Emergentismus und Physikalismus

Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon stine » Mi 19. Nov 2008, 08:07

Myron hat geschrieben:Man kann aber auch schon als Otto Normaldenker beteuern, dass der eliminativistisch-reduktionistische Materialismus empirisch falsifiziert sei.

Otto Normaldenker beteuert, dass er diesen Satz gar nicht versteht :/

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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Mi 19. Nov 2008, 17:39

stine hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Man kann aber auch schon als Otto Normaldenker beteuern, dass der eliminativistisch-reduktionistische Materialismus empirisch falsifiziert sei.

Otto Normaldenker beteuert, dass er diesen Satz gar nicht versteht :/

Die Existenz unseres subjektiven Erlebens ist nicht zu leugnen, und der Eindruck "rot" ist nicht dasselbe wie eine Lichtwellenlänge, eine Netzhautreizung oder ein neuronaler Zustand. Auch das Wissen um alle am Prozess des Sehens beteiligten Komponenten beschreibt und erklärt uns nicht die Empfindung "rot". Sie ist Teil der Realität und unserer Erfahrung zugänglich; also darf man die Auffassung, die Realität bestünde nur aus physikalisch beschreibbaren materiellen Objekten, als empirisch falsifiziert betrachten.

Diese -- allein durch Selbstwahrnehmung widerlegbare -- Auffassung hat Myron "eliminativistisch-reduktionistischen Materialismus" getauft.

'eliminativistisch', weil sie alle nicht-physikalischen Weltbeschreibungen eliminieren zu können glaubt, indem alle Phänomene, die wir bislang noch mit subjektiv gefärbten Begriffen beschreiben, auf die zugrundeliegenden materiellen Objekte zurückgeführt ('reduziert') werden. Dies ist sozusagen die strengste Form des Materialismus, knapp gefasst: Es gibt nix außer Materie.

Wie gesagt, diese Idee halten wir für gescheitert -- auch wenn das reduktionistische Programm für die Naturwissenschaften jahrhundertelang äußerst fruchtbar war und es auch noch ein Weilchen bleiben wird.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon stine » Mi 19. Nov 2008, 17:46

Vielen Dank Ostfriese, du bist ein Schatz! :winkiss:

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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Mi 19. Nov 2008, 20:24

ostfriese hat geschrieben:Es gibt einerseits physische Prozesse, die ursächlich für Bewusstsein sind, z.B. das Wachstum eines Gehirns: Ohne hinreichend komplexe neurale Strukturen gibt es kein Bewusstsein. Andererseits wirken bewusste Vorgänge, gerade weil sie token-identisch mit physischen Vorgängen sind, auf das materielle Substrat zurück, verursachen Veränderungen der neuronalen Struktur. Andernfalls könnten sie auch gar nicht biologisch wirksam werden in dem Sinne, dass sie einen evolutiven Vorteil böten, der nicht bereits ohne den psychischen Aspekt zu haben gewesen wäre. Um den Epiphänomenalismus zu vertreten muss man unterstellen, dass die rasante Evolution komplexer Gehirne völlig unabhängig ist vom Erscheinen des Bewusstseins, dass dieser Aspekt sozusagen ein Abfallprodukt der strukturellen Komplexität ist.
Das erscheint mir absurd, und deshalb glaube ich nicht an den Epiphänomenalismus.


Wenn ich dich richtig verstehe, dann befürwortest du wie ich den Token-Physikalismus:
Einzelne psychische Ereignisse/Vorgänge sind mit einzelnen physischen Ereignissen/Vorgängen identisch.
Da physische Ereignisse zweifellos kausal potent sind, sind folglich auch die damit identischen psychischen Ereignisse kausal potent. So weit, so gut. Doch die Frage ist nun, ob psychophysische Ereignisse kraft ihrer psychischen oder kraft ihrer physischen Eigenschaften kausal potent sind. Hier kommt eine wichtige Unterscheidung zweier Arten von Epiphänomenalismus ins Spiel:

"Wenn einzelne psychische Ereignisse physiologische Ereignisse mit kausalen Wirkungen sind, dann sind psychische Ereignisse Ursachen. Es bleibt jedoch noch die Frage, ob psychische Ereignisse kraft ihrer psychischen Charakteristika Ursachen sind. Wie wir festgestellt haben, scheint die Neurophysiologie in der Lage zu sein, neurophysiologische Vorkommnisse ohne die Postulierung psychischer Charakteristika zu erklären. Dies gibt Anlass zur Sorge, dass selbst wenn psychische Ereignisse Ursachen sind, sie womöglich kraft ihrer physiologischen Charakteristika Ursachen sind, aber nicht kraft ihrer psychischen Charakteristika. (...)
Wenn wir uns auf die Unterscheidung zwischen Ereignistypen und Ereignistokens beziehen und den Ausdruck 'physisch' anstelle des spezielleren Ausdruck 'physiologisch' verwenden, dann können wir, Broad folgend, zwei Arten von Epiphänomenalismus unterscheiden:

TOKEN-EPIPHÄNOMENALISMUS: Psychische Ereignisse können nichts verursachen.

TYPE-EPIPHÄNOMENALISMUS: Kein Ereignis kann etwas kraft seines Fallens unter einen psychischen Typ verursachen.

(Der Eigenschafts-Epiphänomenalismus ist die These, dass kein Ereignis etwas kraft des Habens einer psychischen Eigenschaft verursachen kann.)
Die Verbindung des Token-Epiphänomenalismus und der These, dass physische Ereignisse psychische Ereignisse verursachen können, entspricht natürlich der traditionellen Lehre des Epiphänomenalismus, so wie zuvor beschrieben. Der Token-Epiphänomenalismus impliziert den Type-Epiphänomenalismus: denn wenn ein Ereignis etwas kraft des Fallens unter einen psychischen Ereignistyp verursachen könnte, dann könnte ein Ereignis sowohl ein psychisches Ereignis als auch eine Ursache sein, und der Token-Epiphänomenalismus wäre folglich falsch. Das bedeutet, dass wenn psychische Ereignisse keine Ursachen sein können, Ereignisse keine Ursachen kraft des Fallens unter psychische Typen sein können. Die Verneinung des Token-Epiphänomenalismus impliziert dagegen nicht die Verneinung des Type-Epiphänomenalismus, sofern ein psychisches Ereignis ein physisches Ereignis sein kann, das kausal wirksam ist. Denn wenn dem so ist, dann ist der Token-Epiphänomenalismus falsch. Aber der Type-Epiphänomenalismus kann nichtsdestoweniger wahr sein. Denn es mag sein, dass Ereignisse keine Ursachen kraft des Fallens unter psychische Typen sein können. Psychische Ereignisse können möglicherweise kraft des Fallens unter physische Typen Ursachen sein, aber nicht kraft des Fallens unter psychische Typen. Also selbst wenn der Token-Epiphänomenalismus falsch ist, bleibt die Frage, ob der Type-Epiphänomenalismus falsch ist."
(p. 279)

"Wenn der Type-Epiphänomenalismus wahr ist, dann ist, sozusagen, das Psychische als Psychisches kausal impotent." (p. 281)

[© meine Übers.]

(McLaughlin, Brian. "Epiphenomenalism." In A Companion to the Philosophy of Mind, edited by Samuel Guttenplan, 277-288. Oxford: Blackwell, 1995.)

Was ich vertrete, ist die Verbindung des Token-Physikalismus und des Type-Epiphänomenalismus.
Denn wenn psychophysische Ereignisse kraft ihrer psychischen Eigenschaften etwas bewirken könnten, dann gäbe es irgendeine mysteriöse Art von transphysischem Energiefluss aus dem Psychischen ins Physische, was ich als Bejaher des physikalistischen Prinzips der geschlossenen Naturkausalität für unmöglich halte. Aus diesem Grund bin ich—wenngleich anfänglich mehr nolens als volens—vor einiger Zeit ins Lager der Type-Epiphänomenalisten übergelaufen und mit dieser Entscheidung inzwischen recht zufrieden.

(Das große Problem des Emergentismus ist und bleibt, dass er, wie der nichtreduktionistische Physikalismus generell, trotz jahrzehntelanger theoretischer Bemühungen nicht wirklich mit dem Problem der psychischen Verursachung zurechtkommt. Denn wie will man dem Psychischen bzw. psychischen Charakteristika eine eigene kausale Potenz zusprechen, ohne dabei irgendwelche nichtphysischen Geisterkräfte heraufzubeschwören?!)

Und was den evolutionstheoretischen Einwand gegen den Epiphänomenalismus betrifft, so findest du hier eine Erwiderung darauf: http://plato.stanford.edu/entries/epiph ... m/#Natural
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Mi 19. Nov 2008, 22:19

Auch wenn dieses Zwischenergebnis "Psychisches ist kausal impotent" mich einigermaßen versöhnlich stimmt, bin ich doch immer noch recht verdattert, wie genau ihr meinen klischeehaften Vorstellungen eines Philosophen entsprecht. Wo genau hier der Denkfehler gemacht wird, kann ich zugegebenermaßen nur schwer erfassen. Ich glaube, er liegt vielleicht irgendwo zwischen diesen beiden folgenden Sätzen:
ostfriese hat geschrieben:Die Existenz unseres subjektiven Erlebens ist nicht zu leugnen .... also darf man die Auffassung, die Realität bestünde nur aus physikalisch beschreibbaren materiellen Objekten, als empirisch falsifiziert betrachten

Das Wort "Existenz", so meine Vermutung, löst bei euch Philosophen eine routinierte Kaskade an Implikationen aus, und schwupps, seid ihr bei den falschen Folgerungen. Sehr erstaunlich, wie ihr aber dann offenbar doch noch einen geistigen Salto mortale zurück ins Reich des Naturalismus schafft. Psychisches gibt es zwar, aaaber es verursacht nichts. Kommt mir irgendwie wie ein fauler Kompromiss vor.

In Erinnerung an die letzte von mir mitgelesene Diskussion um Gottes Existenz ziehe ich für mich den vorläufigen Schluss: wenn Philosophen die Existenz-Platte auflegen, dann suche das Weite, denn statt konkreter Ergebnisse kommen nur noch viele Worte.

Seid doch mal Physiker, oder wenigstens Naturwissenschaftler, und erklärt mir mal, woraus denn ein psychisches Phänomen wie Schwerz besteht oder bestehen könnte?
Schmerz ist meiner Meinung nach das, was wir wahrnehmen und erleben, wenn wir ein Bewusstsein in einem komplexen Gehirn sind und entsprechende Reize im Hirn ankommen. Aber natürlich kann man das herunterbrechen in die Bestandteile des Gehirns und den neuronalen Prozessen. Was soll denn sonst noch da sein? Oder kann man es eurer Meinung gar nicht analysieren? Ist ein psychisches Phänomen sozusagen atomar und nicht mehr teilbar, nicht aus Bestandteilen bestehend? Wieso nicht?
Meine Intuition als Naturalist lässt mich gar nicht verstehen, wie ihr überhaupt auf den Gedanken kommen könnt, dass der Reduktionismus ausgerechnet bei psychischen Phänomenen nicht klappen sollte. Und überhaupt, wo klappt das Reduktionieren eigentlich nicht?

Fragen über Fragen eines kopfschüttelnden Nichtphilosophen :^^:
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Do 20. Nov 2008, 00:22

ganimed hat geschrieben:Das Wort "Existenz", so meine Vermutung, löst bei euch Philosophen eine routinierte Kaskade an Implikationen aus, und schwupps, seid ihr bei den falschen Folgerungen.


Ich habe kein Problem mit dem Existenzbegriff. — Du etwa?

ganimed hat geschrieben:Sehr erstaunlich, wie ihr aber dann offenbar doch noch einen geistigen Salto mortale zurück ins Reich des Naturalismus schafft. Psychisches gibt es zwar, aaaber es verursacht nichts. Kommt mir irgendwie wie ein fauler Kompromiss vor.


Psychische Ereignisse verursachen als psychophysische Ereignisse durchaus etwas, aber eben nicht kraft ihrer subjektiv erlebten psychischen Qualitäten. Wenn es mich z.B. am Kopf juckt und ich mich daraufhin am Kopf kratze, dann ist es in der Tat das Jucken als ein psychophysisches Ereignis, das mich veranlasst, mich zu kratzen; aber es ist nicht das subjektive Juckgefühl selbst in seiner besonderen Art und Weise, wie es es mich "anmutet", das die eigentliche Ursache meines Kratzens ist, sondern die elektrochemische Dynamik derjenigen automatisch arbeitenden Nervenschaltkreise in meinem Körper, die die objektive Seite des Juckens darstellen. Diese ist die reale Ursache meines Kratzverhaltens, auch wenn ich mir dessen subjektiv nicht bewusst bin.

"Denn indes wir uns unserer Empfindungen und Gedanken unmittelbar bewußt sind, können wir nichts von den Bewegungen im Gehirne wahrnehmen; welche daran gebunden sind und an welche sie ihrerseits gebunden sind, das Körperliche bleibt hier unter der geistigen Decke."
(Gustav Fechner: "Elemente der Psychophysik", Teil 1: Allgemeinere Betrachtung über die Beziehung von Leib und Seele)

Alle psychischen Phänomene sind als psychophysische Phänomene sozusagen "ontisch bilateral", d.h. es ist ihnen wesentlich, dass sie sowohl eine objektive, neurologisch-physiologisch analysierbare Seite (Aspekt, Dimension) als auch eine (irreduzible) subjektive, phänomenologisch-psychologisch analysierbare Seite haben.

Außerdem denke ich, dass die psychischen Eigenschaften der psychophysischen Phänomene auf den physischen Eigenschaften derselben "supervenieren", wie es technisch heißt. Das soll allgemein heißen, dass der psychische Zustand eines Organismus insofern von dessen physischem Zustand abhängig ist und davon bestimmt wird, als sich sein psychischer Zustand nur dann ändern kann, wenn sich zugleich sein physischer (neurophysiologischer) Zustand ändert. Anders gesagt, wenn sein physischer Zustand sich nicht ändert, dann ändert sich auch nicht sein psychischer Zustand.
Mit der Idee der Geist-Körper-Supervenienz soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es kein "freischwebendes" seelisches Geschehen gibt und auch nicht geben kann, das von den körperlichen Vorgängen und deren Wandel unabhängig ist.

ganimed hat geschrieben:Schmerz ist meiner Meinung nach das, was wir wahrnehmen und erleben, wenn wir ein Bewusstsein in einem komplexen Gehirn sind und entsprechende Reize im Hirn ankommen. Aber natürlich kann man das herunterbrechen in die Bestandteile des Gehirns und den neuronalen Prozessen. Was soll denn sonst noch da sein? Oder kann man es eurer Meinung gar nicht analysieren? Ist ein psychisches Phänomen sozusagen atomar und nicht mehr teilbar, nicht aus Bestandteilen bestehend?


Der subjektiv-psychische und der objektiv-physische Aspekt eines Schmerzes sind zunächst getrennt zu analysieren.
Einerseits untersuchen die Neurophysiologen die dynamische Struktur der Nervenzellverbände, die das materielle "Substrat" des betreffenden Schmerzes sind, und andererseits untersuchen die (phänomenologischen) Psychologen und Philosophen die subjektive Natur des Schmerzempfindens. Das ideale Ziel ist die Aufstellung psychophysischer Gesetze, die die spezifischen natürlichen Korrelationen zwischen den beiden Seiten beschreiben, sodass von objektiven Veränderungen auf entsprechende Veränderungen im subjektiven Erleben geschlossen werden kann. (Ultraprimitiv gesprochen, nach dem Motto: "Je heftiger der Bums, desto heftiger das Aua." :kopfwand: )

"Was dir auf innerem Standpunkte als dein Geist erscheint, der du selbst dieser Geist bist, erscheint auf äußerem Standpunkte dagegen als dieses Geistes körperliche Unterlage. Es ist ein Unterschied, ob man mit dem Gehirne denkt, oder in das Gehirn des Denkenden hineinsieht. Da erscheint ganz Verschiedenes; aber der Standpunkt ist auch ganz verschieden, dort ein innerer, hier ein äußerer. (...)
Die Naturwissenschaft stellt sich konsequent auf den äußeren Standpunkt der Betrachtung der Dinge, die Wissenschaft vom Geiste auf den inneren; die Ansichten des Lebens fußen auf dem Wechsel der Standpunkte, die Naturphilosophie auf der Identität dessen, was doppelt auf doppeltem Standpunkte erscheint; eine Lehre von den Beziehungen zwischen Geist und Körper wird die Beziehungen beider Erscheinungsweisen des Einen zu verfolgen haben."


(Gustav Th. Fechner: "Elemente der Psychophysik" [1889], Erster Teil, Einleitendes, I. Allgemeinere Betrachtung über die Beziehung von Leib und Seele.)


Falls es dich interessiert, hier ist ein Artikel zur Philosophie des Schmerzes:
http://plato.stanford.edu/entries/pain
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Do 20. Nov 2008, 00:47

Ich komme heute leider nicht mal mehr dazu, alles durchzulesen, geschweige denn zu antworten. Aber mich juckt es schon in den Fingern. :kg:

Hoffentlich finde ich morgen Abend Zeit...
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Do 20. Nov 2008, 19:46

So, dann wollen wir mal, ich fange mit dem Physiker an :-)

ganimed hat geschrieben:
ostfriese hat geschrieben:Die Existenz unseres subjektiven Erlebens ist nicht zu leugnen .... also darf man die Auffassung, die Realität bestünde nur aus physikalisch beschreibbaren materiellen Objekten, als empirisch falsifiziert betrachten

Das Wort "Existenz", so meine Vermutung, löst bei euch Philosophen eine routinierte Kaskade an Implikationen aus, und schwupps, seid ihr bei den falschen Folgerungen.

Da Du sicher nicht bestreiten wirst, dass es so etwas wie subjektives Erleben gibt, könntest Du die angebliche Falschheit meiner Folgerung eigentlich nur durch die eindeutige physikalische Beschreibbarkeit von Qualia zeigen. Der Eindruck "rot" z.B. müsste dann nicht nur identisch sein mit einer bestimmten materiell-energetischen Struktur, sondern sich auch auf die Funktionen ihrer Komponenten reduzieren lassen. Das mach mal vor.

ganimed hat geschrieben:Sehr erstaunlich, wie ihr aber dann offenbar doch noch einen geistigen Salto mortale zurück ins Reich des Naturalismus schafft.

Als Emergentist habe ich das Reich des Naturalismus zu keiner Zeit verlassen.

ganimed hat geschrieben:Psychisches gibt es zwar, aaaber es verursacht nichts.

Das hab ich nirgends behauptet, damit kannst Du höchstens Myron meinen.

ganimed hat geschrieben:Kommt mir irgendwie wie ein fauler Kompromiss vor.

Mir auch. Unter anderem deshalb bin ich ja kein Dualist und kein Epiphänomenalist, sondern Monist und Emergentist.

ganimed hat geschrieben:In Erinnerung an die letzte von mir mitgelesene Diskussion um Gottes Existenz ziehe ich für mich den vorläufigen Schluss: wenn Philosophen die Existenz-Platte auflegen, dann suche das Weite, denn statt konkreter Ergebnisse kommen nur noch viele Worte.

Philosophen hinterfragen auch das scheinbar Selbstverständliche, und sie klopfen die Sprache, die wir benutzen, auf Uneindeutigkeiten, Widersprüche oder logische Zirkel ab. Das ist genau das Gegenteil von "Platte auflegen".

ganimed hat geschrieben:Schmerz ist meiner Meinung nach das, was wir wahrnehmen und erleben, wenn wir ein Bewusstsein in einem komplexen Gehirn sind und entsprechende Reize im Hirn ankommen. Aber natürlich kann man das herunterbrechen in die Bestandteile des Gehirns und den neuronalen Prozessen.

Myron hatte sich viel Mühe gegeben darzulegen, dass eine solche Behauptung überhaupt nur verstehbar ist, wenn man genau expliziert, was man eigentlich mit "herunterbrechen" ("rückführen auf", "erklären mit", "reduzieren" usw.) meint. Du kannst das ignorieren, aber damit machst Du natürlich keinen Punkt im Diskurs.

ganimed hat geschrieben:Was soll denn sonst noch da sein? Oder kann man es eurer Meinung gar nicht analysieren? Ist ein psychisches Phänomen sozusagen atomar und nicht mehr teilbar, nicht aus Bestandteilen bestehend? Wieso nicht?

Du kannst ein System mit psychischen Merkmalen zwar in seine Bestandteile zerlegen, aber diese Bestandteile haben dann eben keine psychischen Eigenschaften mehr. Auch wenn ein Verkehrsstau aus Autos besteht, haben Autos nichts Stauhaftes an sich. Die Verkehrsdichte ist kein Merkmal, das einem einzelnen Auto zuschreibbar wäre.

ganimed hat geschrieben:Meine Intuition als Naturalist lässt mich gar nicht verstehen, wie ihr überhaupt auf den Gedanken kommen könnt, dass der Reduktionismus ausgerechnet bei psychischen Phänomenen nicht klappen sollte. Und überhaupt, wo klappt das Reduktionieren eigentlich nicht?

Wo es seine praktischen Grenzen hat, ist leicht zu sagen: in der Komplexität der Systeme, die wir zu beschreiben versuchen. Du kannst evtl. noch hoffen, einen einfachen Molekülaufbau quantenmechanisch herzuleiten, aber Du wirst bereits jämmerlich scheitern, wenn Du mit demselben konzeptuellen Arsenal eine Zelle rekonstruieren willst. Vor allem bei den Wechselwirkungen zwischen den Systemelementen steigt die abzubildende Informationsmenge ins Unermessliche. Beschreib mal die Wechselwirkungen zwischen je zwei Autos bei zähflüssigem Verkehr: Du wirst nie fertig! Mit viel einfacheren Modellen, die auf einer anderen Systemebene angesiedelt sind, können wir die entscheidenden Stau-Parameter dagegen mit hoher Genauigkeit erfassen und daraus Erklärungen und Prognosen gewinnen.

Fragen wir uns doch mal, welche der folgenden kausalen Erklärungen für die Bremsverzögerung eines Autos am Stau-Ende unser Informationsbedürfnis am ehesten zufriedenstellen:
1. Das Auto bremste, weil sich vor ihm ein Stau gebildet hatte.
2. Das Auto bremste, weil das Auto vor ihm bremste.
3. Das Auto bremste, weil der Fahrer auf das Bremspedal trat.
4. Das Auto bremste, weil im rechten Bein des Fahrers bestimmte Muskeln kontrahierten.
5. Das Auto bremste, weil sich im Gehirn des Fahrers muskelaktivierende neuronale Prozesse abspielten.
6. Das Auto bremste, weil in bestimmten Neuronen des Fahrergehirns bestimmte elektrochemische Potenziale erreicht wurden.

Ich denke, es ist offensichtlich, dass wir uns nach unten hin immer weiter von dem entfernen, was wir eigentlich wissen wollten, als wir die Frage nach der Ursache der Bremsverzögerung stellten.

Ob der Reduktionismus auch theoretische Grenzen hat, war ja lange umstritten. Inzwischen aber gibt es aus den Gründen, die Myron weiter oben gesammelt hat, kaum noch Zweifel.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Do 20. Nov 2008, 21:02

Bevor ich auf Deine Punkte eingehe, möchte ich das Stau-Beispiel aus meiner Antwort an ganimed noch etwas weiter spinnen.

Das Stauhafte ist keine Kehrseite des physischen Autos, kein Epiphänomen. Der Stau besteht aus Autos, wird von Autos verursacht und wirkt auf Autos zurück (sic!). Der Stau ist aber nicht bloß eine Folge der Verkehrsdichte (das Stauhafte nicht deren Funktion), denn wenn sich alle Autos gleich schnell in die gleiche Richtung bewegten, hätten wir keinen Stau. Auch über die Reduktion auf einzelne Wechselwirkungen ist das Stauhafte nicht erfassbar, denn innerhalb des Staus gibt es zu jeder Zeit Autos, die sogar beschleunigen.

Ferner ist das Phänomen "Stau" nicht typenidentisch (sondern nur tokenidentisch) mit einem realen System aus Automobilen samt bestimmter Wechselwirkungen, denn es gibt Stau-Exempel bekanntlich auch jenseits des Straßenverkehrs.

Myron hat geschrieben:Brian McLaughlin: "Es bleibt jedoch noch die Frage, ob psychische Ereignisse kraft ihrer psychischen Charakteristika Ursachen sind. Wie wir festgestellt haben, scheint die Neurophysiologie in der Lage zu sein, neurophysiologische Vorkommnisse ohne die Postulierung psychischer Charakteristika zu erklären. Dies gibt Anlass zur Sorge, dass selbst wenn psychische Ereignisse Ursachen sind, sie womöglich kraft ihrer physiologischen Charakteristika Ursachen sind, aber nicht kraft ihrer psychischen Charakteristika."

Diese Sorge teile ich nicht. Vergleiche mal in meinem letzten Beitrag die Erklärungen 1 und 2. Sie stimmen beide, schließen sich nicht aus.

Myron hat geschrieben:Brian McLaughlin: "Der Eigenschafts-Epiphänomenalismus ist die These, dass kein Ereignis etwas kraft des Habens einer psychischen Eigenschaft verursachen kann."

Und dieser These kann ich nicht zustimmen, da sonst die schnelle Evolution komplexer Gehirne nicht plausibel erklärbar wäre.

Myron hat geschrieben:Brian McLaughlin: "Wenn der Type-Epiphänomenalismus wahr ist, dann ist, sozusagen, das Psychische als Psychisches kausal impotent."

Ich halte ihn, wie gesagt, für falsch.

Myron hat geschrieben:Was ich vertrete, ist die Verbindung des Token-Physikalismus und des Type-Epiphänomenalismus.
Denn wenn psychophysische Ereignisse kraft ihrer psychischen Eigenschaften etwas bewirken könnten, dann gäbe es irgendeine mysteriöse Art von transphysischem Energiefluss aus dem Psychischen ins Physische, was ich als Bejaher des physikalistischen Prinzips der geschlossenen Naturkausalität für unmöglich halte.

Hier mogelst Du eine bereits dualistische oder epiphänomenalistische Prämisse in Deinen Schluss. Die Trennlinie zwischen Psychischem und Physischem besteht nur in unseren beschreibenden Modellen, nicht in der Wirklichkeit. Es gibt nur eine Substanz, die sich allerdings in Systemen unterschiedlicher Komplexität organisiert. Die jeweils emergierenden Eigenschaften und Wirkungen sind nicht der Substanz/ ihrer "Physikalität" zuzuschreiben, sondern dem System bzw. seiner Struktur.

Myron hat geschrieben:Das große Problem des Emergentismus ist und bleibt, dass er, wie der nichtreduktionistische Physikalismus generell, trotz jahrzehntelanger theoretischer Bemühungen nicht wirklich mit dem Problem der psychischen Verursachung zurechtkommt. Denn wie will man dem Psychischen bzw. psychischen Charakteristika eine eigene kausale Potenz zusprechen, ohne dabei irgendwelche nichtphysischen Geisterkräfte heraufzubeschwören?!

Auch dieser Frage liegt implizit die gleiche unzulässige Trennlinie zwischen zwei Systemebenen zugrunde. Diese Grenze spielt aber nur bei der Modellierung/Rekonstruktion der Wirklichkeit eine Rolle. Wenn ein System sich selbst abbildet, muss es zwangsläufig Qualitäten aufweisen, welche die Isomorphie dieser Abbildung gerade verhindern (daher die Nichtreduzierbarkeit). Und diese Eigenschaften sind charakteristisch für reale Wirkungen des Systems.

Myron hat geschrieben:Und was den evolutionstheoretischen Einwand gegen den Epiphänomenalismus betrifft, so findest du hier eine Erwiderung darauf: http://plato.stanford.edu/entries/epiph ... m/#Natural

Eine Erwiderung ja, aber keine Widerlegung. Das Argument von Poppers und Eccles (bzw. James und Romanes^^) sticht nach wie vor.
Zuletzt geändert von ostfriese am Do 20. Nov 2008, 21:11, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Falk » Do 20. Nov 2008, 21:08

ostfriese hat geschrieben:Als Emergentist habe ich das Reich des Naturalismus zu keiner Zeit verlassen.

Das stimmt - aber wenn du dein Vokabular etwas christianisieren würdest, könntest auf jedem Theologenkongress glänzen. =)

Mir ist die metaphysische Dimension, die du und Myron der Frage beimesst völlig egal. Sie spielt genauso wenig eine Rolle wie die Frage, ob Gott existiert. Für mich zählt die Praxis, die ganze Bewusstseinsforschung hat konkrete Ziele: künstliches phänomenales Bewusstsein erzeugen, medizinische Fortschritte, etwa bei der Behandlung von Aphasien, Agnosien, usw. oder von psychischen Erkrankungen.
Wenn eliminativistische oder repräsentationalistische Theorien dazu beitragen können, sind sie weiterzuverfolgen. Dazu findet sich z.B. etwas im erwähnten Being No One. Wie die Emergenztheorie dazu irgendetwas beitragen kann, sehe ich nicht. Wenn sie richtig ist bleibt nur eine rein psychische Behandlung, die ein transzendenter Ansatz auch liefern könnte, oder Stochern im Nebel, um mit Glück die passenden emergenten Zustände zu erzeugen.

Dein Argument:
ostfriese hat geschrieben:Die Existenz unseres subjektiven Erlebens ist nicht zu leugnen .... also darf man die Auffassung, die Realität bestünde nur aus physikalisch beschreibbaren materiellen Objekten, als empirisch falsifiziert betrachten

finde ich ziemlich, na ja, basal. Es wirkt doch etwas so als wären die letzten ~20 Jahre Philosophie des Geistes ziemlich spurlos an dir (und Myron) vorbeigegangen. Ich empfehle einfach mal ein Buch, das ich mit großem Interesse gelesen habe: There's Something about Mary. Darin geht es um Frank Jackson's Mary-Gedankenexperiment (ich hatte dazu vor 'nem Jahr oder so auch mal einen Thread aufgemacht, der dann in den Max-Wirren unterging) - auf eine Darstellung dieses Experimentes und eine gute Einführung folgen mehrere Aufsätze (u.a. auch von Churchland, Chalmers, Martine Nida-Rümelin und Dennett), die sich kritisch mit Qualia auseinandersetzen. Darin wird ziemlich deutlich, dass Qualia keinesfalls zum Status Quo der Philosophie gehören, sondern allenfalls als sehr gute Metapher/Veranschaulichung dienen können. Auch Qualia-Mann Jackson nimmt Abstand von seinem Gedankenexperiment.

Das Buch ist übrigens ganz gut lesbar, wenn man die philosophischen Grundbegriffe kennt oder sich nebenher draufschaffen kann/möchte. Ist nicht so schwere Kost wie Being No One. :^^:

Ihr seid mir zu sehr Elfenbeinturm!
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Do 20. Nov 2008, 21:22

ostfriese hat geschrieben:Unter anderem deshalb bin ich ja kein Dualist und kein Epiphänomenalist, sondern Monist und Emergentist.


Substanzmonist, aber als Emergentist Eigenschaftsdualist.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Do 20. Nov 2008, 21:42

Falk hat geschrieben:Das stimmt - aber wenn du dein Vokabular etwas christianisieren würdest, könntest auf jedem Theologenkongress glänzen. =)

Ja supi, dann kann mir wenigstens niemand vorwerfen, ich sähe alles durch die naturalistische Brille! :santagrin:

Falk hat geschrieben:Für mich zählt die Praxis, die ganze Bewusstseinsforschung hat konkrete Ziele: künstliches phänomenales Bewusstsein erzeugen, medizinische Fortschritte, etwa bei der Behandlung von Aphasien, Agnosien, usw. oder von psychischen Erkrankungen.
Wenn eliminativistische oder repräsentationalistische Theorien dazu beitragen können, sind sie weiterzuverfolgen.

Bestreitet ja niemand.

Falk hat geschrieben:Wie die Emergenztheorie dazu irgendetwas beitragen kann, sehe ich nicht. Wenn sie richtig ist bleibt nur eine rein psychische Behandlung, die ein transzendenter Ansatz auch liefern könnte, oder Stochern im Nebel, um mit Glück die passenden emergenten Zustände zu erzeugen.

Das ist Unsinn. Du müsstest sonst z.B. alle Leistungen der klassischen Psychologie rundweg in die Tonne kicken. Und im übrigen auch die gesamte Medizin, Biologie, Chemie usw., die ja unter strengen Reduktionisten als völlig überflüssige Disziplinen gelten müssten. Unsere gesamte Wirklichkeitsrekonstruktion beruht auf einem impliziten Emergentismus, sonst wäre sie auch gar nicht erfolgreich gewesen. Reduktionistische Bemühungen sind dagegen vergleichsweise jung. Sie taugen zur Erklärung auf der nächsttieferen Systemebene, sind aber nicht über mehrere Komplexitätsstufen hinweg brauchbar.

Falk hat geschrieben:Dein Argument:
ostfriese hat geschrieben:Die Existenz unseres subjektiven Erlebens ist nicht zu leugnen .... also darf man die Auffassung, die Realität bestünde nur aus physikalisch beschreibbaren materiellen Objekten, als empirisch falsifiziert betrachten

finde ich ziemlich, na ja, basal. Es wirkt doch etwas so als wären die letzten ~20 Jahre Philosophie des Geistes ziemlich spurlos an dir (und Myron) vorbeigegangen.

Lies den Zusammenhang nochmal. Ich habe meine Erläuterung für stine so einfach wie möglich gehalten. Das magst Du illegitim oder enttäuschend finden, aber ich verweise in dem Zusammenhang mal auf ein Zitat, das Myron gefunden hatte:

"As philosophers we find this sort of refutation unsatisfying because it is too simple, so we invent more complex arguments to make the same point, about bats and colors and inverted spectra and qualia and Chinese Rooms and so on."

Mit anderen Worten: Die Philosophie dreht sich an diesem Punkt im Kreise.

Falk hat geschrieben:Ich empfehle einfach mal ein Buch, das ich mit großem Interesse gelesen habe: There's Something about Mary

Danke für den Tipp. Allerdings weiß ich auch ohne es gelesen zu haben, dass man mir die Realität irreduzibler Systeme mit subjektiven Qualitäten ebenso wenig ausreden wird wie meine eigene Existenz überhaupt.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Falk » Do 20. Nov 2008, 22:12

ostfriese hat geschrieben:Das ist Unsinn. Du müsstest sonst z.B. alle Leistungen der klassischen Psychologie rundweg in die Tonne kicken.

So wie ich's formuliert habe schon. Aber sachlicher formuliert kann ich sagen: die bisherigen Erkenntnisse der Psychologie sind nützlich, aber es gibt Probleme, die wir so allem Anschein nach nicht lösen können.

ostfriese hat geschrieben:Und im übrigen auch die gesamte Medizin, Biologie, Chemie usw., die ja unter strengen Reduktionisten als völlig überflüssige Disziplinen gelten müssten.

Vorsicht! Du vermischst Dinge, deren Vermischung du dir nicht leisten kannst. Als Verfechter von Qualia solltest du dir der Unterschiede bewusst sein.
Ganz abgesehen davon sind z.B. Eliminativisten keine Reduktionisten.

ostfriese hat geschrieben:"As philosophers we find this sort of refutation unsatisfying because it is too simple, so we invent more complex arguments to make the same point, about bats and colors and inverted spectra and qualia and Chinese Rooms and so on."

Mit anderen Worten: Die Philosophie dreht sich an diesem Punkt im Kreise.

Und deswegen sind die Neurologie und ähnliche Disziplinen the way to go. Das Zitat spricht meines Erachtens ziemlich deutlich gegen deine Position, nicht dafür. :^^:

ostfriese hat geschrieben:Danke für den Tipp. Allerdings weiß ich auch ohne es gelesen zu haben, dass man mir die Realität irreduzibler Systeme mit subjektiven Qualitäten ebenso wenig ausreden wird wie meine eigene Existenz überhaupt.

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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Do 20. Nov 2008, 23:20

ostfriese hat geschrieben:Das Stauhafte ist keine Kehrseite des physischen Autos, kein Epiphänomen. Der Stau besteht aus Autos, wird von Autos verursacht und wirkt auf Autos zurück (sic!).


Die Bildung eines Verkehrsstaus ist ein komplexer kausaler Vorgang, der aus einer Kette einzelner Ereignisse (der individuellen Fahrverhaltensweisen) besteht, an denen Fahrzeuge und Personen teilhaben, und die in ihren Wechselwirkungen zur Verlangsamung oder gar zum Stillstand des Verkehrsflusses führen.
Epiphänomenal ist im Kontext eines Staus alles, was darin keine kausale Rolle spielt, wie die Farben der beteiligten Autos oder die Haarlängen der Fahrer.

ostfriese hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Brian McLaughlin: "Der Eigenschafts-Epiphänomenalismus ist die These, dass kein Ereignis etwas kraft des Habens einer psychischen Eigenschaft verursachen kann."

Und dieser These kann ich nicht zustimmen, da sonst die schnelle Evolution komplexer Gehirne nicht plausibel erklärbar wäre.


Und wenn wir annehmen, dass evolutionär emergierte psychische Eigenschaften ihren Besitzern eine besondere Wirkungsfähigkeit transphysischer Art verleihen, dann schwebt diese als etwas schier Übernatürliches in einem evolutionstheoretischen Vakuum.

ostfriese hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Brian McLaughlin: "Wenn der Type-Epiphänomenalismus wahr ist, dann ist, sozusagen, das Psychische als Psychisches kausal impotent."

Ich halte ihn, wie gesagt, für falsch.


Wenn emergente psychische Eigenschaften Organismen mit einer nichtphysischen Wirkungskraft ausstatteten, dann wäre diese eine absolut mysteriöse Geisterkraft, d.i. eine Form von rein psychischer/spiritueller Energie—und an Derartiges glauben wir Naturalisten doch nicht, oder?!
Dann würde ja auch sofort das unlösbare Interaktionsproblem wieder auftauchen. Denn wie könnten rein psychische Kräfte mit physischen Kräften wechselwirken?

ostfriese hat geschrieben:Hier mogelst Du eine bereits dualistische oder epiphänomenalistische Prämisse in Deinen Schluss. Die Trennlinie zwischen Psychischem und Physischem besteht nur in unseren beschreibenden Modellen, nicht in der Wirklichkeit. Es gibt nur eine Substanz, die sich allerdings in Systemen unterschiedlicher Komplexität organisiert. Die jeweils emergierenden Eigenschaften und Wirkungen sind nicht der Substanz/ ihrer "Physikalität" zuzuschreiben, sondern dem System bzw. seiner Struktur.


Vom materialistischen Substanzmonismus gehen wir als Materialisten (Naturalisten) selbstverständlich beide aus. Und wir, die wir beide nichtreduktionistische Materialisten (Naturalisten) sind, bejahen auch beide den Eigenschaftsdualismus. Ich behaupte allerdings im Gegensatz zu dir zusätzlich, dass psychische Ereignisse nichts vermöge ihrer genuin psychischen Aspekte bewirken können, sondern nur vermöge ihrer physischen Aspekte.

ostfriese hat geschrieben:Auch dieser Frage liegt implizit die gleiche unzulässige Trennlinie zwischen zwei Systemebenen zugrunde. Diese Grenze spielt aber nur bei der Modellierung/Rekonstruktion der Wirklichkeit eine Rolle. Wenn ein System sich selbst abbildet, muss es zwangsläufig Qualitäten aufweisen, welche die Isomorphie dieser Abbildung gerade verhindern (daher die Nichtreduzierbarkeit). Und diese Eigenschaften sind charakteristisch für reale Wirkungen des Systems.


Egal auf welcher Ebene in der Systemhierarchie eines Organismus die psychischen Eigenschaften als ontologische "Neuerscheinungen" auftauchen, es bleibt die entscheidende Frage, ob durch sie auf natürliche, evolutionäre Weise neuartige, weil transphysische Kräfte in die Welt gesetzt worden sind oder nicht.
Wenn ja, dann hebt das Psychische das physikalistische Prinzip der geschlossenen Naturkausalität auf, was einem Naturalisten wohl kaum schmecken würde!
Wenn nein, dann kann das Psychische als Psychisches allein nichts bewirken, sondern ist ganz und gar auf diejenigen kausalen Kräfte und Energieformen angewiesen, die die Physik kennt.
Kim bringt es auf den Punkt:
Wer als Physikalist/Materialist/Naturalist die Annahme aufrechterhalten will, dass das Psychische selbst kausal wirksam ist, dem bleibt im Grunde nur eines übrig:
Er muss das Psychische total aufs (rein) Physische reduzieren, sprich als genuin Psychisches eliminieren.
Die einzige Alternative ist: Er erkennt die Realität und die Irreduzibilität des Psychischen an, muss es dann aber für epiphänomenal, d.h. für kausal impotent erklären.
Denn die Aufgabe des Prinzips der geschlossenen Naturkausalität erscheint aus naturalistischer Sicht indiskutabel.

Die Freunde des Emergentismus stecken also wie die nichreduktionistischen Physikalisten generell in einem Dilemma:
Sie wollen, wie es eine schöne englische Redensart zum Ausdruck bringt, "ihren Kuchen aufessen und zugleich aufbewahren".
Doch das ist bekanntlich nicht möglich!
Eines werden die Emergentisten wohl oder übel aufgeben müssen: entweder das Gesetz der geschlossenen Naturkausalität oder die Vorstellung, dass psychische Eigenschaften ihre Besitzer mit einer nichtphysischen Wirkungskraft oder -energie ausstatten.
Da für mich Ersteres nicht infrage kommt, bleibt nur das Bekenntnis zum (Type-)Epiphänomenalismus (wobei eigentlich noch detailliert darüber zu reden wäre, ob es um eine totale oder nur eine partielle Epiphänomenalität psychischer Eigenschaften geht).


ostfriese hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Und was den evolutionstheoretischen Einwand gegen den Epiphänomenalismus betrifft, so findest du hier eine Erwiderung darauf: http://plato.stanford.edu/entries/epiph ... m/#Natural

Eine Erwiderung ja, aber keine Widerlegung. Das Argument von Poppers und Eccles (bzw. James und Romanes^^) sticht nach wie vor.


Als stichhaltig kann deren Argument keineswegs gelten.
Siehe den folgenden Text von William Robinson:
"Evolution and Epiphenomenalism" (pdf)

Und Gerald Edelman hat mit seiner Theorie des "Neural Darwinism" dargelegt, wie sich dynamische Nervenstrukturen durch natürliche Selektion immer weiter entwickelt haben können, bis es schließlich zur Bildung derjenigen Schaltkreise kam, die Bewusstsein einschließen: die psychophysischen Prozesse.
Diese sind in meinen Augen sehr wohl kausal wirksam, d.h. verhaltensrelevant (halt nur nicht kraft ihrer phänomenalen Seite!), sodass es keinen überzeugenden Grund gibt, daran zu zweifeln, dass sie zu tatsächlichen Anpassungsvorteilen geführt haben. Denn ein Lebewesen, das mittels seiner Erlebnisse, d.h. seiner bewussten Selbst- und Umweltwahrnehmungen, kontinuierlich über sich und seine Umwelt informiert wird, kann erheblich flexibler auf die herrschen Lebensbedingungen reagieren.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 00:35

Falk hat geschrieben:Für mich zählt die Praxis, die ganze Bewusstseinsforschung hat konkrete Ziele: künstliches phänomenales Bewusstsein erzeugen, medizinische Fortschritte, etwa bei der Behandlung von Aphasien, Agnosien, usw. oder von psychischen Erkrankungen.
Wenn eliminativistische oder repräsentationalistische Theorien dazu beitragen können, sind sie weiterzuverfolgen.


Der praktische Nutzen ist sicher nicht alles, was zählt.
Außerdem, wie heißt es so schön: Nichts ist praktischer als eine gute und vor allem wahre Theorie!

Falk hat geschrieben:Es wirkt doch etwas so als wären die letzten ~20 Jahre Philosophie des Geistes ziemlich spurlos an dir (und Myron) vorbeigegangen. Ich empfehle einfach mal ein Buch, das ich mit großem Interesse gelesen habe: (...)


Danke für den Tipp!
Ich bin zwar kein professioneller Experte in Sachen Philosophie des Geistes, aber ich wage guten Gewissens zu behaupten, dass mein allgemeiner Kenntnisstand dank der Lektüre hervorragender Bücher wie Kim's "Philosophy of Mind", "Physicalism, or something near enough" oder Chalmer's "The Conscious Mind" oder Searle's "Mind" oder Edelman's "Wider Than the Sky" sowie u.a. einer Vielzahl von Artikeln in der Stanford Enycyclopedia of Philosophy mitnichten von gestern ist.

Falk hat geschrieben:Darin geht es um Frank Jackson's Mary-Gedankenexperiment.
(...) Auch Qualia-Mann Jackson nimmt Abstand von seinem Gedankenexperiment.


Du wirst lachen, dieses Gedankenexperiment ist mir bekannt, und auch dass Jackson sich mittlerweile von seinem eigenen Argument distanziert hat, ist mir zugetragen worden.
(Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/qualia-knowledge)

Die Annahme, dass Erfahrungswissen ("knowing what it is like to experience something") aus rein objektivem Aussagenwissen ("knowing that something is the case") erschlossen werden könne, ist für mich nach wie vor nicht begreiflich.

P.S.: Hier ist Jackson's berühmter "Mary-Aufsatz", der auch in dem von dir empfohlenen Buch enthalten ist:

* Jackson, Frank. "Epiphenomenal Qualia." Philosophical Quarterly 32 (1982): 127-36.
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Falk » Fr 21. Nov 2008, 00:54

Myron hat geschrieben:Die Annahme, dass Erfahrungswissen ("knowing what it is like to experience something") aus rein objektivem Aussagenwissen ("knowing that something is the case") erschlossen werden könne, ist für mich nach wie vor nicht begreiflich.

Ich merk's. Du bist, wie es scheint, von dualistischen Intuitionen so wenig frei wie die allermeisten anderen Menschen. Dessen eingedenk ist dein Standpunkt nur konsequent (gleiches gilt, wie es scheint, auch für ostfriese). Ich komme damit aber gar nicht klar, weil mir diese Intuitionen samt und sonders fehlen. Das merke ich auch im Philo-Studium immer wieder - selbst unter überzeugtesten Naturalisten herrschen dieselben Intuitionen vor wie unter Theisten aller Couleur. Irgendwie haben meine Eltern es (unbewusst) geschafft, mir sämtlichen dualistischen Schnickschnack nicht anzuerziehen. Vielleicht ist das auch geerbt, keine Ahnung, ich kenne meine Ahnenschaft nicht besonders gut.

Du siehst das vielleicht auch: wenn diese dualistische Intuition fehlt, dieses Offensichtliche des Subjektiven, wie ihr beide es in vielen Beiträgen beschreibt, dann ist Emergenz kein auch nur im Ansatz brauchbarer Ansatz.

Ich frage mich ernsthaft, woher diese Diskrepanz zwischen meinen Intuitionen und denen fast aller anderen kommt. Wenn ich das irgendwann mal rausfinde, schreibe ich ein Buch drüber und gewinne damit lauter Preise. :applaus:

€: Und wenn ich euch Unrecht tue mit meinem Eindruck, dass euch ein Gutteil der Debatte nicht bewusst ist, dann bitte ich um Verzeihung. Ich wollte und will euch nichts unterstellen, es kommt bei mir bloß so an, aber das hat wohl auch mit den Intuitionen zu tun. :^^:
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon Myron » Fr 21. Nov 2008, 00:55

Falk hat geschrieben:Darin geht es um Frank Jackson's Mary-Gedankenexperiment (ich hatte dazu vor 'nem Jahr oder so auch mal einen Thread aufgemacht, der dann in den Max-Wirren unterging).


Das ist betreffende Thread: viewtopic.php?p=23108#p23108
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Fr 21. Nov 2008, 01:10

Myron hat geschrieben:Epiphänomenal ist im Kontext eines Staus alles, was darin keine kausale Rolle spielt, wie die Farben der beteiligten Autos oder die Haarlängen der Fahrer.

Wieder der gleiche Denkfehler: Wenn Du a priori unterstellst, dass psychische Merkmale keine kausale Rolle spielen, dann kannst Du daraus nicht den Epiphänomenalismus ableiten, sondern hast eine tautologische Konstruktion.

Myron hat geschrieben:Und wenn wir annehmen, dass evolutionär emergierte psychische Eigenschaften ihren Besitzern eine besondere Wirkungsfähigkeit transphysischer Art verleihen, dann schwebt diese als etwas schier Übernatürliches in einem evolutionstheoretischen Vakuum.

Die Wirkungsfähigkeit ist nicht 'transphysischer Art'! Es gibt diese Grenze nicht, die Du unterstellst. Es gibt nur Strukturunterschiede zwischen unterschiedlich komplexen materiell-energetischen Systemen. Und diese Strukturunterschiede können wir nicht ohne Verlust auf beliebig tiefer liegende Modellebenen projizieren.

Myron hat geschrieben:Dann würde ja auch sofort das unlösbare Interaktionsproblem wieder auftauchen. Denn wie könnten rein psychische Kräfte mit physischen Kräften wechselwirken?

Das ist eine weitere Einkleidung derselben Frage, die ich nun oft genug beantwortet habe.

Myron hat geschrieben:Ich behaupte allerdings im Gegensatz zu dir zusätzlich, dass psychische Ereignisse nichts vermöge ihrer genuin psychischen Aspekte bewirken können, sondern nur vermöge ihrer physischen Aspekte.

Und ich halte bereits diesen Aspekt-Begriff für irreführend. Das "Stauhafte" ist kein Aspekt, der in einer Welt von Automobilen dem "Automobilhaften" gegenüber stünde. In unterschiedlichen systemischen Zusammenhängen können Automobile zu allen möglichen emergierenden Eigenschaften "beitragen", ohne dass ihnen selbst diese Eigenschaft zukäme. Insofern bin ich Eigenschafts-Polyist, wenn Du so willst. Dem Psychischen schreibe ich, anders als Du, in dieser Hinsicht keine Sonderstellung zu.

Myron hat geschrieben:es bleibt die entscheidende Frage, ob durch sie auf natürliche, evolutionäre Weise neuartige, weil transphysische Kräfte in die Welt gesetzt worden sind oder nicht.

Nein, s.o.

Myron hat geschrieben:Wenn nein, dann kann das Psychische als Psychisches allein nichts bewirken, sondern ist ganz und gar auf diejenigen kausalen Kräfte und Energieformen angewiesen, die die Physik kennt.

Das ist ein gänzlich reduktionistisches Argument. Du vermischt wieder Realität und Realitätsbeschreibung.

Myron hat geschrieben:Wer als Physikalist/Materialist/Naturalist die Annahme aufrechterhalten will, dass das Psychische selbst kausal wirksam ist, dem bleibt im Grunde nur eines übrig:
Er muss das Psychische total aufs (rein) Physische reduzieren, sprich als genuin Psychisches eliminieren.

Das ist eine unbegründete Behauptung, der möglicherweise der gleiche Denkfehler zugrunde liegt, den Du auch begehst.

Myron hat geschrieben:Denn die Aufgabe des Prinzips der geschlossenen Naturkausalität erscheint aus naturalistischer Sicht indiskutabel.

Ich gebe "die" Kausalität auf, aber nicht Kausalität. Sie ist eine Kategorie unserer Beschreibungen, nicht ein Wesenszug der Natur. Auf physikalischer Ebene können wir sie mit dem Energieübertrag identifizieren, ja. Aber das heißt nicht, dass eine solche Identifizierung auf allen Systemebenen Voraussetzung dafür ist, von realer Kausalität zu sprechen. Außerdem muss sogar der Begriff "Energie" modellhaft verstanden werden.

Myron hat geschrieben:Als stichhaltig kann deren (Poppers, Eccles') Argument keineswegs gelten.

Doch, absolut.

Myron hat geschrieben:Gerald Edelman hat mit seiner Theorie des "Neural Darwinism" dargelegt, wie sich dynamische Nervenstrukturen durch natürliche Selektion immer weiter entwickelt haben können, bis es schließlich zur Bildung derjenigen Schaltkreise kam, die Bewusstsein einschließen: die psychophysischen Prozesse.

Vorsicht! Hier tust Du (oder tut Edelman) so, als ob wir bereits wüssten, wie neuronale Strukturen beschaffen sein müssen, um diesen oder jenen Grad von Bewusstsein hervorzubringen. Für mich ist sonnenklar: Wenn sich Gehirne ab einer gewissen Evolutionsstufe beschleunigt in Richtung hochkomplexer Strukturen entwickelt haben, dann wegen ihrer Überlegenheit bei der Rekonstruktion von arteigenem Verhalten und der daraus gewonnen flexibleren Verhaltenssteuerung. Und gewiss nicht, weil sie, in Scheiben geschnitten, ein bisschen anders aussehen.

(Das mit der flexiblen Verhaltenssteuerung hab ich übrigens geschrieben, bevor ich Deinen abschließenden Satz las. Mach ich immer so: Ich klicke auf "Zitieren" und arbeite dann von oben bis unten alles ab. So ist ein an mich gerichteter Beitrag fertig beantwortet, sobald ich ihn zu Ende gelesen habe... :^^: )


Myron hat geschrieben:Diese sind in meinen Augen sehr wohl kausal wirksam, d.h. verhaltensrelevant (halt nur nicht kraft ihrer phänomenalen Seite!)

Es gibt keine "zwei Seiten einer Medaille", sondern nur emergente Eigenschaften unterschiedlich komplexer Systeme.


Myron hat geschrieben:sodass es keinen überzeugenden Grund gibt, daran zu zweifeln, dass sie zu tatsächlichen Anpassungsvorteilen geführt haben.

Doch, denn Neuronen kapieren nicht, was sie tun. Nur neuronale Netze mit hinreichender Komplexität können das. Und am besten lernen eben selbstbewusste Strukturen.

Myron hat geschrieben:Denn ein Lebewesen, das mittels seiner Erlebnisse, d.h. seiner bewussten Selbst- und Umweltwahrnehmungen, kontinuierlich über sich und seine Umwelt informiert wird, kann erheblich flexibler auf die herrschen Lebensbedingungen reagieren.

Und da sind wir uns nun wieder völlig einig! :up:
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ostfriese » Fr 21. Nov 2008, 01:20

Falk hat geschrieben:Du siehst das vielleicht auch: wenn diese dualistische Intuition fehlt, dieses Offensichtliche des Subjektiven, wie ihr beide es in vielen Beiträgen beschreibt, dann ist Emergenz kein auch nur im Ansatz brauchbarer Ansatz.

Hast Du weiter oben meine sechs Erklärungen für das Bremsen eines Autos am Stau-Ende gelesen? Damit habe ich deutlich machen wollen, dass wir alle intuitiv Emergentisten sind (ob wir das nun erkennen/ zugeben oder nicht) und dass diese Intuition für eine erfolgreiche Rekonstruktion der Welt auch äußerst nützlich, ja unverzichtbar ist.

Falk hat geschrieben:
ostfriese hat geschrieben:Und im übrigen auch die gesamte Medizin, Biologie, Chemie usw., die ja unter strengen Reduktionisten als völlig überflüssige Disziplinen gelten müssten.

Vorsicht! Du vermischst Dinge, deren Vermischung du dir nicht leisten kannst. Als Verfechter von Qualia solltest du dir der Unterschiede bewusst sein.

Von welchen Unterschieden sprichst Du hier? Was soll ich Deiner Meinung nach vermischt haben?

Falk hat geschrieben:
ostfriese hat geschrieben:"As philosophers we find this sort of refutation unsatisfying because it is too simple, so we invent more complex arguments to make the same point, about bats and colors and inverted spectra and qualia and Chinese Rooms and so on."

Mit anderen Worten: Die Philosophie dreht sich an diesem Punkt im Kreise.

Und deswegen sind die Neurologie und ähnliche Disziplinen the way to go. Das Zitat spricht meines Erachtens ziemlich deutlich gegen deine Position, nicht dafür.

Nee, Du hast ja behauptet, ich würde angesichts meines Beharrens auf der Nichtreduzierbarkeit selbstbewusster Systeme 20 Jahre philosophischen Fortschritt missachten; wenn das Zitat aber nun aussagt, dass es in dieser Frage gar keinen Fortschritt gibt, dann legitimiert es ja genau mein Beharren! :^^:

Die Neurowissenschaften haben jedenfalls keine Antwort auf die Frage nach der Reduzierbarkeit subjektiver Qualitäten. Hirnforscher, die das dennoch behaupten, sind höchstwahrscheinlich der philosophischen Debatte unkundig oder haben Entscheidendes nicht verstanden.

Falk hat geschrieben:
ostfriese hat geschrieben:Danke für den Tipp. Allerdings weiß ich auch ohne es gelesen zu haben, dass man mir die Realität irreduzibler Systeme mit subjektiven Qualitäten ebenso wenig ausreden wird wie meine eigene Existenz überhaupt.

Theologe! :anmachen:

Du kannst ja mal von Tür zu Tür durch die Lande ziehen und Leuten empfehlen, ihrer eigenen Existenz etwas skeptischer gegenüber zu stehen. Allerdings solltest Du darauf gefasst sein, dass Dir nicht gerade der Ruf eines weisen Mannes vorauseilen wird... :mg:
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Re: Emergentismus und Physikalismus

Beitragvon ganimed » Fr 21. Nov 2008, 02:12

ostfriese hat geschrieben:Die Trennlinie zwischen Psychischem und Physischem besteht nur in unseren beschreibenden Modellen, nicht in der Wirklichkeit. Es gibt nur eine Substanz, die sich allerdings in Systemen unterschiedlicher Komplexität organisiert.

Hätte ich mir ja denken können, dass mein Rundumangriff auf Philosophen völlig falsch und überzogen war. Sorry. Diesem Zitat zum Beispiel kann ich nur voll und ganz zustimmen. Psychische Phänomene sind demnach nicht wirklich substanziell existent (so verstehe ich es zumindest), sondern sind nur ein Modell für die physischen Vorgänge des Hirns, oder zumindest einigen davon, den bewussten. Das besondere an diesem Modell ist wohl lediglich, dass unser Bewusstsein im Grunde genau dieses Modell generiert, oder vielleicht sogar das Modell ist?

Wie auch immer. Ich bin erleichtert, dass bei genauerem Hinsehen eigentlich niemand hier wirklich Dualist ist, und dass ich die dualistischen Anklänge, besonders bei den Beiträgen von Myron, wohl größtenteils selber hineingelesen habe. Aber wenn ich wirklich immer alles gründlich lesen und dann erst sorgsam nachdenken würde, käme ich ja nie zum Blödsinn schreiben :^^:

Falk hat geschrieben:wenn diese dualistische Intuition fehlt, dieses Offensichtliche des Subjektiven, wie ihr beide es in vielen Beiträgen beschreibt, dann ist Emergenz kein auch nur im Ansatz brauchbarer Ansatz. Ich frage mich ernsthaft, woher diese Diskrepanz zwischen meinen Intuitionen und denen fast aller anderen kommt.

Das spricht mir aus der Seele. Auch ich erlebe immer wieder verblüfft, wie ich die eigenartigen dualistischen Ansichten meiner Umgebung für unfassbar unverständlich und falsch halte. Könnte in der Tat an dem völligen Fehlen einer dualistischen Intuition liegen, so habe ich das noch gar nicht betrachtet. Und auch mich würde interessieren, welche Breisorten man als Kind gegessen haben muss, um so undualistisch zu werden. Falk, wann ist dein Buch darüber fertig? Ich kaufe es bei Erscheinen.
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