskrank angesehen wurden. Sie bildeten einen Störfaktor in der Gesellschaft.
Zum Glück gibt die Neurophysiologie der Psychiatrie ein Werkzeug an die Hand, schizophrene Hirnmuster zu messen, so dass man einen Zusammenhang herstellen kann zwischen bestimmten Vorstellungen und dem damit verbundenen, auffälligen Verhalten und einer (vermutlich) krankhaften Veränderung der Hirnverschaltungen.
tertz hat geschrieben:(Oder durch erhalten gebliebene Fähigkeit zum Standpunktwechsel. Diagnostisches Kriterium echter Wahnüberzeugungen: sie sind unkorrigierbar trotz Vorliegen gegenteiliger Beweise. Die Diagnose "Wahn" ist nicht haltbar, wenn der Patient so etwas sagt wie "Aber kann auch sein, daß ich mich irre.")
Das Beispiel mit dem Schizophrenen ist gut, weil man daran deutlich machen kann, dass es die 'vorliegenden Beweise' gar nicht gibt.
Was kann denn der Psychiater beweisen? Alle seine Beweise bewegen sich doch innerhalb
seiner Wahrnehmungsdimension, die auch nur auf einer Reihe unbeweisbarer Prämissen beruht.
Ebenso besitzt der Schizophrene seine Wahrnehmungsdimension, die in sich völlig logisch aufgebaut ist, und die ihm ständig neue Belege für die Richtigkeit seiner Überzeugungen liefert und dafür, dass die anderen spinnen.
Was Du von dem Schizophrenen effektiv forderst, ist nicht eine Korrektur der eigenen Überzeugung aufgrund vorliegender Beweise, sondern eine Bekehrung, eine Form von Missionierung der brutalen Art: Denn der Patient soll seine Wahrnehmungsdimension aufgeben und die des Psychiaters annehmen, obwohl der Psychiater ihn von der Unrichtigkeit seiner Vorstellungen nicht überzeugen kann, ja, wie Du anfangs betontest, sich nicht einmal in die Logik des Schizophrenen hineindeken kann oder muss.
Und wenn dieser "gegenteilige Beweis" schon bei Schizophrenen nicht funktioniert, um wieviel weniger bei einfachen Gläubigen, die ganz normale Hirnmuster aufweisen!
tertz hat geschrieben:Beharrliches Festhalten an unbeweisbaren Standpunkten sind natürlich kein Fall für die Psychiatrie, solange sie sich auf religiöse Überzeugungen beschränken.
Beharrliches Festhalten an unbeweisbaren Standpunkten ist die Überlebensstrategie der Menschheit. Nur wenn es richtig teuer wird, leistet man es sich, Liebgewonnenes aufzugeben. Und dies gilt nirgendwo so sehr wie in der Wissenschaft.
Denn während der Glaube trotz seines umfassenden Anspruchs immer noch weiß, dass er ein Glaube ist, der von Menschen auch abgelehnt werden kann, weil es Gott so festlegte, widerspricht es den Prinzipien der Wissenschaft, sich nur auf Geglaubtes zu stützen, obwohl jeder Wissenschaftler genau das tut. Er verwendet wohl seinen Compi, um gewisse Vorgänge sehr präzise abzuschätzen, aber alle seine Berechnungen beruhen auf Prämissen, die selbst nicht bewiesen werden können, sondern einfach vorausgesetzt wurden: Axiome, Postulate, apriorische Vorfestlegungen.
tertz hat geschrieben:Robert Pirsig: "When one person suffers from delusion it's called insanity. When many people suffer from delusion it's called religion."
Ich habe den Pirsig eigentlich immer gemocht, aber dieser Satz ist echt Kappes:
Wahnhaft ist derjenige, der glaubt, andere, weil er sie nicht versteht, als wahnhaft abstempeln zu können.
Das geschah leider auch im Bereich der klassischen Religionen allzuoft - obwohl die wörtliche Übersetzung des Zweiten Gebots lautet: Gebrauche den Namen Gottes nicht auf das Wahnhafte.
Grüßle,
FF