Grundrechte

Grundrechte

Beitragvon stine » Fr 29. Jan 2010, 15:00

Ich habe mir erlaubt, Julias Antwort auf mein Post in einen neuen Thread zu verlagern, da ich es interessant finde, mal die Grundrechte wieder etwas genauer zu betrachten.

Julia hat geschrieben:
stine hat geschrieben:Wenn ich selbstgewählte Regeln nicht leben darf, aber aufgezwungene leben muss?

Das Problem fängt dann an, wenn du deine selbstgewählten religiösen Regeln der Gesellschaft oder deinen Kindern aufzwingen willst, davor schützt einen dann das Grundgesetz.


Hierzu zitiere ich Artikel 2.1 und 2.2:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.


Artikel 4.1:
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.


Artikel 6.1
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

Nun stellen sich mir folgende (provokante) Fragen:
Welches Sittengesetz ist in Artikel 2.1 gemeint? Gibt es überhaupt eins? Und wie ist es begründet?
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, trifft das auch auf Ungeborene zu?
Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich doch hat die ungestörte Religionsausübung Grenzen?
Ehe und Familie haben einen besonderen Schutz, welcher wäre das heute noch?
Wenn nun also Kinder durch religiöse Erziehung in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, warum ist diese dann nicht prinzipiell verboten, sondern freigestellt?
Und mal blöd geftagt: dürfen Kinder überhaupt erzogen werden, ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen?

Ich sehe hier durchaus Widersprüche.

LG stine :hust:
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Re: Grundrechte

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Fr 29. Jan 2010, 16:38

IIRC (ist lange her, hast du in der Schule geschlafen?)
stine hat geschrieben:Welches Sittengesetz ist in Artikel 2.1 gemeint? Gibt es überhaupt eins? Und wie ist es begründet?

Nicht ein Gesetz (ein Paragraf) sondern ganz allgemein "die guten Sitten"
stine hat geschrieben:Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, trifft das auch auf Ungeborene zu?
Nein, erst mit der Geburt wird man juristisch zum Menschen, im christlichen Glauben erst mit der Taufe. :santagrin:
stine hat geschrieben:Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich doch hat die ungestörte Religionsausübung Grenzen?
natürlich, würdest du lesen und verstehen was du kopierst ... Art. 2.1 z.B.
stine hat geschrieben:Ehe und Familie haben einen besonderen Schutz, welcher wäre das heute noch?
der selbe wie vor 50 Jahren, abzüglich der damaligen gesetzlich festgeschriebenen Unterdrückung der Ehefrau
stine hat geschrieben:Wenn nun also Kinder durch religiöse Erziehung in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, warum ist diese dann nicht prinzipiell verboten, sondern freigestellt?
Lobbyarbeit der Kirchen vermutlich.
stine hat geschrieben:Und mal blöd geftagt: dürfen Kinder überhaupt erzogen werden, ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen?
Natürlich. :erschreckt: Aber ob das geht?
Sinnvoll wäre die Frage gewesen:
dürfen Kinder überhaupt erzogen werden, da (alternativ wenn) ihnen damit Teile ihrer Freiheit genommen werden?
oder
sollen Kinder überhaupt erzogen werden, da (alternativ wenn) ihnen damit Teile ihrer Freiheit genommen werden?
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Re: Grundrechte

Beitragvon Zappa » Fr 29. Jan 2010, 17:11

stine hat geschrieben:Welches Sittengesetz ist in Artikel 2.1 gemeint? Gibt es überhaupt eins? Und wie ist es begründet?


Sittengesetz ist ein wenig exakter Begriff. Gemeint ist der "common sense", die sittliche Übereinkunft der Gesellschaft. Die Eckpfeiler sind in Gesetzen festgelegt, die Sitte geht aber darüber hinaus. Im Recht kann ich ja nur einfordern, was rechtlich festgelegt ist, im Rahmen der Moral oder Sitte sind die Ansprüche etwas höher: Ich kann verlangen, das mein Gegenüber mich nicht betrügt, missbraucht, eine gewisse Ehrlichkeit mir gegenüber aufweist. Das ist damit gemeint. Falls es zum Verfahren kommt, hat der Richter hier durchaus Ermessensspielraum. Gemeint ist mit diesem Passus vor allem: Nicht alles was nicht verboten ist (Recht) ist erlaubt (Sitte)!

stine hat geschrieben:Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, trifft das auch auf Ungeborene zu?


Im Prinzip ja, die Einschränkungen dieser Regelung sind in §218 des GG geregelt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt im Übrigen wie alle Rechte nicht absolut und ist z.B. im Rahmen der Abtreibung, Notwehr oder ärztlicher Eingriffe begrenzt.

stine hat geschrieben:Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich doch hat die ungestörte Religionsausübung Grenzen?


Grenzen hat alles im Recht, zuvorderst durch die Rechte der Anderen :mg:

stine hat geschrieben:Ehe und Familie haben einen besonderen Schutz, welcher wäre das heute noch?


Oh, da gibt es noch einiges im Erbrecht, Steuerrecht und Versicherungswesen (u.a. Krankenversicherung).

stine hat geschrieben:Wenn nun also Kinder durch religiöse Erziehung in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, warum ist diese dann nicht prinzipiell verboten, sondern freigestellt?
Und mal blöd geftagt: dürfen Kinder überhaupt erzogen werden, ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen?
Ich sehe hier durchaus Widersprüche.


Ja, im Prinzip ein Spannungsfeld. Erziehung greift natürlich in die Freiheitsrechte der Kinder ein, manchmal massiv (z.B. im Rahmen dyssozialer Verhältnisse). Der Gesetzgeber musste sich nun festlegen, was wichtiger ist: Das Erziehungsrecht der Familie oder die des Staate. Oder anders gefragt: Ab wann dürfen/sollen staatliche Institutionen zum Wohle des Kindes in das Erziehungsrecht der Eltern eingreifen.

Wohl aufgrund der Erfahrungen mit totalitäreren Regime, hat man sich entschlossen den Einfluss des Staates im wesentlichen auf die Schulbildung zu begrenzen und den Eltern relativ große Freiräume, bis hin zum Recht des weitgehenden Versagens :nosmile: , einzuräumen.

Nebenbei bemerkt: Für Knallköppe, die der Meinung sind Ihre Ideologie hielte dem in der Schule gelehrten common sense nicht stand, habe ich überhaupt kein Verständnis.
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Re: Grundrechte

Beitragvon Nanna » Fr 29. Jan 2010, 18:24

stine hat geschrieben:Und mal blöd geftagt: dürfen Kinder überhaupt erzogen werden, ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen?

Ich sehe hier durchaus Widersprüche.

Ich denke, hier muss man wohl in etwas größerem Rahmen denken: Die Kinder, von denen wir sprechen, sollen ja zu Menschen werden, die zu den im Grundgesetz geäußerten Werten und Zielen loyal sind. Wenn ich einem Kind nicht beibringe, dass es bei Rot nicht über die Ampel gehen darf, dann verstoße ich im weitesten Sinne gegen dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wenn ich ihm nicht beibringe, dass es andere Kinder im Sandkasten nicht schlagen darf, dann ziehe ich einen Menschen heran, der über kurz oder lang zu jemandem werden wird, der nicht mehr zum Grundgesetz loyal ist, der also die dort geäußerten Grundrechte seinerseits nicht achten wird.

Die Frage ist, inwieweit die Unselbstständigkeit eines Kindes die Fähigkeit zum Gebrauch von Freiheitsrechten einschränkt und welche Freiheitsrechte im Besonderen betroffen sind. Kinder gelten allgemein als noch nicht in der Lage, die Realität angemessen beurteilen und durchschauen zu können, weshalb man gewisse Dinge für sie tun und entscheiden muss. Im Gegenzug sind sie dafür vor Strafverfolgung geschützt, selbst, wenn sie schwere Gesetzesbrüche begehen. In gewissen Punkten, z.B. in der Frage, wer sie wo berühren darf, was sie essen und trinken wollen oder wie sie ihre Freizeit gestalten, müssen die Freiheitsrechte von Kindern dagegen durchaus ernst genommen werden. Kinder sind Schutzbedürftige, denen die Welt erst erklärt werden muss und es ist Aufgabe der Eltern ODER des Staates, wenn die Eltern es nicht (mehr) können, ihnen eine ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand angemessene Fülle und Intensität an Erfahrungen zu ermöglichen, sie aber vor Gefährdung zu schützen - auch gegen ihren Willen. Das geht bei Erwachsenen, z.B. akut Suizidgefährdeten, übrigens durchaus auch noch.
Zudem gibt es noch etwas sehr wichtiges: Das verantwortliche Wahrnehmen von Freiheitsrechten (die Freiheit ist im Interesse des Individuums, dass es damit verantwortlich umgeht, ist im Interesse aller, also der Gesellschaft) muss erlernt werden. Dazu gehören in erster Linie Toleranz (zu lernen, das andere auch Freiheitsrechte haben), Pluralität (mit verschiedenen Konzepten in Berührung kommen, damit überhaupt erst die Möglichkeit entsteht, das passendste für sich selbst auszuwählen), Kreativität (eigene Konzepte entwickeln, (Selbst-)Kritikfähigkeit (Konzepte hinterfragen lernen), ergo auch Kompromissfähigkeit, ein gerüttelt Maß an methodischer Kompetenz (Fähigkeiten, um die Realitätsnähe zu bestimmen und seine Konzepte erfolgreich umsetzen zu können) und natürlich kompetentes Sozialverhalten und Ausdrucksvermögen, damit all diese Fähigkeiten in einen sozialen Kontext eingebettet werden können. Solange man das nicht kann, sind Freiheitsrechte für den Eimer, weil in kürzester Zeit Anarchie und / oder Totalitarismus die Folge wären und damit wären die Freiheitsrechte ja sofort wieder hinfällig. Man muss einen Menschen also zur Freiheit erziehen, auch wenn das heißt, dass man ihm in jungen Jahren Dinge vorschreiben muss. Das ist ethisch (und auch juristisch) so lange gerechtfertigt, wie es tatsächlich dem Ziel dient, einen freien Erwachsenen heranzuziehen.

Was kaum mehr angemerkt werden muss: Das Indoktrinieren mit "letzten" Wahrheiten, religiösen Dogmen, machtausübenden Pflichtritualen, aber auch subtiler Manipulation ("Du kannst dich ja gerne für einen anderen Weg entscheiden, aber nur mit Jesus ist man wahrhaft frei.") ist mit diesem Verständnis von freiheitlicher Erziehung nicht zu vereinbaren. Die Eltern dürfen dem Kind zwar klarmachen, dass sie eine bestimmte Weltsicht bevorzugen, aber sobald sie direkt oder indirekt andeuten, dass mit dem Ablehnen dieses Weltbildes auch ein Liebes- und Loyalitätsentzug ihrerseits einhergeht, verstoßen die Eltern gegen den Freiheits- und Toleranzgedanken der Grundrechte.
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Re: Grundrechte

Beitragvon stine » Fr 29. Jan 2010, 18:51

So weit bin ich mit euch konform.
Nur, ab wann darf (muss) also der Staat eingreifen?
Zwangsverheiratung dürfte noch erkennbar gegen das hiesige Recht verstoßen, aber auch die Erziehung eines männlichen Kindes zum Vorsteher seiner Geschwister, mit allen Konsequenzen, dürfte nicht ganz unseren Sitten entsprechen. Unsere westeuropäischen Sitten und Gebräuche werden aber hier allzu oft dem besonderen Schutz der Ehe und Familie hinten an gestellt und schlimmer noch, es wird darauf gehofft, dass kulturelle Unterschiede irgendwie mit dem Recht auf persönliche Freiheit abzudecken sind.
Ich meine, wo erkennbar die Freiheit einer Person eingeschränkt wird, ist das hier bei uns ein Fall für die Gerichte, auch wenn dies familiär und kulturell begründet scheint?
Multikulti doch nicht so ungefährlich?
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Re: Grundrechte

Beitragvon platon » Sa 30. Jan 2010, 00:01

Warst Du bisher der Meinung, die Grundrechte seien glasklare, nicht diskutierbare Vorgaben, die keiner Interpretation bedürfen? Wo lebst Du?
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Re: Grundrechte

Beitragvon stine » Sa 30. Jan 2010, 14:18

Der Meinung war ich nicht, aber dass die Grundrechte sowenig eingehalten werden müssen scheint mir jetzt doch etwas suspekt. :pueh:
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Re: Grundrechte

Beitragvon platon » Sa 30. Jan 2010, 18:30

Wer will Dich zwingen, Grundrechte einzuhalten? Dein Gott?
Du kannst dafür zur Verantwortung gezogen werden, wenn Du die Grundrechte anderer Menschen verletzt, aber Dich zwingen, sie einzuhalten? Wie soll das funktionieren?
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