stine hat geschrieben:Und mal blöd geftagt: dürfen Kinder überhaupt erzogen werden, ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen?
Ich sehe hier durchaus Widersprüche.
Ich denke, hier muss man wohl in etwas größerem Rahmen denken: Die Kinder, von denen wir sprechen, sollen ja zu Menschen werden, die zu den im Grundgesetz geäußerten Werten und Zielen loyal sind. Wenn ich einem Kind nicht beibringe, dass es bei Rot nicht über die Ampel gehen darf, dann verstoße ich im weitesten Sinne gegen dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wenn ich ihm nicht beibringe, dass es andere Kinder im Sandkasten nicht schlagen darf, dann ziehe ich einen Menschen heran, der über kurz oder lang zu jemandem werden wird, der nicht mehr zum Grundgesetz loyal ist, der also die dort geäußerten Grundrechte seinerseits nicht achten wird.
Die Frage ist, inwieweit die Unselbstständigkeit eines Kindes die Fähigkeit zum Gebrauch von Freiheitsrechten einschränkt und welche Freiheitsrechte im Besonderen betroffen sind. Kinder gelten allgemein als noch nicht in der Lage, die Realität angemessen beurteilen und durchschauen zu können, weshalb man gewisse Dinge für sie tun und entscheiden muss. Im Gegenzug sind sie dafür vor Strafverfolgung geschützt, selbst, wenn sie schwere Gesetzesbrüche begehen. In gewissen Punkten, z.B. in der Frage, wer sie wo berühren darf, was sie essen und trinken wollen oder wie sie ihre Freizeit gestalten, müssen die Freiheitsrechte von Kindern dagegen durchaus ernst genommen werden. Kinder sind Schutzbedürftige, denen die Welt erst erklärt werden muss und es ist Aufgabe der Eltern ODER des Staates, wenn die Eltern es nicht (mehr) können, ihnen eine ihrem Alter und ihrem Entwicklungsstand angemessene Fülle und Intensität an Erfahrungen zu ermöglichen, sie aber vor Gefährdung zu schützen - auch gegen ihren Willen. Das geht bei Erwachsenen, z.B. akut Suizidgefährdeten, übrigens durchaus auch noch.
Zudem gibt es noch etwas sehr wichtiges: Das verantwortliche Wahrnehmen von Freiheitsrechten (die Freiheit ist im Interesse des Individuums, dass es damit verantwortlich umgeht, ist im Interesse aller, also der Gesellschaft) muss erlernt werden. Dazu gehören in erster Linie Toleranz (zu lernen, das andere auch Freiheitsrechte haben), Pluralität (mit verschiedenen Konzepten in Berührung kommen, damit überhaupt erst die Möglichkeit entsteht, das passendste für sich selbst auszuwählen), Kreativität (eigene Konzepte entwickeln, (Selbst-)Kritikfähigkeit (Konzepte hinterfragen lernen), ergo auch Kompromissfähigkeit, ein gerüttelt Maß an methodischer Kompetenz (Fähigkeiten, um die Realitätsnähe zu bestimmen und seine Konzepte erfolgreich umsetzen zu können) und natürlich kompetentes Sozialverhalten und Ausdrucksvermögen, damit all diese Fähigkeiten in einen sozialen Kontext eingebettet werden können. Solange man das nicht kann, sind Freiheitsrechte für den Eimer, weil in kürzester Zeit Anarchie und / oder Totalitarismus die Folge wären und damit wären die Freiheitsrechte ja sofort wieder hinfällig.
Man muss einen Menschen also zur Freiheit erziehen, auch wenn das heißt, dass man ihm in jungen Jahren Dinge vorschreiben muss. Das ist ethisch (und auch juristisch) so lange gerechtfertigt, wie es tatsächlich dem Ziel dient, einen freien Erwachsenen heranzuziehen.
Was kaum mehr angemerkt werden muss: Das Indoktrinieren mit "letzten" Wahrheiten, religiösen Dogmen, machtausübenden Pflichtritualen, aber auch subtiler Manipulation ("Du kannst dich ja gerne für einen anderen Weg entscheiden, aber nur mit Jesus ist man wahrhaft frei.") ist mit diesem Verständnis von freiheitlicher Erziehung nicht zu vereinbaren. Die Eltern dürfen dem Kind zwar klarmachen, dass sie eine bestimmte Weltsicht bevorzugen, aber sobald sie direkt oder indirekt andeuten, dass mit dem Ablehnen dieses Weltbildes auch ein Liebes- und Loyalitätsentzug ihrerseits einhergeht, verstoßen die Eltern gegen den Freiheits- und Toleranzgedanken der Grundrechte.