Lumen hat geschrieben:Natürlich wäre ein vernünftiger Mittelweg der Richtige. Das Problem geht aber da weiter: wer entscheidet, was belanglos ist und was nicht? Das mangelnde Vertrauen in die Politik, Wirtschaft und Medien liegt gerade im Gegenteil: es erscheint leider zu oft der Eindruck, dass eine Clique mittels Hinterzimmerpolitik die Entscheidungen trifft und Wahlergebnisse oder sonst etwas ganz egal ist.
Nun, ich denke, dass du nicht umhin kommen wirst, einzugestehen, dass wir beispielsweise bei internen Papieren des BND oder des Verfassungsschutz keine Volksabstimmung darüber ansetzen können, ob deren Inhalte belanglos sind oder nicht. Kontrolle kann hier nur indirekt erfolgen, indem parlamentarische Kontrollausschüsse mit a) entsprechender Macht ausgestattet werden und b) mit aufrechten Demokraten besetzt werden. Zumindest zweiteres ist in einer repräsentativen Demokratie direkt in der Hand des Wählers. Wenn der Wähler keine ihm genehmen Parteien oder Personen wählen kann, steht es ihm übrigens frei, selbst zu kandidieren (das ist immer das, was ich so belustigend finde: Es wollen alle mitreden, nur Arbeit will möglichst keiner damit haben: alle beschweren sich, dass sie nur alle vier Jahre ein Kreuzchen machen dürfen, aber im Grunde will auch keiner mehr, als maximal einmal im Jahr eines machen - sorry Leute, so kommen wir nicht weiter).
Du hast, um beim Thema zu bleiben, auch impliziert, dass es kleine Gruppen sind, die Macht haben und sich nicht um den Wählerwillen kümmern. Verzeihung, aber ein bisschen Realitätsferne klingt da schon durch, finde ich. Es gibt da nämlich eine lange Reihe von Problemen und Implikationen:
- Der Wählerwille ist selten klar erkennbar.
- Der Abgeordnete ist verfassungsrechtlich seinem Gewissen verpflichtet, aus Sicht der Volkes dem Wählerwillen und aus Sicht der Partei der Fraktionsdisziplin unterworfen. Es gibt ganze Bibliotheken politikwissenschaftlicher Literatur über dieses Problem und trotzdem keine allgemeine Lösung dafür außer der, dass der Parlamentarier meist recht flexibel sein muss, was ihm dann in der Öffentlichkeit aber schnell vorgeworfen wird.
- In einer pluralistischen Gesellschaft fühlt sich immer einer zurückgesetzt und führt dann meist "Volkes Stimme" an, das eigentlich etwas ganz anderes wolle, selbst wenn der Sprecher ein eingefleischter Vertreter einer Minderheitengruppe ist (ich finde das allerdings nicht per se verwerflich, so funktioniert nunmal - auch - öffentliche Meinungsbildung).
- Sachzwangpolitik ist langweilig, ermüdend und tendentiell auch demokratiegefährdend, aber oftmals kommt man aufgrund leerer Kassen, internationalen Drucks oder verfassungsrechtlicher Vorgaben nicht darum herum.
- Demokratische Politik ist immer ein Austarieren vieler unterschiedlicher Interessen. "Hinterzimmerpolitik", obwohl problematisch wegen ihrer Neigung zum Korporatismus, ist manchmal ein deutlich effizienteres Mittel zur Entschlussfindung, weil offener gesprochen und in einem kleinen Personenkreis verhandelt werden kann. So wichtig Kontrolle durch die Bevölkerung ist, aber demokratische Prozesse sind auch umso ineffizienter und langwieriger, je basisdemokratischer sie organisiert sind. Von daher muss es manchmal auch die Möglichkeit geben, im Tagesgeschäft oder bei sensiblen internationalen Verhandlungen den "kurzen Dienstweg" einzuschlagen.
Steigen wir noch etwas tiefer in das Problemfeld politischer Entscheidungsfindung ein (hab dazu mal eine Seminararbeit geschrieben, aus der ich kurz etwas ausbreiten werde): Entscheidungen werden in der Politik oftmals in einem Umfeld von "ambiguity" (Mehrdeutigkeit) gefällt (zugrunde liegen die Erkenntnisse der Modelle "multiple streams" und "garbage can model of choice"):
- Das zu lösende Problem ist nicht klar erkannt, seine Definition ist vage und verschiebt sich laufend;
- Es gibt mehrere Möglichkeiten, das Problem anzugehen;
- Der Begriff meint nicht Unsicherheit (uncertainty);
- Mehr Information reduziert die Mehrdeutigkeit nicht (hier muss ich instinktiv an den Wikileaks-Glauben denken, dass mehr Information an sich schon Übersichtlichkeit schafft und daraus effektive und effiziente Kontrolle resultiert);
- Die Partizipation in den entsprechenden Organisationen fluktuiert stark;
- Entscheidungsträger wissen oft nicht genau, was sie wollen (bzw. wollen sollten = Wählerwille);
- Unklare Verhaltensweisen (technology): Den Individuen ist ihr Platz / ihre Funktion im Gesamtsystem nicht bekannt; sie wissen gar nicht genau, welche Ergebnisse (outcome) ihre Handlungen nach sich ziehen werden;
- So gut wie immer besteht Zeitdruck, dadurch sinkt die Zahl der zu prüfenden Alternativen rapide;
So, nun fragt sich der eine oder andere wahrscheinlich, warum ich hier dieses ganze Zeug hinschreibe, aber ich möchte das Problem gerne von grundauf verstanden wissen. Ich kürze hier mal alles heraus, was nicht wichtig ist für den Punkt, den ich klarmachen will. Eigentlich versuchen diese Modelle den kompletten Prozess des agenda setting und decision making in politischen Organisationen, aber das brechen wir jetzt mal eben runter auf den Teil, wo es um Manipulation der öffentlichen Meinung geht, sonst schreibe ich hier noch ein ganzes Buch. Da sagt uns dieses Modell nämlich folgendes:
- Die überall vorkommende Mehrdeutigkeit in der Politik macht Manipulation zu ihrer Kontrolle notwendig (im Sinne von unabdingbar). Dies gilt unabhängig von der ethischen Lauterkeit der betreffenden Akteure und fußt im klassischen Problem jeder Zielbestimmung, nämlich dem, dass es für normative Fragen keine Letztbegründung gibt, die mit eindeutigen wissenschaftlichen Mitteln zu finden ist; Was "gut" ist und was "sein soll" ist Gegenstand von Diskurs (siehe auch: Diskurstheorie, Naturalistischer Fehlschluss). Im Rahmen dieses Diskurses ist es notwendig, die Mehrdeutigkeit zu reduzieren, um eindeutige Aussagen treffen zu können und das heißt zwangsläufig, dass Information, die nicht zusammenpasst, manipuliert werden muss, so dass sie es tut. Dahinter steht meist keine böse Absicht und auch Menschen mit bestem Willen sind gezwungen (!) diese Manipulation von Information vorzunehmen. Ich sage das deshalb so ausführlich, weil ich möchte, dass verstanden wird, dass in diesem Zusammenhang Manipulation von Information nichts Verwerfliches oder Böswilliges darstellt, sondern eine systemimmanente Voraussetzung für die Entscheidungsfindung ist und zwar unabhängig davon, wie das zugrundeliegende System im Detail organisiert ist. Behörden in Nordkorea stehen hier prinzipiell vor demselben Problem wie in Deutschland, den USA oder wie Wikileaks als Organisation.
Kurz zusammengefasst: Man muss unter den Bedingungen von Zeitdruck und Mehrdeutigkeit die Einigung auf eine bestimmte Sicht der Dinge forcieren (=Manipulation), um überhaupt Prämissen für eine Entscheidungsfindung zu haben, denen alle Beteiligten folgen können. - Information als zentraler Bestandteil von Manipulation ist nie wertneutral. Die Existenz objektiver Information wird in diesem Modell aus prinzipiellen Gründen verneint: Information muss immer interpretiert werden. So gesehen kann Wikileaks nie völlig objektiv arbeiten (allerdings natürlich objektiver als andere in dem Sinne, dass es kritizistisch arbeitet und Uneigennützigkeit anstrebt).
- Politische Manipulation versucht in erster Linie Bedeutung (meaning), Klarheit (clarification) und Identität (identity) zu erzeugen. Es geht also ersteinmal darum zu bestimmen "Wer sind wir?", "Was wollen wir?", "Wer sind unsere potentiellen Verbündeten/Gegner?" usw., auch wenn z.B. Gruppenbildungen erstmal willkürlich sind (beispielweise wenn motivierte türkischstämmige Facharbeiter mit gebrochen Deutsch sprechenden Einwanderern zu einem Feindbild vermischt werden).
- Die Manipulation geschieht nicht notwendigerweise bewusst, die Manipulatoren sind oft genauso Opfer ihrer eigenen Vereinfachungen wie die Normalbürger.
Lange lange Rede, kurzer Sinn:Die Manipulation von Information und politischer Meinung ist nicht von grundauf "böse". Sie ist in einer pluralistischen Welt auch (nicht nur!) etwas völlig normales. Systemanalytisch gesehen ist sie sogar notwendig, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können, weil man sich andernfalls totdiskutiert und die Entscheidung blockiert ist - das ist bei zeitkritischen Entscheidungen nicht hinnehmbar (bestes Beispiel: Klimawandel. Das Handeln ist hier, selbst wenn die öffentliche Meinung dazu massiv manipuliert werden muss, höchstwahrscheinlich in jedem Fall verantwortlicher als die Untätigkeit).
Der Glaube, dass absolute Transparenz hieran etwas ändern würde, ist bestenfalls als niedlich zu bezeichnen. Hätten wir die totale Verfügbarkeit von Staatspapieren, den gläsernen Staatsapparat (in dem der Bürger dem Staatsapparat so umfassend misstraut, wie der Staat dem Bürger bei Orwell), dann würde sich das Problem nur verlagern, etwa auf die Straße:
Die Sarrazindebatte zeigt, wie politische Manipulation im Grunde durch eine einzige Person forciert werden kann, die noch dazu ihren Gedankengang größtenteils offenlegt. Sarrazin hat es geschafft, dass Millionen von Bürgern seinem Weltbild folgen und das ganz ohne großangelegte, perfide Medienkampagne. Teile von Sarrazins Ideen sind im besten Fall hölflich als "stark verkürzte Version der Wirklichkeit" zu bezeichnen, jedoch hat die totale Öffentlichkeit dieser Diskussion nicht dazu beigetragen, dass das Verwerfliche (etwa die zwischen den Zeilen schwelende Fremdenfeindlichkeit) aus der Debatte verschwunden wäre. In der Schweiz hat vor kurzem in totaler Öffentlichkeit das Volk (!) über eine menschenunwürdige Politik entschieden. Die Manipulation der Wirklichkeit, die ja nur allzuoft eine Selbstlüge ist, bleibt also vorhanden, selbst wenn statt Hinterzimmerpolitik öffentlichste Basisdemokratie herrscht.
Bin ich also für mehr Hinterzimmerpolitik? Nein, definitiv nicht. Bin ich gegen Whistleblowing? Nein, definitiv auch nicht.
Aber ich bin der Meinung, dass nur ein effektives, durchdachtes System von checks and balances uns davor bewahrt, böswilligen ("Verschwörung") oder unbegründeten ("Schwachsinn") Manipulationen der Wirklichkeit aufzusitzen, wir uns also Weltbilder anzueignen könnten, die unsere plurale und friedliche Lebensweise bedrohen. Was uns bei diesem Ziel nicht weiterbringt, ist die pauschale und undurchdachte Veröffentlichung allen Geheimmaterials, das Wikileaks in die Finger bekommt. Allerdings könnte Wikileaks in einem veränderten Rahmen eine äußerst wichtige Rolle spielen, das hat Daniel Domscheit-Berg kürzlich auch in
diesem Artikel skizziert.
Ich bin weiterhin der Meinung, dass es nirgendwo ohne ein gewisses Restvertrauen gehen wird, schon allein, weil dies eine Grundressoure sozialen Miteinanders ist und totale Kontrolle eben vor allem eines ist: total(itär). Dies gilt ja auch für Organisationen wie Wikileaks. Wenn man es sich recht überlegt, ist der deutsche Bundestag tausendmal öffentlicher als diese Internetguerilla, aus deren eigenen Reihen von diktatorischem Führungsstil berichtet wird. Trotzdem vertrauen viele Wikileaks, weil sie lautere Absichten und integere Persönlichkeiten dahinter vermuten. Bei aller Kritik an Wikileaks halte ich es trotzdem für nötig, dass dieses Vertrauen weiterhin möglich sein muss und nötig ist, sowohl privaten wie staatlichen Organisationen gegenüber. Es wäre der goldene Mittelweg, von dem am Anfang die Rede war.
Lumen hat geschrieben:Da liegt die Krux. Es geht um Einschätzungen: Wieviel Verschwörung gibt es? Sieht Asange mehr Verschwörung als andere? Womit wird das gemessen?
Wie vielleicht zu erkennen ist, habe ich mich mit solchen Fragen schon (dank Studium) ein wenig eingehender beschäftigt. Meine persönliche Einschätzung ist: Es ist insgesamt gar nicht so viel, was es an organisierter Verschwörung gibt. Vieles ist einfach nicht-gesteuerten internen Prozessen in Behörden und Konzernen und sozialen Dynamiken zu verdanken, auf die einzelne Verschwörer überhaupt keinen Einfluss haben. Deshalb ist auch mein Pessimissmus so hoch, dass Veröffentlichung prinzipiell schon etwas besser macht, weil die Öffentlichkeit genau denselben Dynamiken unterliegt, die auch innerhalb von Organisationen zu unethischen Entwicklungen führen. So ändern beispielsweise regelmäßige Aktionen von Tierschützern und kritische Zeitungsberichte seit Jahren kaum etwas daran, dass Tiere in brutaler Massentierhaltung gehalten werden. Bei der Flutkatastrophe in Pakistan kamen kaum Spenden zusammen, obwohl alles in völliger Öffentlichkeit stattfand. Bei den Tieren fehlt die direkte Betroffenheit und bei den Pakistanis war der Schockeffekt der Bilder nicht groß genug - übigens ein Schicksal, das Wikileaks auf lange Sicht auch ereilen könnte, wenn alle sich so sehr an Enthüllungen gewöhnt haben, dass denen im einzelnen kaum mehr Beachtung geschenkt ist, weil man sich an den Sumpf gewöhnt hat.
Interessanterweise hat Wikileaks selbst dazu beigetragen, einige Verschwörungstheorien zu Fall zu bringen, etwa in der Türkei, wo man lange daran glaubte, dass die USA insgeheim die Kurden unterstützen. Meist stellt sich eben heraus, dass es gerade die reißerischen Stories sind, die rundherum erfunden sind, wohingegen die kleinen Alltagsverschwörungen wie massenhafte Misshandlungen in der Familie auch hierzulande und in den "besten Familien" totgeschwiegen und bagatellisiert werden. Das "Böse" soll am besten weit weg sein, sowohl geographisch als auch sozial (HartzIV-Schmarotzer, korrupte Manager, pädophile Priester, chinesische Geheimdienstler und arabische Terroristen als namentliche Beispiele).
In dem Artikel von Daniel Domscheit-Berg (s.o.) ist anfangs die Rede von einer Pflegerin, die skandalöse Zustände in ihrem Altenheim aufdecken wollte und dafür vom Chef gemobbt wurde. Solche kleinen Alltagsverschwörungen sind vermutlich viel eher das, was es tatsächlich massenhaft gibt, aber daran sind nicht korrupte Politiker schuld, sondern banale Reihenhausbewohner, die sich äußerlich sofort mit dir solidarisieren würden, wenn gegen "die da oben" gehetzt wird. Hannah Arendt hat dafür den treffenden Ausdruck der "Banalität des Bösen" geprägt. Hier fehlt es vielleicht tatsächlich an einer unabhängigen, spendenbasierten Zwischenstelle zwischen Medien und Whistleblowern, eine, die weder in die von dir sehr schön dargelegten Interessenkonflikte der Medien verwickelt sind, noch staatlicher Kontrolle ihrer Inhalte unterliegen (was die Idee ja konterkarieren würde) und trotzdem konstruktiv arbeitet - also nicht Teegespräche von Diplomaten veröffentlicht.
Der Grund, weshalb ich weiter oben in diesen Stichpunktlisten so textreich auf den schmutzigen und chaotischen Alltag der politischen Entscheidungsfindung eingegangen bin, ist auch der, dass ich das Bild vom übermächtigen Zirkel aus Verschwörern in jedem Partei- und Konzernvorstand gerne brechen möchte. Mein Fokus liegt da eher auf sozialen Prozessen, die zu üblen Ergebnissen führen und weniger auf einem verdrehten Geschichtsbild von wegen "große Männer bzw. große Verschwörer schreiben Geschichte". Verschwörungstheoretiker werden da schnell quasireligiös: Die Verschwörer sehen alles, wissen alles, haben das ganze sozialtechnische Wissen, um Millionen von Menschen gezielt zu beeinflussen, verfolgen einen ("göttlichen") Plan und können nur durch umfassende Reinigungsmaßnahmen und einen Umbau der Gesellschaft zu Fall gebracht werden - hoppla, kennen wir das Muster nicht irgendwoher?
Ich möchte zum Abschluss eines langen und vielleicht nicht durchgehend geradlinigen Beitrags gerne nochmal auf den Artikel von Domscheit-Berg verweisen, denn skizziert, wie eine verantwortliche Whistleblower-Organisation vielleicht aussehen könnte.