darwin upheaval hat geschrieben:Für mich klingt es noch komischer, wenn jemand behauptet, Mathematiker hätten kein Wissen.
Mathematisches Wissen setzt mathematische Tatsachen voraus; und mathematische Tatsachen setzen mathematische Dinge und deren Eigenschaften sowie Beziehungen voraus. Nun sind mathematische Dinge aber nicht konkret, sondern abstrakt. Und gerade als evolutionistischer Naturalist müsstest du dich fragen, wie solche Dinge mit deinem grundlegenden Weltbild in Einklang gebracht werden können. Wie kann die Natur, das Materie-Energie-Raum-Zeit-System, Dinge hervorbringen, die weder physische noch psychische Dinge sind? (Durch natürliche Selektion wohl kaum.)
Wenn du darüber nachdenkst, wirst du rasch feststellen, dass der mathematische Platonismus mit dem Naturalismus nicht vereinbar ist. Wenn du nun selbst als Antiplatonist immer noch die Wahrheit mathematischer Aussagen wie "3 ist eine Primzahl", "1+ 1 = 2" oder "Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen" behauptest, dann bist du eine Erklärung schuldig, was diese wahr macht, wenn es gar keine Zahlen gibt.
Verteidigst du etwa als "letzter Mohikaner" das Meinong'sche Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Dasein?
"Es unterliegt also keinem Zweifel: was Gegenstand des Erkennens sein soll, muss darum noch keineswegs existieren. Indes könnten die bisherigen Ausführungen immer noch der Vermutung Raum geben, die Existenz könne nicht nur durch den Bestand ersetzt werden, sondern müsse es auch, wo keine Existenz vorliegt. Aber auch diese Einschränkung ist unstatthaft. Das lehrt ein Blick auf die beiden eigentümlichen Leistungen des Urteilens und Annehmens, die ich durch die Gegenüberstellung der 'thetischen und synthetischen Funktion' des Denkens festzuhalten versucht habe. Im ersteren Falle erfasst das Denken ein Sein, im zweiten ein 'Sosein', jedesmal natürlich ein Objektiv, das ganz verständlich dort als Seinsobjektiv, hier als Soseinsobjektiv bezeichnet werden mag. Nun entspräche es gar wohl dem eben berührten Vorurteile zugunsten der Existenz, zu behaupten, dass von einem Sosein jedesmal nur unter der Voraussetzung eines Seins geredet werden dürfte. In der Tat hätte es nicht viel Sinn, ein Haus groß oder klein, eine Gegend fruchtbar und unfruchtbar zu nennen, ehe man wüsste, dass das Haus oder das Land existiert, existiert hat oder existieren wird. Aber die nämliche Wissenschaft, der wir oben die zahlreichsten Instanzen gegen jenes Vorurteil entnehmen konnten, lässt auch besonders deutlich die Unhaltbarkeit eines solchen Prinzips erkennen: die Figuren, von denen die Geometrie handelt, existieren nicht, wie wir wissen; dennoch sind ihre Eigenschaften, also wohl ihr Sosein, festzustellen. Ohne Zweifel wird auf dem Gebiete des bloß a posteriori Erkennbaren eine Soseinsbehauptung sich gar nicht legitimieren können, wenn sie nicht auf ein Wissen von einem Sein gegründet ist: und ebenso sicher mag dem Sosein, das nicht ein Sein gleichsam hinter sich hat, oft genug alles natürliche Interesse fehlen. Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass das Sosein eines Gegenstandes durch dessen Nichtsein sozusagen nicht mitbetroffen ist. Die Tatsache ist wichtig genug, um sie ausdrücklich als das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Seins zu formulieren, und der Geltungsbereich dieses Prinzips erhellt am besten im Hinblick auf den Umstand, dass diesem Prinzipe nicht nur Gegenstände unterstehen, die eben faktisch nicht existieren, sondern auch solche, die nicht existieren können, weil sie unmöglich sind. Nicht nur der vielberufene goldene Berg ist von Gold, sondern auch das runde Viereck ist so gewiss rund, als es viereckig ist."(Meinong, Alexius.
Über Gegenstandstheorie. 1904. In: Alexius Meinong,
Über Gegenstandstheorie & Selbstdarstellung, hrsg. v. Josef M. Werle, 1-51. Hamburg: Meiner, 1988. S. 7-8)
[Fußnote: Mit "Objektiv" meint Meinong das, was andere als "Sachverhalt" bezeichnen.]
Ich bin dagegen der Überzeugung, dass sich auch auf dem Gebiete des
a priori Erkennbaren eine Soseinsbehauptung gar nicht legitimieren kann, wenn sie nicht auf ein Wissen von einem (Da-)Sein gegründet ist, d.h. wenn sie kein (Da-)Sein "hinter sich hat".
Nur Meinong weiß, wie es möglich ist, Eigenschaften zu haben, ohne zu existieren.
Eine Eigenschaft ist eine Art und Weise des Seins, des Beschaffenseins, und es ist völlig rätselhaft und unverständlich, wie etwas soundso beschaffen sein kann, ohne zugleich zu sein.
Ich halte stattdessen (wie fast alle Logiker und Metaphysiker) an dem folgenden Prinzip fest:
KEIN DASEIN OHNE SOSEIN, KEIN SOSEIN OHNE DASEIN!
[]Ax(E!x <–> EYYx)
darwin upheaval hat geschrieben:Denn wie schon mehrfach gesagt: Theorien sind immer partiell falsch.
Wenn eine Theorie eine Menge zusammenhängender Sätze ist, dann kann ein Teilmenge davon falsch sein.
In diesem Sinne kann man von der "partiellen Falschheit" einer Theorie sprechen.
Was einzelne Sätze betrifft, so macht deine Rede von "partieller Wahrheit/Falschheit" bestenfalls im Rahmen einer mehrwertigen Logik Sinn:
http://plato.stanford.edu/entries/logic-manyvaluedOb eine mehrwertige Logik generell "realistischer" ist als die klassische zweiwertige Logik, ist eine Frage, die wir nur in einem neuen Thread vertiefen könnten.
darwin upheaval hat geschrieben:Nach meinen Begriffen weiß auch ein Kreationist um die Evolutionstheorie und ich weiß um den Christen-Gott bescheid, auch wenn die Vertreter der beider Lager die Existenz des hier Gewussten jeweils verneinen. Das Wissen um eine Theorie, die falsch ist, oder um ein Objekt, das fiktiv ist, ist gar nicht so abwegig, wie Du glaubst.
Natürlich kann man wissen, was einer falschen Theorie oder einer frei erdichteten Geschichte nach der Fall ist oder welche Dinge darin "gesetzt" sind. Dieses Wissen ist aber bloß literarisches Wissen über den Inhalt von Texten.
darwin upheaval hat geschrieben:Man muss nur ein wenig umdenken und sich darüber im Klaren sein, dass das res cogitans das Weltbild konstruiert. Demnach gibt es genau so viel richtiges wie falsches Wissen, denn es kann von jeder These die Anti-These konstruiert werden.
Wenn ich weiß, dass p falsch ist, dann weiß ich zugleich, dass ~p wahr ist.
Zu jeder falschen Aussage gibt es also eine wahre Negation.
Aber es gibt nach wie vor kein falsches Wissen neben wahrem Wissen.
(Die Fallibilisten reden nur von
fehlbarem Wissen, nicht von falschem Wissen!)
Das, was du hier als "falsches Wissen" bezeichnest, ist doch nichts weiter als die
Kenntnis des Inhalts einer falschen These oder Theorie. Dein "Wissen-um" ist also schlicht "Kenntnis-von". Und selbstverständlich kann man wissen, was eine falsche These oder Theorie
besagt.
Ich drück's mal Englisch aus:
You can know a false theory, but you cannot know that a false theory is true.
darwin upheaval hat geschrieben:Streng genommen ist daher jedes Wissen ein (partiell) falsches Wissen und somit nach üblicher Definition gar kein Wissen.
Inwiefern ist eine wissenschaftliche Aussage wie "Wasser ist H2O" partiell falsch?
darwin upheaval hat geschrieben:Aber als Wissenschaftler juckt mich das herzlich wenig. Hauptsache, wissenschaftliches Wissen erweist sich als konsistent, erklärungsmächtig und empirisch belegt. Das ist das Beste, was wir überhaupt haben können, völlig gleichgültig, ob Du das als Wissen anerkennst.
Ich gönne den Wissenschaftlern ja ihr Wissen (auch wenn sie nicht wissen, ob es wirklich Wissen ist).
