Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichkeit

Über Moral: Pflicht, Anspruch, Wirklichkeit und Möglichkeit

Beitragvon ganimed » Do 4. Aug 2011, 22:27

[ADMIN] Abgetrennt von Christlicher(?) Anschlag in Norwegen [ADMIN]

Nanna hat geschrieben:"Moralisch verkommen" impliziert, dass es um die Moral früher besser stand. Meintest du das aber auch?

Nein. Ich vermute eher, dass ich eigentlich "moralisch tiefstehend" meine. Als Maßstab sehe ich dabei unsere eigenen moralischen Ansprüche an uns. Ich muss dabei beispielsweise an die eine oder andere Diskussion hier über die Todesstrafe denken. Wie vehement wurde da von einigen die zugegebenermaßen etablierte moralische Sichtweise in Europa vertreten, dass man ein Leben nicht so einfach riskieren darf, weil ja zum Beispiel Restzweifel bleiben und der Angeklagte unschuldig sein könnte. Erst um das einzelne Leben eines möglicherweise für schlimme Dinge verantwortlichen Wind machen und dann bei Tausenden von Afrikanern mit den Schultern zucken? Das könnte man, in diese zeitliche Abfolge gebracht, dann vielleicht auch weiterhin moralisches Verkommen im Sinne von Absinken nennen.

1von6,5Milliarden hat geschrieben:Von sonstiger Faulheit hast nur du geredet, wenn "Afrika" durch subventionierte Nahrungsmittel seine eigene Landwirtschaft zerstört wird

Ja stimmt. Ich hatte den Beitrag von mat-in etwas frei interpretiert.
    mat-in hat geschrieben:Und ich höre immer wieder Schauergeschichten von "nachhaltigen" Projekten, bei denen das Dorf um das man sich mühevoll gekümmert hat ein Jahr später wie vorher da hockt, weil sie es nicht eingesehen haben nach der ernste was aufzuheben als Saatgut, und weil es unnötig ist jetzt zu arbeiten, denn man hat ja gerade Essen.
Direkt ist hier wohl eher "Kurzsichtigkeit" gemeint gewesen. Aber ich finde, der Vorwurf von "Faulheit" schwingt schon ein wenig mit. Das Motto in afrikanischen Dörfern wäre demnach: arbeite nur, wenn es wirklich nötig ist.

Ich will nicht ausschließen, dass möglicherweise in einigen Ländern und Landstrichen eine unproduktive Mentalität anzutreffen ist. Aber egal wie die Menschen dort nun genau drauf sind: es wäre unmoralisch ihnen die Hilfe zu verweigern, weil sie angeblich ja selbst schuld sind. Schuld gibt es meiner Meinung nach nicht, sondern erstmal nur materielle Not und Elend, und den Notleidenden muss ohne Ansehen ihrer sonstigen charakterlichen Eigenschaften geholfen werden. Es ist in meinen Augen daher unmoralisch, mit dem Hinweis auf afrikanische Kurzsichtigkeit Hilfe zu verweigern. Kurzsichtigen muss doch erst recht geholfen werden.

Arathas hat geschrieben:Ich sach mal: Menschen können völlig unterschiedliche Prioritäten setzen - ein Umweltaktivist von Greenpeace, der sich auf lebensgefährliche Walrettungsmissionen begibt, wird vermutlich lieber dafür sorgen, dass es Tieren besser geht und weniger Gedanken an das Wohl der menschlichen Gesellschaft verschwenden.

Ich muss da gar nicht mit Moral kommen. Unsere Gesetze drücken das auch bereits aus. Wobei es ja nicht um das Wohl einer Gesellschaft geht, zumindest meinte ich es viel konkreter, es geht um die Rettung von verhungernden Afrikanern. Und da gibt es bei uns doch den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Insofern sind wir also offenbar moralisch so verkommen, dass wir gegen unsere eigenen Gesetze verstoßen. Selbst wenn wir als Ersatzhandlung ein paar Robben oder ähnliches retten.

Arathas hat geschrieben:Die Frage ist nur, wie man ein Volk dauerhaft vor dem Verhungern retten kann. Sicherlich nicht dadurch, dass man es einfach nur durchfüttert.

Das sind billige Ausflüchte. Das Problem verallgemeinern und dann bequemerweise darauf verweisen, dass es keine allgemeine, perfekte Lösung gibt. Und dann implizit schließen: dann muss ich auch gar nichts machen. Nee, nee, das ist unmoralisch. Es geht nicht darum, irgendwelche Völker dauerhaft vor dem Verhungern zu retten. Es geht erstmal konkret darum, bestimmte Menschen zu retten. Und das müsste doch möglich sein. Wenigstens ein paar. Wenigstens einen. Wenigstens versuchen.

Lumen hat geschrieben:Du kannst in deiner Freizeit aber nicht mal eben die Welt retten. ... Es wäre sinnvoller sich darauf zu verlegen, große Ketten mittels organisiertem Boykott zum handeln zu zwingen, als selbst immer wieder kleinste Tröpfchen auf heiße Steine zu träufeln.

Auch hier sehe ich dieselbe Ausweichstrategie. Statt konkret zu helfen einfach erstmal über die ganz großen Fragen lamentieren mit dem Fazit: die perfekte Lösung gibt es nicht, also drehe ich Däumchen.

Nur um das klarzustellen. Diese moralische Besserwisserei ist mir schon ein wenig unangenehm aber es hilft ja nichts. Ich gebe hier aber nur den Advocatus Diaboli. Selber bin ich mindestens ebenso moralisch verkommen und mache in Sachen Afrika nichts besonderes. Also gebt schon zu, dass ich in der Sache völlig recht habe und schon bin ich still :) Wenn wir alle schon nichts tun und diese grausigen Widersprüche zwischen Arm und Reich auf der angeblich globalisierten Welt existieren, dann will ich verdammt nochmal wenigstens, dass wir Reichen ein schlechtes Gewissen haben und zugeben, wie moralisch verkommen wir sind.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Do 4. Aug 2011, 22:34

Nanna hat geschrieben:aber wenn jemand der Gesellschaft den Respekt vor dem Anderen, Andersdenkenden, Fremden austreiben will, ist es eine verdammt wirkungsvolle Botschaft, wenn man als Reaktion erst Recht auf gegenseitigen Respekt achtet.

Diese Strategie würde aber als Motivation enthalten, dass man den düsteren Plan der Gegenseite, nämlich die Austreibung von Respekt vor Andersdenkenden, dass man diesen Plan vereiteln will. Bei dir klang es aber so, als wäre die Hauptmotivation einfach nur die Betroffenheit über das besonders gemeine Verbrechen an den besonders unschuldigen und zahlreichen Opfern. Es wäre doch ebenso wirkungsvoll, einfach völlig ungerührt zu sein (oder zu tun), einfach genau so viel gegenseitigen Respekt zeigen wir vor der Greueltat. Auch dies würde den Mitgliedern der düsteren Gegenseite zeigen, dass ihr Plan nicht funktioniert. Und ich glaube, genau dies geschieht. Wir werden nicht plötzlich alle respektvoller, aber eben auch nicht plötzlich alle weniger respektvoll.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Fr 5. Aug 2011, 07:20

ganimed hat geschrieben:zumindest meinte ich es viel konkreter, es geht um die Rettung von verhungernden Afrikanern.


Na, das ist aber ziemlich unmoralisch. ;-) Immerhin verhungern, verdursten (werden zu Tode gefoltert, erfrieren, werden zu Kindersoldaten, sterben im Krieg, kommen durch unhygienische Umstände um's Leben, etc.) noch viel viel mehr Menschen auf der Welt. Sogar in reichen Industrieländern wie den USA und Europa. Afrika ist doch nur ein winziger Teil der weltweiten Probleme. Wenn dann zählen alle Menschenleben gleich, egal ob es um das Leben eines Kindes in Afrika oder den USA geht.


ganimed hat geschrieben:Also gebt schon zu, dass ich in der Sache völlig recht habe und schon bin ich still :) Wenn wir alle schon nichts tun und diese grausigen Widersprüche zwischen Arm und Reich auf der angeblich globalisierten Welt existieren, dann will ich verdammt nochmal wenigstens, dass wir Reichen ein schlechtes Gewissen haben und zugeben, wie moralisch verkommen wir sind.


Ich bleibe bei der Meinung, dass ein Menschtier nicht die moralische Verantwortung für alle anderen Menschentiere zu übernehmen hat. Auch nicht, wenn es ein reiches Industrieland-Tier ist. Es gibt auch sowas wie Zufall, Glück und Pech: Wer in einem Land geboren wird, in dem tausend Flüsse sauberes Wasser tragen, der hat Glück. Wer in einem Land geboren wird, in dem der nächste Brunnen drei Stunden Fußmarsch entfernt ist, der hat weniger Glück. Aber diese Umstände machen keinen moralisch guten oder schlechten Menschen aus.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Fr 5. Aug 2011, 08:01

Aha, schon wieder ein Ablenkungsmanöver. Statt das Problem zu verallgemeinern werden jetzt Ablenkungsprobleme genannt. Als wenn es einen Mengenrabatt bei Unmoral gäbe, so nach dem Motto: wenn ich bei 20 Problemen wegschaue, ist das Wegschauen bei Problem A ja irgendwie nicht mehr ganz so unmoralisch. Ich würde aber denken: doch, ist es doch.
Bei n Problemen ist es zugegebenermaßen unmöglich, überall zu helfen bzw. überall eine spürbare Wirkung zu erzielen. Und bei n+m Problemen ist es sogar noch unmöglicher. Aber gezählt werden sollten nicht die Probleme, sondern wieviel Prozent unserer Ressourcen wir überhaupt aufwänden. Unmoralisch ist es, wenn diese Aufwändung so deutlich unter 100% bleibt, völlig unabhängig von n oder m.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Fr 5. Aug 2011, 08:10

ganimed hat geschrieben:Aha, schon wieder ein Ablenkungsmanöver. Statt das Problem zu verallgemeinern werden jetzt Ablenkungsprobleme genannt.


Komme grad nicht mit. Was heißt "statt das Problem zu verallgemeinern"? Wäre das besser? Wenn ja, dann verallgemeinere das Problem bitte mal, damit ich kapiere, wovon du jetzt sprichst.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Fr 5. Aug 2011, 08:22

Arathas hat geschrieben:Ich bleibe bei der Meinung, dass ein Menschtier nicht die moralische Verantwortung für alle anderen Menschentiere zu übernehmen hat.

Wenn du schreibst "nicht für alle", meinst du dann, dass wir die moralische Verantwortung sehr wohl für einige wenige übernehmen müssen? Und wie definierst du dann diese Abgrenzung?
Und wie erklärst du dir das juristisch verankerte Gebot der Hilfeleistung? Wieso muss man gesetzlich beispielsweise einem Schwerverletzten helfen, wenn man an einen Unfallort gelangt? Steht dieses Gesetz nach deiner Meinung nicht im Einklag mit gängiger Moral?

Unabhängig von lokalen Gesetzen gibt es doch zumindest diese goldene Regel, neulich habe ich sie erst wieder von Richard Dawkins in einer Diskussion angeführt gesehen: was du nicht willst dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Wenn ich mir vorstelle, ein völlig mittelloser, verhungernder Afrikaner zu sein, würde ich schon wollen, dass man mich nicht einfach ignoriert. Nach dieser goldenen Regel, die sicher mehr oder weniger eine irgendwie in uns eingebaute Grundlage für Moral ist, wäre ein Nichthelfen unmoralisch. Wie schaffst du es, bei deiner Meinung diese goldene Regel außer Kraft zu setzen?




Arathas hat geschrieben:Komme grad nicht mit. Was heißt "statt das Problem zu verallgemeinern"?

Ich beziehe mich dabei auf die vorhergehenden Ausreden von Stine und Lumen. Ihr Hinweis darauf, dass es schwierig wäre, die ganze Welt zu retten oder ganze Völker dauerhaft vor Hunger zu bewahren oder ähnliches. Mir kam das als Verallgemeinerung des konkreten Problems vor verbunden mit dem impliziten Argument, dass man bei solch großen Problemen ja sowieso nicht viel tun könne und moralisch tun müsste. Und auch hier käme es nach meinem moralischen Empfinden nicht darauf an, wie groß das Problem ist, sondern wie viele meiner Ressourcen ich einsetze für einen, irgendeinen Lösungsversuch.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Fr 5. Aug 2011, 08:56

ganimed hat geschrieben:Wenn du schreibst "nicht für alle", meinst du dann, dass wir die moralische Verantwortung sehr wohl für einige wenige übernehmen müssen? Und wie definierst du dann diese Abgrenzung?


Nicht übernehmen müssen, sondern können. Der Mensch kann. Er muss grundlegend erstmal gar nichts, es gibt keinen Zwang zu irgendetwas im Leben, nichtmal zum Leben.

Aber jeder Mensch sollte so viel Verantwortung für andere Menschen übernehmen, wie er kann, ohne dabei verrückt oder depressiv oder sonstwie krank zu werden. Die Abgrenzung definiere ich nicht, jedenfalls nicht für andere, höchstens für mich selbst. Wo sie beginnt oder endet kann ich für mich entscheiden, nicht für die Menschen um mich herum.

ganimed hat geschrieben:Und wie erklärst du dir das juristisch verankerte Gebot der Hilfeleistung? Wieso muss man gesetzlich beispielsweise einem Schwerverletzten helfen, wenn man an einen Unfallort gelangt? Steht dieses Gesetz nach deiner Meinung nicht im Einklag mit gängiger Moral?


Wenn es im Einklang mit gängiger Moral stünde, müsste es kein Gesetz dafür geben. Ja, das ist grausam und zeigt, dass viele Menschen echte Arschlöcher sind.

ganimed hat geschrieben:Was du nicht willst dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. (...) Wie schaffst du es, bei deiner Meinung diese goldene Regel außer Kraft zu setzen?


Einspruch, Suggestivfrage! - Einspruch stattgegeben. :mg:

Ich setze diese Regel bei meiner Meinung nicht außer Kraft. Ich gehe Kompromisse ein. Genauso, wie ich als Vegetarier noch Käse esse, obwohl in Käse Lab (ein tierisches Produkt) enthalten ist. Das ist mein Kompromiss zwischen Geht-gar-nicht (Fleischessen) und Wäre-wünschenswert (überhaupt kein Fleisch essen).

Das Leben besteht eben nicht aus Schwarz und Weiß, sondern fast immer aus Kompromissen. Du willst gerade mit Vehemenz das Weiß zum allgemeingültigen Moralfaktor erklären. Und stellst zugleich alle Kompromisse in die Schwarz-Ecke. Da gehören sie aber nicht hin.

Wenn ich zu einem Verkehrsunfall hinzu komme, bin ich in der Lage, aktiv zu helfen. Dann mache ich das. Ich bin mir aber nicht so sicher, wie ich 50 Millionen Afrikaner (tatsächlich!) vor dem Verhungern bewahren kann. Ich tue ein paar Dinge und hoffe, dass es hilft. Zumindest ein bißchen. Das ist der Kompromiss, den ich bei der goldenen Regel einzugehen bereit bin.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Fr 5. Aug 2011, 10:00

Arathas hat geschrieben:Der Mensch kann. Er muss grundlegend erstmal gar nichts, es gibt keinen Zwang zu irgendetwas im Leben, nichtmal zum Leben.

Stimmt. Ich muss mich nicht moralisch verhalten. Ich kann auch moralisch verkommen sein. Wir alle tun dies ja auch, und offenbar ohne ernste Konsequenzen zu erleben. Du hast also recht. Moral ist kein Pflichtprogramm. Aber man muss schon deutlich mehr tun, um sich danach "moralisch" nennen zu können. Da besteht dann doch ein Pflicht. Ich will also niemanden zwingen, etwas zu tun, ich will Nichtstun dann aber "moralisch verkommen" nennen dürfen.

Arathas hat geschrieben:Aber jeder Mensch sollte so viel Verantwortung für andere Menschen übernehmen, wie er kann, ohne dabei verrückt oder depressiv oder sonstwie krank zu werden.

Das sehe ich ja genau so. Egal wie viel und groß die Probleme, jeder sollte so viel tun wie er kann. Vermutlich sind wir uns nur nicht einig bei der Abschätzung, wo diese Machbarkeitsgrenze ungefähr liegt. Verstehe ich dich richtig, wenn du also beispielsweise 100 Euro im Monat mehr spenden würdest, würdest du verrückt oder depressiv oder krank oder alles? Du operierst wirklich an deinem persönlichen Limit? Das kann nicht dein Ernst sein.

Arathas hat geschrieben:Ich setze diese Regel bei meiner Meinung nicht außer Kraft. Ich gehe Kompromisse ein.

Natürlich muss man Kompromisse eingehen. Nur sind unsere Kompromisse eben faul, zumindest nicht moralisch einwandfrei. Jeder von uns könnte viel mehr Geld locker machen und beispielsweise auf einen teuren Urlaub verzichten, ohne davon krank zu werden. Es wäre lächerlich, so viel Selbstgerechtigkeit aufzubringen und sich ernsthaft einreden zu wollen, dass wir alle schon viel tun und viel mehr ginge eben nicht. Im Gegenteil würde ich wetten, dass wir von einem schlechten Gewissen eher krank werden als von beherztem Engagement.

Arathas hat geschrieben:Wenn ich zu einem Verkehrsunfall hinzu komme, bin ich in der Lage, aktiv zu helfen. Dann mache ich das. Ich bin mir aber nicht so sicher, wie ich 50 Millionen Afrikaner (tatsächlich!) vor dem Verhungern bewahren kann.

Aha, da ist wieder die bekannte Ausweichtaktik (wie oft wollt ihr mir damit noch kommen?) Das Problem als groß und prinzipiell unlösbar darstellen und daraus folgern, dass man ja sowieso nicht wirklich was machen kann.
Du bist in der Lage mehr zu helfen. Zumindest nach meiner Einschätzung geben wir vielleicht 5% unseres finanziell möglichen und vielleicht 1% unserer Zeitressourcen für Armenhilfe aus. Bei mir ist es jedenfalls nicht mehr. Und das ist unmoralisch. Erklär das mal einem Verhungernden: "also, tja, tut mir leid, dass du jetzt krepierst, aber ich konnte leider nur 5% meiner freien Ressourcen aufwänden, und jetzt muss ich auch schon los, mein Flieger nach Mallorca wartet. Einen angenehmen Tod wünsche ich und nichts für ungut."
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Fr 5. Aug 2011, 10:26

ganimed hat geschrieben:Du bist in der Lage mehr zu helfen.


100 Euro kann ich ohne große Einschränkungen verkraften - selbst wenn davon nichts bei den Hilfsbedürftigen ankommt und niemandem wirklich geholfen wird, weil das Geld irgendwo versickert.

Aber ich werde nicht alles, was ich tatsächlich geben könnte, geben, ohne zu wissen, wie das anschließend genutzt wird. Ist das nicht nachvollziehbar und verständlich? Ja, ich könnte auf Urlaubs-Sparen verzichten und 300 Euro monatlich locker machen. Aber ich wüsste nicht, ob und wieviel davon wirklich jemandem zu Gute kommt, der es dringend nötig hat. Dafür gibt es zu viele Unwägbarkeiten wie z.B. religiöse bewaffnete Gruppen, die verhindern, dass Hilfslieferungen überhaupt am Ziel ankommen. Oder zuviel Bürokratie. Oder oder oder.

Eine höhere Spendenmoral kann eher erreicht werden, indem Spenden und Geldfluss transparenter gemacht werden. Das, denke ich, wäre hundertmal mehr Ansporn zu spenden, als ein schlechtes Gewissen.

So aber ist es nachvollziehbar, dass man nicht so viel Zeit und Geld in Spenden investiert, wie irgend möglich wäre. Oder findest du es erstrebenswert, wenn du dir deinen Urlaub verkneifst und damit im Endeffekt Diktator Soundso seinen Fuhrpark von Luxuskarossen mitfinanzierst?
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Fr 5. Aug 2011, 10:32

Du kannst jetzt natürlich wieder den Alles-nur-Ausreden-Hammer auspacken und ein bißchen draufhaun, aber wenn du alle Ausreden zusammen zählst, sind das gefühlt ziemlich viele, und der Mensch wird nicht nur vom Verstand regiert, sondern auch von seinen Gefühlen.

Sei mal nicht ganz so utopisch und lass den Menschen ein wenig weniger perfekt sein. =)
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon mat-in » Fr 5. Aug 2011, 12:54

ganimed hat geschrieben:
mat-in hat geschrieben:Und ich höre immer wieder Schauergeschichten von "nachhaltigen" Projekten, bei denen das Dorf um das man sich mühevoll gekümmert hat ein Jahr später wie vorher da hockt, ...

Direkt ist hier wohl eher "Kurzsichtigkeit" gemeint gewesen. Aber ich finde, der Vorwurf von "Faulheit" schwingt schon ein wenig mit. Das Motto in afrikanischen Dörfern wäre demnach: arbeite nur, wenn es wirklich nötig ist.

Ich will nicht ausschließen, dass möglicherweise in einigen Ländern und Landstrichen eine unproduktive Mentalität anzutreffen ist. Aber egal wie die Menschen dort nun genau drauf sind: es wäre unmoralisch ihnen die Hilfe zu verweigern, weil sie angeblich ja selbst schuld sind.

Ich habe doch niemandem Schuld zugewiesen? Und das ganze auch nicht als Rechtfertigung genutzt nicht zu helfen. Ich habe nur gesagt, daß es - wenn es mehr als nur ein mal so läuft - nicht der richtige Weg sein kann zu helfen. Es muß zur konkreten Hilfe im Katastrophenfall - wie im Moment gerade in Somalia - und nachhaltigen Projekten wie dem oben erwähnten auch eine sehr langfristige Änderung angestrebt werden. Die Leute werden nie verantwortlich und nachhaltig handeln, wenn man es ihnen nicht von klein auf beibringt.

Die Frage bleibt: Wollen wir das?
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Fr 5. Aug 2011, 18:11

Arathas hat geschrieben:Du kannst jetzt natürlich wieder den Alles-nur-Ausreden-Hammer auspacken und ein bißchen draufhaun

Genau das wollte ich gerade tun. Aber ok, geschenkt, verläuft ja nach immer dem gleichen Schema. Man nennt eure Ausreden beim Namen und fügt noch einmal "moralisch verkommen" an und fertig. :)

Arathas hat geschrieben:aber wenn du alle Ausreden zusammen zählst, sind das gefühlt ziemlich viele, und der Mensch wird nicht nur vom Verstand regiert, sondern auch von seinen Gefühlen

Es sind tatsächlich allerhand "aber", die uns da einfallen. Ich finde aber tatsächlich bisher kein überzeugendes Argument darunter. Stimmt für sich genommen ja alles, auch das mit der Ungewissheit, wo die Spendengelder wirklich genau hinfließen. Und dass die Grundprobleme damit nicht gelöst sind, langfristig schon gar nicht. Und dass es viele weitere Stellen auf der Welt gibt, wo es brennt, und und und. Stimmt zwar alles, aber zieht alles nicht. Wir könnten, wenn wir ehrlich sind, mit ein paar Überweisungen vielleicht ein paar Menschenleben retten helfen und tun es nicht, versuchen es nicht einmal. Ich sehe keine moralische Rechtfertigung für dieses Nichtstun.



mat-in hat geschrieben:Ich habe doch niemandem Schuld zugewiesen? Und das ganze auch nicht als Rechtfertigung genutzt nicht zu helfen. Ich habe nur gesagt, daß es - wenn es mehr als nur ein mal so läuft - nicht der richtige Weg sein kann zu helfen.

Du hast immerhin die Frage, ob die jetzige Form der Afrika-Hilfe nicht vielleicht die falsche wäre, genau in dem Moment aufgeworfen, als ich uns und dir Nichtstun und moralische Unvollkommenheit vorwarf. Durch dieses zeitliche Zusammentreffen kam ich wohl auf den Gedanken, dass deine Bedenken vielleicht Ausflüchte darstellen. Wieso spendest du nicht alles was entbehrlich ist an die größten drei Hilfsorganisationen und überlässt den Experten, was genau sie mit dem Geld machen? Willst du mir ernsthaft verkaufen, dass kein Geld spenden für die Afrikaner irgendwie besser ist als das Geld für die jetzigen Hilfsprogramme zu verwenden? Für mich klingt das sehr nicht nur wie eine Ausrede, sondern sogar noch wie eine recht lahme.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Sa 6. Aug 2011, 00:51

Ganimed, wenn man Moral wirklich nur und ausschließlich auf diesen einen Punkt - dem Weggeben von allem, was man nicht unmittelbar zum Leben benötigt - reduziert, dann hast du natürlich Recht. Dann ist das moralisch abgründig.

Irgendwie hatte bis jetzt nie daran gedacht, dass jemand Moral allein daran fest macht. ;-)
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Sa 6. Aug 2011, 09:39

Das Wort "allein" gibt mir zu denken. Wieso meinst du, dass ich Moral "allein" daran festmache? Ich vermute, das ist ein rhetorischer Trick.

Natürlich gibt es noch zahllose weitere Möglichkeiten, sich unmoralisch zu verhalten. Mir fällt im Alltag zum Beispiel häufig auf, wie übel nachgeredet wird hinter dem Rücken anderer, wie selten offen zur Rede gestellt wird. Im Vergleich zum Hungertod sicher nur eine Kleinigkeit und natürlich fällt es mir nur bei Anderen auf, aber immerhin. Wir sitzen alle im Glashaus, sind alles kleine Sünderlein und verstoßen täglich gegen unsere eigenen moralischen Vorstellungen, wobei wir auf Nachfrage offenbar mühelos Entschuldigungen und Ausreden parat haben.

Warum angesichts der offensichtlichen Moral-Fehlstellen nicht zugeben, dass jeder mit mehr Geld als er braucht, eben noch ein wenig mehr unmoralisch ist? Auf diesen Restposten kommt es dann doch auch nicht mehr an, oder?
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon mat-in » Sa 6. Aug 2011, 09:55

ganimed hat geschrieben:
mat-in hat geschrieben:Ich habe doch niemandem Schuld zugewiesen? Und das ganze auch nicht als Rechtfertigung genutzt nicht zu helfen.
Wieso spendest du nicht alles was entbehrlich ist an die größten drei Hilfsorganisationen und überlässt den Experten, was genau sie mit dem Geld machen? Willst du mir ernsthaft verkaufen, dass kein Geld spenden für die Afrikaner irgendwie besser ist als das Geld für die jetzigen Hilfsprogramme zu verwenden? Für mich klingt das sehr nicht nur wie eine Ausrede, sondern sogar noch wie eine recht lahme.

Was das Spenden angeht:
- ich spende keiner religiösen organisation (die verkauft zum brot und brunnen dann auch glauben
- ich spende / gebe kein geld (ich lade gerne mal jemand der auf der straße hockt und echt arm drein schaut auf ein Brötchen ein, aber geld bekommt so jemand von mir nicht. Manche scheißen einen an, weil sie sich lieber alkohol kaufen oder zigaretten, aber viele sind echt dankbar für ein belegtes Brötchen und das sind die Leute denen ich gerne helfen will)
- ich spende für Leute in meiner Nähe (siehe 2.) oder Katastrophenopfer

Was die Form der Hilfe angeht:
- Wir füttern unser Finanzsystem mit den Zinsen der Schulden dieser Länder. Europa und die USA haben gerade das Problem in eine Abhängigkeit zu rutschen aus der sie nich mehr raus kommen - diese Länder sind schon lange da.
- Die Gewinne des Finanzsystems dienen unter anderem dazu, Konzernen Mittel zur Verfügung zu stellen, diese Länder weiter auszubeuten.
- Diese Länder werden ohne unseren guten Willen nicht auf eigenen Beinen stehen können. Niemals.
- ich finde es scheinheilig oder naiv (von mir, von dir, von denen da), unser Finanzsystem und unsere Wirtschaft damit fett zu füttern

Jetzt können wir so weiter so helfen wie bisher - ein wenig Nothilfe leisten wo wir sie entbehren können, bzw. wo sie nötig ist, um das System aufrecht zu erhalten. Also hier und da nen Brunnen bohren, Nahrungspakete hinfliegen in schweren Jahren, die Leute ein wenig in beten und ackerbau ausbilden. Dafür aber die Leute unabhängig lassen, sie an unsere Kredite ketten, von unseren produkten abhängig machen und nicht nachhaltiger helfen. Dabei sorgen wir dafür das es nicht all zu schlecht läuft, beruhigen unser Gewissen, den Drang zu helfen, etc. und halten gleichzeitig unseren Lebensstil, unsere Wirtschaft, unsere gesellschaft am laufen. Wer von uns - provokant formuliert - möchte das ändern?

Du anscheinend nicht, wenn du mir sagst das meine Ideen anders zu helfen ein Ausrede wären, mit der aktuellen Hilfe aufzuhören?
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon Arathas » Sa 6. Aug 2011, 16:14

ganimed hat geschrieben:Natürlich gibt es noch zahllose weitere Möglichkeiten, sich unmoralisch zu verhalten.


Genau darauf wollte ich hinaus - nur umgekehrt. Es gibt eben auch zahllose weitere Möglichkeiten, sich moralisch zu verhalten - auch wenn man mehr Geld hat, als man im Grunde zum Überleben bräuchte, und nicht alles davon spendet.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Sa 6. Aug 2011, 17:37

Ich finde aber schon, dass moralisches Verhalten das unmoralische Verhalten nicht wett macht. Das ist irgendwie keine Mischkalkulation. Wenn ein Kindermörder eine Oma rettet, würde ich beide Taten hübsch trennen wollen und ihn für die erste herzlich bestrafen.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon mat-in » Sa 6. Aug 2011, 19:09

Es ist NIE im Leben schwarz/weiß. Es ist immer eine Mischkalkulation. Wenn ein Manager 15000 Leute entläßt, ein par davon in den ruin, ein par in den selbstmord treibt, damit aber 250000 rettet? Wir können jetzt eine ganze Menge standardszenarien, wer wo wie auf den Gleisen sitzt durchexerzieren, aber so einfach schwarz/weiß ist es nie.
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ganimed » Sa 6. Aug 2011, 20:33

Du "mischt" beim Beurteilen einer Handlung (Leute entlassen) zwischen schwarz und weiß und erhälst grau. Du addierst dabei die Auswirkungen auf den einzelnen Entlassenen.
Nicht mischen kannst du die Beurteilung zweier Handlungen (Kind töten, Oma retten) und dann etwa ebenfalls zum Ergebnis grau kommen. Wenn jemand die Afrikahilfe nach seinen Möglichkeiten unterlässt, nenne ich das schwarz (obwohl es in der Realität sicher nur dunkelgrau ist, aber das wäre Haarspalterei). Und nur weil sich jemand in anderen Dingen weiß verhält (vermutlich in Wirklichkeit hellgrau zu nennen), bleibt die Unterlassung von Afrikahilfe schwarz. Finde ich jedenfalls.

Aber gut, wenn es nicht um die Beurteilung einer Handlung (bzw. Nichthandlung) geht, sondern um das moralische Urteil über eine Person, dann könnte man die Urteile über ihre einzelnen Handlungen additiv mischen. Stimmt eigentlich. Also erhält man bei uns reichen Westlern irgendeine Graustufe (wiedermal). Insofern, ich sehe es während ich fasel und schreibe langsam ein, dürfte ich eigentlich nicht behaupten, dass wir moralisch verkommen sind, sondern nur, dass wir in Sachen Welthungerhilfe moralisch verkommen sind. 1:0 für den Anwalt der moralisch Verkommenen. Antrag stattgegeben.


mat-in hat geschrieben:Wer von uns - provokant formuliert - möchte das ändern? Du anscheinend nicht, wenn du mir sagst das meine Ideen anders zu helfen ein Ausrede wären, mit der aktuellen Hilfe aufzuhören?

Du kommst mir vor wie ein Schüler, der grundlegende Zweifel an der Effizienz des Schulsystems hat und der auch nicht zur Schule geht bis alle Fragen geklärt sind. Es herrscht aber Schulpflicht. Bis wir ein besseres Schulsystem bekommen, muss der Schüler in das alte. Und schlecht lernen ist besser als gar nicht lernen.
Wieso spendest du nicht in das jetzige System, um akut Leben zu retten, und diskutierst deine Verbesserungsvorschläge gleichzeitig und parallel, um die zukünftige Hilfe zu verbessern? Es mag ja sein, dass das jetzige Hilfssystem die Abhängigkeit in Afrika noch verlängert. Aber sie rettet auch Leben. Forderst du wirklich, die jetzige Hilfe einzustellen, nimmst bewusst die entsprechenden Opfer in Kauf, um aber langfristig (vielleicht) dann mehr für Afrika tun zu können?
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Re: Christlicher(?) Anschlag in Norwegen

Beitragvon ujmp » Sa 6. Aug 2011, 20:38

Man kann nicht alles regeln und deshalb kann man von Misständen nicht gleich auf unmoralisches Verhalten schließen.

Die Bevölkerung von Somalia hat sich in den letzten 50 Jahren verdreifacht. Das ist in meinen Augen das eigentliche Problem. Die Somalier produzieren ihren Hunger selbst. Es ist allein deshalb die schlimmste Hungerkastrophe, weil noch nie zuvor so viele Menschen dort gelebt haben. Die Menschen einfach nur satt machen, hilft da wenig, man produziert dadurch langfristig nur noch mehr Hungernde.
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