Gandalf hat geschrieben:Wie kann es sein, das der ESM, der bereits im Juni im Bundestag beschlossen wurde und mit der Unterschrift des Bundespräsidenten ratifiziert(?) ist, jetzt noch im Sinne des heutigen Urteils (Betragsgrenze der Haftung und Transparenz) nachträglich verändert werden kann?
EIne Verfassungsbeschwerde würde nur dann automatisch zur Nichtigerklärung der Entscheidung der Legislative führen, wenn diese gegen Menschen- bzw. Grundrechte verstoßen würde. Verstößt die Entscheidung "nur" gegen sonstige Artikel der Verfassung, kann der Gesetzgeber entweder eine verfassungsgemäßge Neuentscheidung herbeiführen oder die bestehende Regelung nachbessern, ohne sie in allen Punkten neu verhandeln zu müssen. Oftmals räumt das BVerfG bei komplizierten Fragen auch Übergangsfristen ein, damit der politische Prozess nicht im Nichts steckenbleibt (so geschehen beim an und für sich verfassungswidrigen Wahlrecht, nach dem 2009 trotzdem nochmal gewählt wurde; der Schaden für die Demokratie durch gar kein Wahlrecht und gar keine Wahlen wurde vom Gericht wohl als deutlich größer eingestuft als eine in ihren Effekten überschaubare Verfassungsverletzung).
Gandalf hat geschrieben:- Muss nochmal neu - mit den geforderten Vertragsänderungen - abgestimmt werden (Denn die 'Haftungsobergrenze' war ja offensichtlich nicht drin, entgegen der Lügen von Schäuble u.Co. - und wie vorher schon einige Gutachten feststellten)
Die Haftungsobergrenze muss gewahrt bleiben, sonst gilt der ESM-Vertrag als verfassungswidrig. So gesehen ist der ESM nur verfassungskonform, solange die 190 Milliarden die Obergrenze bleiben ODER das Parlament eine erneute Erhöhung beschließt. Die Richter haben angemahnt, dass diese Erhöhung nicht dazu führen darf, dass sich das Parlament durch eine überbordende Abgabenlast de facto handlungsunfähig macht, aber haben keine konkrete Zahl genannt.
Das alles bedeutet, dass der ESM ratifiziert werden kann, sofern die Haftungsobergrenze nicht verletzt wird.
Gandalf hat geschrieben:- muss der Vertrag mit den anderen EU-Partnern nochmals nachverhandelt werden?
Nein, aber der Bundespräsident, der die Ratifizierungspapiere formal ausfertigt, muss einen Anhang an die Vertragspapiere anhängen, in denen klargestellt wird, dass Deutschland den Vertrag nur unter der Bedingung ratifiziert, dass alle anderen Vertragspartner die juristische Auslegung des BVerfG akzeptieren. Sollte ein anderes Land wider Erwarten erklären, dass es dieser Auffassung nicht folgen wird, könnte es tatsächlich sein, dass einzelne Abschnitte nachverhandelt werden müssen.
Gandalf hat geschrieben:- ist er mit Unterschrift des Bundespräsidenten völkerrechtlich verbindlich (ohne die geforderten Änderungen gemäß BVerfG)?
Das hat mich jetzt ehrlich gesagt eine Weile gekostet, das ist nämlich verfahrenstechnisch wirklich keine ganz triviale Frage. Es gibt dazu keinen Präzedenzfall. Zwar hat das BVerfG schon mehrere Gesetze kassiert, die der Bundespräsident vorher unterschrieben hat und der Bundespräsident darf auch verfassungsrechtlich zweifelhafte Gesetze unterschreiben (bisher neunmal mit ausdrücklicher Rüge des Präsidenten geschehen, zuletzt 2002 beim Zuwanderungsgesetz und 2006 beim Luftsicherheitsgesetz). Im Falle inländischer Gesetze ist es insofern einfacher, als dass das Gesetz einfach vom BVerfG kassiert werden kann, ohne dass ein ausländischer Vertragspartner mit dranhängt.
Im Prinzip würde ich sagen: Ja, sobald der Bundespräsident mit seiner Unterschrift und der Übergabe der Papiere an den Depositar den Ratifizierungsprozess abgeschlossen hat, ist der Vertrag völkerrechtlich verbindlich. Das ist in
Art. 59 GG eigentlich recht schlicht und eindeutig geregelt. Genau aus dem Grund wartet der Präsident ja normalerweise mit der Ratifikation auf eine entsprechende Entscheidung des BVerfG, darum dauert das Umsetzen völkerrechtlicher Verträge meistens auch lange, weil eben inländisch u.U. ein mehrstufiges Verfahren durchlaufen werden muss.
Allerdings könnte der Präsident dann nach
Art. 61 GG zumindest theoretisch wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes angeklagt und seines Amtes enthoben werden. Der Vertrag würde wahrscheinlich neu verhandelt werden, aber zumindest temporär wäre Deutschland wahrscheinlich an seine Einhaltung gebunden, es sei denn, der Vertrag würde über die Spezifika der deutschen Verfassung hinaus Menschenrechte verletzen, dann könnte Deutschland wahrscheinlich eine prinzipielle Nichtigkeit des Vertrages geltend machen, da damit ja nicht nur spezifisch deutsche Artikel, sondern weltweite Vertragssysteme wie die UDHR verletzt würden. Wenn wir allerdings schon so weit gekommen wären, würden solche Formalitäten wahrscheinlich ohnehin nur noch geringe Beachtung finden.
Das sind aber Überlegungen, die jetzt eher theoretisch interessant sind. Praktisch wird Gauck die Ratifizierungspapiere nur mit den nötigen Anmerkungen an den Depositar übergeben und damit ist, zumindest formal, der Einhaltung der Regeln Genüge getan.