folgsam hat geschrieben: Wie ich schon sagte: Auch wenn Mersch mit dem was er behauptet Recht behält, ist das nicht dazu geeignet mich vom Hocker zu reißen.
Nun ja, ich sagte es bereits: Das was er entwickelt hat, ist ein neues Weltbild. Die Gehirnforscher deuten es doch bereits an: Möglicherweise gibt es gar keinen freien Willen. Möglicherweise laufen im Gehirn nur irgendwelche fortwährenden Adaptionsprozesse ab, die bei uns den Eindruck hinterlassen, wir steuerten all dies selbst. Dabei werden wir innerlich durch physikalisch/chemische Reaktionen gesteuert.
Mersch hat nun eine allgemeine Evolutionstheorie entwickelt, die darlegt, wie die gesamte uns bekannte Welt (hier auf der Erde) sich quasi wie von selbst (ab dem Punkt, an dem es Leben gab) zu dem entwickelt hat, was jetzt da ist: durch eigendynamische Prozesse, die bestimmten Grundprinzipien genügen, die er alle beschrieben hat. Auf S. 19 des PPT-Vortrages, dessen URL ich gepostet hatte, werden die 4 Prinzipien (Akteursbildungsprozess bei dem Kooperation und die Ausbildung von Eigeninteressen zentral sind, 3 Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie; 2 Wettbewerbskommunikationen: dominant/Gefallen-wollen; Bildung von neuen Evolutions/Lebensräumen auf Basis der Gefallen-wollen-Kommunikation) gelistet. Mit diesen Prinzipien kann man quasi erklären, wie "alles" auf dieser Erde entsteht und evolviert.
Bedauerlich fand ich, wie reserviert man hier den von ihm dargelegten Reproduktionsinteressenkonzept gegenüber steht. Es wurde immer wieder der Versuch unternommen, hierin etwas Psychologisches zu sehen, selbst von Leuten, die sich als Anhänger der Theorie der egoistischen Gene und der Memetik outeten.
In der gesamten Evolutionsbiologie dominiert zurzeit die reine Gen-Sicht. Alle Evolutionsprozesse werden nicht nur vom Individuum, sondern gar von den Genen aus betrachtet. Wenn also sich verschiedene Individuen bei der Aufzucht von Jungen gegenseitig helfen, dann müssen dabei die Gene am Werk sein, in diesem Fall im Rahmen einer Verwandetenselektion.
Die Fitness eines Individuums wird dann sehr stark über innere erbliche und damit individuelle Eigenschaften definiert, denn nur die würden bei der Fortpflanzung weitergegeben, Erworbenes dagegen angeblich nicht (ich frage mich immer wieder, wie man denn dann den Sozialisationsprozess verstehen soll).
Mersch behauptet nun aber, dass der Fortpflanzungserfolg nicht nur über diese innere Fitness bestimmt wird, sondern ggf. über eine soziale Komponente, die er im Begriff Reproduktionsinteresse zusammenfasst, und die möglicherweise nicht über die Gene weitergegeben wird. Das ist ein viel allgemeinerer Ansatz als etwa die Verwandtenselektion, weil er auch eine nichtgenetische Aufteilung der Reproduktionsarbeit unterstützt. Seine grundsätzliche Aussage ist (um sie mal etwas anders zu formulieren): Soziale Gemeinschaften sind im Grunde solange evolutionsfähig, solange die Fitness nichtnegativ mit dem Reproduktionsinteresse korreliert. Konkret heißt das: Eine biologische Art, die zunächst ihre Alpha-Tiere ausfechtet, diese dann aber auf die Jagd schickt (da sie dazu am besten geeignet sind), während die Omega-Tiere die Fortpflanzung erledigen, ist langfristig nicht stabil, macht sie es dagegen genau umgekehrt (wie einige Hundearten), dann kann sie weiter evolvieren. Wir Menschen machen es so, wie im ersten Fall. Eine indirekte Konseqenz daraus ist (und da beginnt dann die Politik): Man kann die gesellschaftliche Reproduktion nicht nach Belieben organisieren. Dawkins hat es sich demgegenüber sehr leicht gemacht: Er hat offenkundige Widersprüche in menschlichen Gesellschaften gegenüber seiner Theorie der egoistischen Gene ignoriert und stattdessen einfach gesagt: Wir Menschen allein sind in der Lage, uns gegen unsere egoistischen Gene und auch Meme aufzulehnen. Ja wenn Wissenschaft immer so einfach wäre!
Man kann es drehen und wenden wie man will: Hier hat jemand einen echten Durchbruch geschafft. Deine Reaktion kann ich zwar verstehen, entsetzt mich aber auch ein wenig. Man scheint heute überhaupt nicht mehr bereit zu sein, mal ganz einfach sachlich und ideologiefrei über ein Konzept zu reden. Es geht nach ganz kurzer Zeit nur noch um die Frage: Was beabsichtigt der Autor damit eigentlich? Möglicherweise will er nur Bücher verkaufen (dann hätte er m. E. Feuchtgebiete schreiben sollen). Möglicherweise hat er nur politische Absichten. Ich vermisse in dieser Gesellschaft, die simple Bereitschaft, einem anderen einmal zuzuhören: Was sagt der eigentlich? Könnte das wichtig sein? Ist das vielleicht wirklich etwas Neues? Das scheint es nicht mehr zu geben. Warum erwarten wir dann, man sollte überhaupt noch jemandem zuhören? Warum sollte man einem HartzIV-Empfänger zuhören?
Und deshalb bin ich mir ziemlich sicher, wird es unsere Gesellschaft in 50 Jahren nicht mehr geben. Es ist dann jedenfalls keine Demokratie mehr. Denn eine Demokratie kann man nur mit Demokraten führen.