2 Wie erkennen oder bestimmen wir das Gute?
Eine klassische Definition des Guten, die auf Platon (427-347 v.Chr.) und Aristoteles (384-322 v.Chr.) zurück geht, besagt: „Das Gute ist das, wonach alles strebt“. Aus dem offensichtlichen Ungenügen dieser wie auch manch anderer mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit formulierten Begriffsbestimmungen kann man den Schluss ziehen, dass sich das Gute explizit überhaupt nicht erschöpfend definieren lässt. Nach jedem fehlgeschlagenen Versuch bleibt ein gewisser „Bedeutungs-Überschuss“ zurück, durch den der Begriff des Guten sämtliche seiner Definitionen überragt; der Philosoph Richard M. Hare (*1919) bezeichnete ihn deshalb als supervenient und aus diesem Grund als nur implizit erläuterungsfähig (7, 8). Das Gute ist multipel realisierbar und kann deshalb auf abstraktem Wege nicht umfassend bestimmt werden.
Nach welchen Prinzipien sind Moralsysteme dann überhaupt legitimer Weise konstruierbar? Dabei geht es mir nicht um die tatsächliche Entscheidung zwischen gut oder schlecht, richtig oder falsch, also um Moral, sondern vielmehr um die elementaren methodischen Voraussetzungen jedes sinnvollen ethischen Diskurses. Welche wissenschaftlich-systematischen Vorstellungen gibt es über die biologischen, psychologischen, intellektuellen oder sozialen Grundlagen menschlicher Wertentscheidungen? Drei Theorien möchte ich Ihnen jetzt in gebotener Kürze vorstellen, nämlich den Kognitivismus, den Emotivismus und den Institutionalismus.
2.1 Kognitivismus
Nach kognitivistischer Auffassung haben ethische Aussagen denselben Rang wie solche Sätze, mit denen wir eine empirische Erkenntnis oder einen logischen Schluss ausdrücken: Das Verfassungspostulat „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wäre nach dieser Theorie prinzipiell nicht anders zu beurteilen wie die Feststellung „Das Fell des Katers ist schwarz“ oder der mathematische Satz „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180O“. Die kognitivistische Theorie hat zum einen den Vorteil, dass sie mit den syntaktischen Regeln unserer Sprache („Die Eigenschaft A des Objekts B hat die Ausprägung C“) überein stimmt. Zum anderen korrespondiert der ethische Kognitivismus mit unserer Alltagserfahrung, die wir gerne als den „gesunden Menschenverstand“ bezeichnen. Die Mehrheit der Philosophen von Platon über Aristoteles bis zu dem britischen Ethiker George Edward Moore (1873-1958) kann zu den Vertretern kognitivistischer Positionen gerechnet werden, die in ihrer Konsequenz zu einem ethischen Objektivismus führen. Der Inhalt moralischer Aussagen ist demnach entweder eindeutig wahr oder eindeutig falsch, weil er mit moralischen Tatsachen übereinstimmt, die ihrerseits in der äußeren Realität objektiv existieren.
Vor allem zwei scheinbar kleine, aber äußerst hässliche Schwierigkeiten haben den Kognitivismus jedoch in Misskredit gebracht. Die erste betrifft das Problem der Wahrnehmung moralischer „Tatsachen“. Die physiologisch bekannten Sinnesorgane des Menschen sind hierfür offenbar ungeeignet; der Kognitivist muss sich deshalb hilfsweise zur Existenz einer „höheren“, metaphysischen Art der Wahrnehmung bekennen, der Intuition. Gerade die wichtige Rolle der Intuition aber widerspricht ihrerseits dem Objektivitätsanspruch, den der Kognitivist erhebt. Die zweite Schwierigkeit besteht in der Ableitung normativer Regeln aus Tatsachenbehauptungen. Nach dem Gesetz von der Unableitbarkeit eines Sollens aus einem Sein, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals der schottische Philosoph David Hume (1711-1776) aufgestellt hat, ist der logisch zwingende, also deduktive Schluss von einer feststellenden auf eine normative Aussage unmöglich, da hierbei die Schlussfolgerung durch den Inhalt der Prämissen nicht gedeckt würde. Die Vertreter des ethischen Kognitivismus sind aber ganz im Sinne dieses naturalistischen (G.E. Moore, 1903) oder besser faktizistischen (A.W. Bauer, 1998) Fehlschlusses darauf angewiesen, aus moralischen „Tatsachen“ in deduktiver Weise verbindliche moralische Gebote bzw. Verbote zu entwickeln.
2.2 Emotivismus
Eine radikale Konsequenz aus diesen Widersprüchen ziehen die Anhänger des Emotivismus, unter denen sich der eben genannte Philosoph David Hume (9) befindet. Für den Emotivisten gibt es keine objektiven moralischen Aussagen; nach seiner Meinung beschreibt deshalb etwa der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ keine kognitiv erfassbare Realität, er ist vielmehr das literarische Resümee eines subjektiven Gefühls, einer Emotion. Sowohl der deskriptive Emotivismus bei Hume als auch seine modernen Varianten, etwa die feministisch geprägte Care-Ethik (10), lassen nun allerdings einen verbindlichen Diskurs beinahe aussichtslos erscheinen, denn wenn moralische Aussagen lediglich subjektive, individuelle Gefühle widerspiegelten, dann ließe sich über sie weder vernünftig streiten noch könnte man aus ihnen gar allgemeingültige Bewertungs- oder Handlungsnormen ableiten.
2.3 Institutionalismus
Einen Weg aus den Sackgassen sowohl des Kognitivismus als auch des Emotivismus verspricht schließlich der Institutionalismus, wie ihn 1969 der kalifornische Philosoph John R. Searle (*1932) durch den Begriff der institutionellen Tatsache eingeführt und der Schweizer Philosoph Rafael Ferber auf den Bereich der moralischen Tatsachen ausgedehnt hat (7, 11). Moralische Tatsachen sind demnach keine objektiven physischen oder metaphysischen Realitäten, wie es der Kognitivismus behauptet. Sie sind aber auch nicht bloß subjektive psychische Phänomene, die andere Personen allenfalls zur Nachempfindung oder zur Nachahmung anregen können. Moralische Tatsachen müssen vielmehr als von Menschen historisch geschaffene soziale Institutionen angesehen werden, die innerhalb einer Kultur- und Sprachgemeinschaft nach bestimmten Regeln intersubjektiv konstituiert, stabilisiert, tradiert und modifiziert werden. Diese Regeln folgen der Struktur „A gilt als B im Kontext der Gemeinschaft C“. Institutionelle Tatsachen (institutional facts) sind auf eine bestimmte Art und Weise interpretierte rohe Tatsachen (brute facts), in ihnen gehen Lebenswelt und Sprachwelt eine konkrete normative Verbindung ein, die indessen nicht starr und unauflöslich ist.
Institutionelle Tatsachen werden von Menschen gemacht. Sie enthalten zugleich aber Normen, deren Nichtbefolgung oft Sanktionen nach sich zieht. Die moralischen Gefühle und Überzeugungen des einzelnen Menschen werden normaler Weise in den vorhandenen institutionellen Rahmen gut integriert. Sie sind also nicht etwa irrational und rein subjektiv, sondern sie entstehen im Rahmen des individuellen Sozialisationsprozesses durch Verinnerlichung konstitutiver Regeln der umgebenden Sprach- und Rechtsgemeinschaft. Daher erscheint der Institutionalismus gegenwärtig als diejenige ethische Theorie mit dem relativ größten Erklärungspotential für die Entstehung moralischer Werte und mit dem entscheidenden Vorteil empirischer Prüfbarkeit bei gleichzeitig sehr geringer dogmatischer Vorbelastung.
3 Sind also alle moralischen Werte relativ?
Müssen wir aus dem ethischen Institutionalismus nun folgern, dass unsere moralischen Werte völlig beliebig und relativ sind, also „gleichwertig“ (oder gleichermaßen wertlos) im wörtlichen Sinne? Dies wäre womöglich eine fatale Konsequenz, die uns jedoch vor allem von Seiten der sogenannten „postmodernen“ Philosophie nahe gelegt werden könnte. Zum Glück beruht diese Philosophie – wie 1999 Alan Sokal und Jean Bricmont in ihrem Buch Eleganter Unsinn (12) eindrucksvoll gezeigt haben – auf unhaltbaren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wie etwa auf dem Trugbild einer ontologischen Reduktion der Außenwelt auf ein reines Sprachspiel sowie auf der Leugnung des Unterschieds zwischen rohen (oder „natürlichen“) und institutionellen Tatsachen. So kommt es auch, dass die Vertreter dieser antinaturalistischen Wissenschaftsideologie neuere biophilosophische Ansätze wie etwa die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die Evolutionäre Ethik (13, 14, 15) und die Soziobiologie (16) bekämpfen oder ignorieren. Gerade die biophilosophischen Theorien sind jedoch von größter Bedeutung für eine künftige Philosophie des Geistes und somit auch für die Ethik, weshalb es sich gerade im Rahmen des Themas prädiktive Medizin, das ja im engeren Sinne mit den „Genen“ zu tun hat, geradezu anbietet, einen Blick auf diese Theorien zu werfen.
3.1 Evolutionäre Erkenntnistheorie
Die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die auf den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903-1989) sowie auf dessen Schüler Rupert Riedl (*1925) und Franz M. Wuketits (*1955) zurückgeht, beschäftigt sich mit der biologischen Evolution kognitiver Systeme und Fähigkeiten. Sie ist eine naturphilosophische Theorie der phylogenetischen Entwicklung des menschlichen Erkenntnisapparates, die neben der neodarwinischen Evolutionstheorie noch drei weitere Prämissen voraussetzt (17): 1. als Erkenntnistheorie den Hypothetischen Realismus, 2. ein projektives Modell des menschlichen Erkenntnisapparates, wonach im Erkenntnisprozess reale Objekte und Strukturen aus ihren Projektionen rekonstruiert werden und 3. eine naturalistische Theorie von Gehirn und Bewusstsein, nach der Geist, Seele und Bewusstsein emergente biologische Systemeigenschaften des Zentralnervensystems sind. Der Evolutionären Erkenntnistheorie sind bislang keine inneren Widersprüche nachgewiesen worden, und sie verfügt über eine erhebliche Problemlösungspotenz.
Der Philosoph Gerhard Vollmer beschrieb das zu realisierende Programm der Evolutionären Erkenntnistheorie wie folgt: „Gedächtnis und Lernvermögen, Neugier, Abstraktion und Generalisation, Schaffung und Gebrauch von Begriffen, Bildung von Hypothesen, kommunikative Bedürfnisse, Gebrauch einer deskriptiven und argumentativen Sprache, eine kritische Haltung und das Bedürfnis nach intersubjektiver Zustimmung – all das sind in der Tat typisch menschliche Züge, die biologisch verwurzelt und zugleich für die Wissenschaft konstitutiv sind. Hier liegt ein weites Feld, das von einer Evolutionären Neurowissenschaft, einer Evolutionären Psychologie und der Evolutionären Erkenntnistheorie erforscht werden kann und erforscht werden sollte“.
3.2 Evolutionäre Ethik und Soziobiologie
Wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist auch die Evolutionäre Ethik eine „Satellitentheorie“ der allgemeinen Evolutionslehre. Als erklärende Theorie verfolgt die Evolutionäre Ethik keine normativen Ziele. Sie soll vielmehr die historische Entwicklung des empirisch beobachteten sittlichen Verhaltens verständlich machen. Die Evolutionäre Ethik zielt darauf ab, unsere angeborenen Verhaltens- und Handlungsstrukturen, kooperatives Verhalten und Altruismus eingeschlossen, als darwinische Anpassungen an unsere evolutionäre Vergangenheit, vor allem an die Umwelt der Jungsteinzeit, also einer rund 10.000 Jahre zurück liegenden Epoche, zu erklären (18). Sie ist demnach eine soziobiologische Handlungstheorie, indem sie bestimmte Grund- und Rahmenbedingungen für soziale Interaktion auf dem Feld der biologischen Phylogenese des Menschen aufsucht.
Bei einer sachgerechten Anwendung der Evolutionären Ethik muss der Forscher allerdings die Gefahr vermeiden, dass er jenem naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen erliegt, den ich vorhin dargestellt habe. Evolutionäre Ethik ist nur solange ein wissenschaftlich seriöses Verfahren, wie sie deskriptiv arbeitet und normative Festschreibungen vermeidet. Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: Schmerz, Leiden und Sterben sind wertneutrale Mechanismen der biologischen Evolution. Es wäre aber ein logischer Fehlschluss, wenn man aus dieser Tatsache eine Rechtfertigung dafür ableiten würde, dass Menschen – durch ihre Gene gleichsam gezwungen – andere Menschen quälen, foltern oder töten dürften (19). Deskriptive Aussagen können an der Erfahrung überprüft werden und sich dabei bewähren oder aber scheitern. Dagegen können Normen empirisch weder auf Wahrheit noch auf Geltung befragt werden, sondern sie sind lediglich pragmatisch im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit, Lehrbarkeit, Verständlichkeit, und Plausibilität kritisierbar.
Aus dem Sein folgt nicht das Sollen; allerdings auch nicht dessen Gegenteil (das wäre ein kontrafaktizistischer Fehlschluss vom Sein auf das Nicht-Sollen). Wohl aber könnte die Soziobiologie durch methodisch gewonnenes Wissen über die im Lauf der Evolution erworbene menschliche „Neigungsstruktur“ Erkenntnisse über die Grenzen erfüllbarer normativer Forderungen an den Menschen bereitstellen. Das aus der Steinzeit überkommene biologische Erbe bringt Probleme mit sich: Das Natürliche ist in der heutigen Welt eben nicht unbedingt das Gute. Natürliches, das früher vernünftig gewesen sein mag, kann heute sinnlos geworden sein. Was früher das individuelle oder kollektive Überleben förderte, zum Beispiel kriegerische Aggressivität, mag heute kontraproduktiv und selbstzerstörerisch wirken. Die Ursache für dieses Dilemma liegt in der Divergenz zwischen dem äußerst langsamen Tempo der biologischen Evolution und der hohen, sich im Verlauf der Geschichte steigernden Geschwindigkeit des sozialen Wandels begründet (20).