Nanna hat geschrieben:Was mir an der These von der religiösen Durchdrungenheit nicht passt, ist, dass ich das Gefühl habe, dass mir mit einem rhetorischen Kniff eine christliche Überzeugung untergeschoben werden soll, die mir angeblich nur nicht bewusst ist und dass ich keine Chance habe, mich aus einem alles überspannenden christlichen Diskurs zu lösen.
Das könnte man meinen. Man könnte aber auch den Status quo einfach nehmen und daran weiterstricken. Vielleicht ist die eine oder andere Verhaltensweise dem Christentum oder einer seit Jahrhunderten gelehrten Staatsreligion entsprungen, das muss aber nicht heißen, dass man es nicht weiter verwenden darf.
Humanisten tun das ja auch bereits, indem sie aus der Nächstenliebe die Solidarität titeln und aus der Hingabe den Altruismus hervorholen und sagen, das ist ein menschliches Phänomen, ohnehin vorhanden und das bedarf keiner religiösen Unterrichtung. So und nun kommt die lästige stine wieder und sagt, wenn das so ist, dann wundere ich mich, warum in christlichen Schulen die Solidariät gelebt wird und in humanistischen Schulen der Stärkere gewinnt. Irgendwas ist da in der Überlieferung und in der Selbstverständlichkeit noch nicht so ganz angekommen.
Nanna hat geschrieben:Das impliziert nämlich, dass manche hier eine objektivere Position einnehmen können als ich, was jeder Diskurstheorie von Habermas bis Focault und jeder Wissenschaftstheorie von Popper bis Adorno widerspricht.
Die objektivere Position ist von dir subjektiv unterstellt. Wir alle, gläubig, religiös, unreligiös oder ungläubig oder immer beides zusammen, sind doch bis hierher gemeinsam gekommen, jeder mit seiner ganz persönlichen Sicht auf das Ganze. Wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen und uns untereinander ausspielen, denn ich denke, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen ist. Der Naturalismus ist ein guter Ansatz, nur ist er nicht zu Ende gedacht.
Die Demut vor der Natur und die Achtung des Lebens kommen mir in der Vermittlung einfach zu kurz. Albert Schweitzer hat einmal den Spruch getan:
Jede tiefere Religiosität wird denkend, jedes wahrhaft tiefe Denken wird religiös. So sehe ich den Naturalismus auch: wenn ich mich wirklich tief hineindenke in die Welt der Materie, dann kann ich dabei durchaus religiös empfinden. (Wurde auch hier im Forum schon mehrmals angesprochen).
Das einzige was also noch fehlt ist das Vermitteln der Moral, die vielleicht selbstverständlich im Menschen angelegt ist, aber dennoch aktiviert und anerzogen werden muss. Sich einfach nur der Religion zu entziehen und die moralische Verpflichtung, die ein denkendes, sich bewusstes Lebewesen gegenüber sich und der Welt hat, dem Zufall überlassen, greift mir noch zu kurz. (Ich habe gerade ein Déjà-vu
)
Genau das, nämlich das Erkennen, dass Menschen Gebote brauchen und die Erkenntnis diese Gebote auch überliefern zu müssen, hat schon vor langer Zeit die Schriftgelehrten dazu getrieben, Schriftstücke zu verfassen, die wir heute ua auch als Bibel zusammengefasst lesen können. Die ganze Erfahrung der moralischen Verpflichtung und die Summe der Erkenntnisse des Zusammenlebens machen diese Schriftensammlung so einmalig. Verhaltensregeln, die nicht ein Staatschef, ein Kaiser oder eine Partei verfasst haben, sondern Menschen, die von sich behaupten, dass sie göttlichen Eingebungen gefolgt sind und diese niedergeschrieben haben, implizieren, dass es sich um Verhaltensreglen handelt, die so fundamental sind, dass sie immer gelten, egal, welche Regierung und welcher Mensch gerade an der Macht sind.
Die moralischen Werte haben sich nicht verändert, sie wurden nur als unabdingbar erkannt und zusammengefasst. Menschen sind immer Menschen geblieben und was ihnen gestern schaden konnte und Unfrieden brachte, das schadet heute noch genauso. All die Niederschriften sind bereits die Erfahrungswerte einer langen Beobachtungsphase. Ich denke, dass man in der Bibel sogar Erfahrungen der alten Philosophen, Epikur und Nachfolger, entliehen und als göttliche Eingabe aufgeschrieben hat. Moral als Grundlage menschlichen Zusammenlebens muss ein fortdauerndes Ding sein, zwar kommt man ohne sie schneller weiter, aber man lässt auch das eine oder den anderen dabei auf der Strecke.
Naturalismus ist eine gute Weltsicht, aber leider noch ohne moralischen Anspruch.
LG stine