mat-in hat geschrieben:Du verwechselst hier Entscheidungsfindung und Impulskontrolle mit Willen (oder ist das für dich Wille? dann können wir uns den Rest der Diskussion sparen).
Was ich unter freiem Willen verstehe, hatte ich gesagt: Nach rationalen Gründen entscheiden zu können. Dabei entscheidet man sich natürlich auch, aber eben nicht impulsiv, sondern reflektiert.
Wer einzig impulsiv handelt, der ist gefangen in einem recht unfreien Reiz-Reaktions-Muster und hat nicht die Möglichkeit innerlich einen Schritt zurück zu treten, den spotanen Impuls aufzuschieben, die Sache zu überdenken, von hier, da und dort zu betrachten, Ratschläge einzuholen, auf sein Bauchgefühl zu hören, noch mal drüber zu schlafen und sich dann gemäß dieser (oder einer ähnlichen) Mischung zu entscheiden.
mat-in hat geschrieben:Ich bin davon überzeugt das in allen von uns die gleichen Vorgänge ablaufen. Von der Oma die sich entscheidet welche Schokolade sie den Enkeln kaufen soll bis zum Serienkiller der eben diese Enkel einen Tag später erwürgt.
Das mag ja sein, dass Du davon überzeugt bist, aber das ist eine Frage des Glaubens.
Interessanter ist, wie Du das belegen möchtest. Menschen verhalten sich ja erkennbar unterschiedlich, wenn man davon ausgeht, dass ihr Gehirn ihr Verhalten steuert und dann in allen die gleichen Vorgänge ablaufen, müssten sich ja alle gleich verhalten.
So wirst Du das zwar vermutlich nicht meinen, aber Du müsstest dann schon genauer darstellen, was Du meinst.
mat-in hat geschrieben:Bei all diesen Leuten finden im Kopf entscheidungen statt, auf Grund ihrer Gene (oder sagen wir moderner: ihrer Entwicklung), ihres bisher Erlernten und der inneren und äußeren Situation in der sie sich befinden.
Ja, aber nichts davon ist doch wie bei einem anderen Menschen.
Meine Gene sind nicht Deine (vielleicht würdest Du nicht mal eine Bluttransfusion von mir vertragen), unsere Erziehungserfahrungen und Lebensumstände unterscheiden sich auch.
Das ist, als wenn Du sagst, Gemälde interessieren mich nicht, ist eh immer dasselbe, Leinwand, paar Grundfarben und Pinselstriche. So gesehen ist das schon richtig, wäre nur der Sache vollkommen unangemessen.
mat-in hat geschrieben:Selbst bei den seltenen Fällen mit... einem Hirntumor oder ähnlichen Störungen findet das statt. (Bei solch seltenen Fällen, in denen ein Teilaspekt ausfällt kann man jedoch schön sehen wie er sonst arbeitet.)
Dass man daran erkennen kann, wie das Gehirn arbeitet, ist richtig, aber es sagt nichts über den freien Willen aus.
mat-in hat geschrieben:Bei keinen 2 Menschen ist dieses System in irgend einem Moment gleich.
Eben, das macht den harten Reduktionismus auch so öde. Man meint alles zu wissen und tritt doch auf der Stelle.
mat-in hat geschrieben:Das macht es so schwierig zu überblicken. Mit der Einstellung das von irgend wo außerhalb dieses Systems auf die Entscheidungsfindung ein "Freier Wille" (der jeglicher Grundlage entbehrt) einwirkt wird sich ein Psychologe über kurz oder lang lächerlich machen, so wie der Psychologe heute vielleicht Schamanen oder Priester belächelt die gegen böses Verhalten Dämonen und Geister austreiben.
Auch Psychologen sind nicht der Ansicht, dass da irgendwo außerhalb ein Geist rumschwirrt. Es mag hier und da Spinner geben, die gibt es überall, aber der Konstruktivismus ist nicht erst seit gestern in der Psychologie angekommen.
mat-in hat geschrieben:Eine Therapie funktioniert auch nicht auf argumentativ-rationaler Ebene.
Das kommt auf die Therapie an, sehr viele funktionieren so.
mat-in hat geschrieben:Du wirst niemals jemanden dazu bringen, der schon ein par Kinder umgebracht hat ihm logisch, philosophisch zu erklären, warum das eine Handlung ist, die man nicht begeht und er wird nicken, sagen "das hab ich so ja noch nie gesehen" und es nie wieder tun. Du mußt in einer Therapie dran arbeiten, das Entscheidungsfindungsystem umzukrempeln.
Das kommt drauf an, man weiß heute sehr gut, welche Therapien bei welcher Störung geeignet sind und welche weniger. Soziopathen, also antisoziale Persönlichkeiten im engen Sinne, sprechen allesamt auf kein einziges therapeutisches Verfahren an, erschwerend kommt hinzu, dass sie wissen, was sie tun, also nicht psychotisch sind. Das ist gewissermaßen eine Sondergruppe und zum Glück sehr selten.
Doch die besten Therapien für sonstige sehr schwere Fälle sind fast alle diskursiver Art, dass dabei auch Emotionen ins Spiel kommen, bestreite ich nicht. Dass es andere Therapieformen gibt, die primär über Bilder arbeiten und heute immer mehr gewürdigt werden, bestreite ich auch nicht.
mat-in hat geschrieben:So sehr reden wir doch nicht aneinander vorbei :-)
Den Eindruck habe ich eigentlich auch nicht.
mat-in hat geschrieben: Ich sage ja nur, daß die Lichtschranke eben ein viel simpleres System ist (wie du auch sagst), ich gehe nur den Schritt weiter zu sagen, das entsprechend Komplexen Systemen ein Willen unterstellt wird.
Was Du meinst, ist, dass wenn der eigene PC mal wieder Mucken macht oder der Wagen nicht anspringt, man ihn beschimpft und so tut als hätte er ein Eigenleben, wo er doch in Wirklichkeit eine etwas bessere Blechdose ist. Ja, aber ich glaube, die meisten werden nicht wirklich denken, dass ihr Auto lebt und bewusst ist und absichtlich nicht anspringt, sondern einfach ihre Spannungen abbauen, wenn sie die Karre beschimpfen.
Die Frage darüber hinaus ist aber, wann darf man einem System Bewusstsein zuschreiben?
Weißt Du, wie wir das machen? Reichlich cartesianisch. Wir schauen auf das Verhalten von diesem System, Dennett hat sich dazu ja ausgelassen und der Turing-Test besagt kaum was anderes.
Wir schauen was jemand (etwas) macht und schreiben diesem Verhalten dann ggf. Intentionen zu.
Doch nur physikalische Systeme von intentionalen Systeme zu unterscheiden, ist zu undifferenziert.
Intentionen hat eine Katze auch, aber die ist nicht diskursiv. Diskursive Systeme können uns aus erster Hand berichten, was in ihnen vorgeht, man fragt sie ganz einfach (sofern man ihre Sprache spricht und diese hinreichend komplex ist). Beim Rest muss man interpretieren, ob das Schwanzwedeln des Hundes nun Freude oder Demutsgeste oder sonst was ist.
Diskursive Systeme können uns sagen, was sie empfinden, welche Absichten sie haben und so weiter.
Cartesianisch ist daran, dass wir folgenden Schritt machen, der zumeist in den Darstellungen unterschlagen wird. Wenn wir Intentionen, Bewusstsein, Diskursivität, Intelligenz und dergleichen zuschreiben, dann gibt es dazu genau einen Weg. Wir schauen den anderen an, sehen was der macht – oder hören, was der sagt – und urteilen: Hm, so wie der sich verhält, könnte ich mich auf verhalten, wenn ich in seiner Situation wäre, daran erkenne ich, der muss rational handeln und folgt nicht einfach einer Erbkoordination. Noch stärker gilt das für das, was gesagt wird.
Was wir aber tun, ist, dass wir in tief gefühlter Sicherheit unseren Zustand – wir erleben uns nämlich als freies, bewusstes, wollendes, rationales, diskursives Wesen – auf den anderen übertragen und ihn vor dem Hintergrund, was wir über uns selbst wissen, deuten und beurteilen.
Eine Lichtschranke verhält sich sehr eingeschränkt, ein Regenwurm ist da schon weiter, eine Katze noch weiter und bestimmtem tierischen Verhalten von Delphinen, Affen, Elefanten und Krähenvögeln schreiben wir sogar ein rudimentäres Ich-Bewusstsein zu, weil wir unterstellen: Wer das kann, der muss über Ich-Bewusstsein verfügen. Der stillschweigende Hintergrund ist: Ich kann das und weiß, dass ich mich als Ich empfinde. Ein Sittich verhält sich stutendoof vor dem Spiegel, der denkt, das sei ein anderer, andere Tiere benutzen Spiegel und dergleichen, um sich staunend und systematisch zu untersuchen, oder eben zielgerichtet Neonflecken die im Spiegelbild erscheinen, nicht im Spiegel, sondern bei sich selbst zu entfernen.
mat-in hat geschrieben:Ich würde unter freiem Willen - ähnlich wie oben beschrieben - ein frei von zwängen die gegen meine natur sind verstehen.
Warum ist denn bei Dir Freiheit nur denkbar, wenn man gegen Naturgesetze verstoßen kann?
Man kann natürlich dieser Ansicht sein (schließlich sind wir frei ;) ) aber dieser Freiheitsbegriff hat einen entscheidenden Nachteil. Wenn man Gott mal ausklammert, was in diesem Umfeld nicht weiter schwer sein dürfte, gibt es schlicht nichts und niemanden der frei wäre.
Das kann man meinen, muss aber dann auf Unterscheidungen verzichten, die verschiedene Freiheitsgrade zuschreibe und die Du mit hoher Wahrscheinlichkeit teilen wirst.
Ein Felsbrocken folgt einfach nur physikalische Einflüssen, auf anderes reagiert er nicht. Ein vollkommen reizreaktionsgeprägtes Tier mag uns limitiert vorkommen, hat aber mehr Möglichkeiten als der Felsen. Ein Tier, was sehr intelligent ist, offenbar Absichten verfolgt und auf diese auch reagieren kann, so das Verhalten nicht blind bis zum Ende und immer wieder ausgeführt wird, erscheint uns freier und vor allem zwischen Menschen und Menschen sehen wir doch beträchtliche Unterschiede. Der eine erscheint uns dumpf und unreflektiert, zum anderen schauen wir bewundernd auf, weil wir ihn für klug halten. Niemals würde wir uns im Ernst mit einem Colaautomaten unterhalten und Antworten von ihm erwarten, oder, dass er seine Reaktion ändert und die Pulle doch noch rausrückt, nach dem er unser Geld gefressen hat.
Und auch wenn ein Beo dressiert wurde kluge Sätze zu sagen, wie: „Ich finde, dass Obama den Friedensnobelpreis zu früh erhalten hat“, würden wir uns nicht zu ihm setzen und sagen: „Oh, du interessierst dich für Politik, erklär mir mal, warum du dieser Ansicht bist“, sondern wir würden amüsiert lächeln, darüber, was der Besitzer da originell andressiert hat.
Das heißt aber und das ist der entscheidende Unterschied, dass wir (zurecht) unterstellen, dass der Beo nicht weiß, was er sagt, obwohl das, was er sagt, als sinnvoller und richtiger Satz angesehen werden könnte.
Das heißt, nicht die Richtigkeit von Aussagen und Verhalten ist entscheidend, sondern die Frage, ob derjenige der das kann, auch
versteht, was er tut und sagt. Und das bekommen wir durch Nachfragen heraus: „Wieso bist Du dieser Ansicht, warum tust du das, erklär mir das mal?“ Und anhand der Antworten erkennen wir, „ah, nur auswendig gelernt, aber nicht begriffen“ (beim Vogel, altklugen Kindern und Blendern). Der Hintergrund ist aber wieder der, dass man sich denkt: „Wäre ich an der Stelle, ich würde das ungefähr so erläutern: …“ Und wir wissen von uns, ob wir etwas verstanden haben, oder nicht und wie man rausbekommt, ob der andere etwas verstanden hat, oder nicht. Indem er nämlich nicht nur immer dasselbe wiederholt, sondern den Sachverhalt unter einem anderen Blickwinkel, mit eigenen Worten erklären kann, oder tun kann, was er behauptet tun zu können.
Und das ist unsere Freiheit, vor einer Handlung oder Antwort innehalten zu können, neue Informationen zu integrieren und sie erkennbar zu verarbeiten. Zu begründen, warum wie meinen, was wir meinen, tun, was wir tun. Wir verstehen, was wir tun und wir können zeigen, das wir es verstehen, oder zumindest über eine plausible Theorie verfügen. Denn oftmals, da gebe ich Dir Recht und das sagte uns schon Freud, sind die Erklärungen für unsere Handlungen nur Rationalisierungen.
Wir kennen die wahren Gründe und heimlichen Motive nicht immer, aber man kann sie erkennen, sonst wäre eine solche Aussage, wie die von Freud, sinnlos.
Unsere Motive könnten falsch sein, aber wenn wir überzeugt wären, sie seien richtig und das gut begründen könnten, wäre wir erkennbar rationale Wesen, die wenigstens der Meinung sind, sie wüssten was sie tun und über eine halbwegs kohärente Theorie ihres Innenlebens verfügen.
Die Freiheit ist also auch hier noch steigerbar, aber ich denke, Grade von Freiheit wirst Du auch anerkennen?
mat-in hat geschrieben:In dem Sinne bin ich natürlich nie ganz frei, weil immer Zwänge da sind, andere Menschen zu berücksichtigen, usw. ich bin aber auch nicht determiniert-unfrei im Sinne davon, die nächsten 30 Jahre nur noch Entscheidungen treffen zu können die ohnehin fest stehen, da es keine Alternativen gibt.
Ja.
Und der Kompatibilismus setzt noch eins drauf und sagt: Selbst wenn fest stünde, was Du am 2.12.2023 um 15:25 tun wirst und Du dem nicht entrinnen könntest: Deiner Freiheit das dann zu wollen, was Du tust, täte das keinen Abbruch und Du könntest sagen, ich mache es aus dem und dem Grund und ich will es aus diesem Grund genau so tun und nicht anders.
So, wie Du mir ja heute begründen kannst, ob und inwieweit Dir die These der Freiheit zusagt oder es eben nicht tut und Deine Meinung aus bestimmten Gründen hast, welche auch immer das seien.
mat-in hat geschrieben: Was ich jedoch nicht sehe ist, daß da "irgend was von außerhalb eingreift".
Ich auch nicht, aber ich kann mich da nur wiederholen. Keiner der Philosophen und Psychologen, die den Namen verdienen, ist heute überzeugter Cartesianer und das aus gutem Grund. Die Problematik des Dualismus ist wirklich jedem der das dritte Semester überstanden hat überbekannt. Dass es irgendwo auf der Welt noch einen Freak gibt, der diese Auffassung dennoch vertritt, geschenkt, aber wenn etwas out ist, dann der cartesische Dualismus.
Es gibt in der Tat einige, die intelligente Varianten des Dualismus vertreten, aber diese Varianten sind dann in auch intelligent und die reichlich naiven Zurückweisungen der Form: „Da glaubt ja jemand an Geister“ sind dem nun wirklich nicht angemessen.
mat-in hat geschrieben:Auch wenn die Wortwahl mancher Forscher (und vielleicht auch ihre Summe aus Entwicklung und Erfahrung ;) etwas ungeschickt sein mag, glaubt doch niemand der "und jetzt will die Zelle Botenstoffe ausschütten", daß da ein Wille, ein Handlungsagent mit einer Absicht, gar irgend etwas metaphysisch-philosophisches dahinter steckt...
Eben, das glaubt niemand, das ist aber auch nicht das Problem.
Das besteht darin, dass mehr oder weniger blinde, ungerichtete Abläufe der Natur, überhaupt so etwas wie Bewusstsein, Intelligenz und Reflexionsvermögen konstituieren und dass das der Fall ist, stehst außer Zweifel Du und ich sind der Beweis dafür.
Es geht um die reichlich komplizierte Frage, ob zwischen Bewusstheit und richtiger Reaktion ein qualitativer Graben gezogen ist (und was ihn, falls ja, ausmacht) oder ob das einfach nur eine Frage der besseren Rechenleistung ist (was sein könnte, aber freilich nichts erklärt).
Die Naturalisten ziehen sich gerne auf die Antwort zurück, dass es da ganz einfach sehr viel Zeit und sehr viele sehr kleine Optimierungsschritte gegeben hat, was bei Licht betrachtet aber eine Nullnummer ist, weil der Erklärung schlicht die Erklärung fehlt. Übersetzt heißt es: Ist halt so gekommen, warum, wissen wir auch nicht.
Die Philosophen wollen diesen Qualitätssprung einkreisen und bestimmen und die Fähigkeit des Verstehens, ist da eine gute Adresse.