Wozu dient der Gottesbegriff?

Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Vollbreit » Mo 9. Jul 2012, 23:23

ujmp hat geschrieben:Ach wo, die wollen dich in die Kindchenrolle bringen, weil Kinder kritiklose Nachahmer sind.


Wir könnten uns salomonisch darauf einigen, dass diese Zeit des Erlernens von Rollen und Regeln tatsächlich im Kindesalter stattfindet und im späteren Kindesalter auch überwunden werden könnte, was aber offensichtlich ganz gerne mal nicht geschieht.
Das allerdings würde ich dann auch nicht den Religionen in die Schuhe schieben.

ujmp hat geschrieben:Das Verständnis, dass der Mensch von unbewussten Vorgängen gesteuert wird, kann einem schon weiterhelfen. Die Religion lehrt "Du sollst nicht begehren..." Die Neurologie lehrt uns, dass du keine Chance hast, das Gebot zu erfüllen, weil du ein Mensch bist und dass die Religion unmenschliche Gebote aufstellt.


Also, ich habe erhebliche Zweifel, dass die Neurologie uns viel über unbewusste Vorgänge erzählen kann, nicht mal die Psychiatrie ist ein guter Kandidat dafür, da muss man schon die aufdeckenden Richtungen der Psychotherapie bemühen.

Aber wie auch immer, ich glaube dass Aufforderungen zum Maß halten zwar unzeitgemäß aber nicht vollkommen falsch sind, was reinen Verzicht oder Askese um ihrer selbst willen angeht, kann ich den Sinn darin nicht sehen.

Andererseits kann man asketische Techniken bewusst einsetzen, was viele Religionen auch bewusst tun. Es gibt ein schönes Buch von Michaela Özelsel, einer zum Islam konvertierten deutschen Psychotherapeutin (zu einer Zeit geschrieben, als zum Islam zu konvertieren eher noch exotisch war und noch nicht den Beigeschmack von Terrorverdacht hatte). Es heißt „Vierzig Tage“ und ist ein Tagebuch einer Sufiklausur u.a. deshalb lesenswert, weil sie einerseits aufgrund ihrer Ausbildung die psychologischen Effekte der Übungen kennt und andererseits von ihren spirituellen Erfahrungen berichtet. Ist schon länger her, aber ich habe es gern gelesen.

Also klug in den Dienst gestellt kann die Askese ein Mittel sein, die pure Unterdrückung lustvoller Betätigungen kann ich allerdings nur als schädlich ansehen.

PS: Muss mich korigieren, sie ist gar nicht konvertiert, sondern wuchs teilweise in der Türkei auf: http://www.amazon.de/40-Tage-Erfahrungs ... 629&sr=8-3
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Di 10. Jul 2012, 10:34

Ganimed hat geschrieben:dass man beim Reduktionismus eben genau die Verbindungen zwischen den Ebenen herstellt und nutzt, beispielsweise durch das Übertragen von Erkenntnissen. [Hervorhebung von mir]


Hallo Ganimed. Zu den epistemologischen Voraussetzungen: Ich bin der Meinung, daß man nur von Theorien sagen kann, daß sie wahr oder falsch sind. Folglich können wir von "Reduktion" sinnvollerweise nur sprechen, wenn wir damit "Theorienreduktion" meinen, d.h. wenn wir uns fragen, ob eine Theorie T1 eine andere T2 reduziert. Was man darunter verstehen kann, ist Thema der Wissenschaftstheorie. Die "Verbindungen zwischen Ebenen" wird dadurch hergestellt, daß a) der Individuenbereich der einen Theorie aus dem Individuenbereich der anderen Theorie "ableitbar" ist und daß b) die relationalen Begriffe der einen Theorie (also Begriffe, die eine Beziehung zwischen den Elementen des Individuenbereichs und - bei Funktionen - zwischen diesen und mathematischen Objekten (Zahlen) herstellen) aus denen der anderen Theorie "ableitbar" sind.

ableitbar in Anführungszeichen, denn es ist fraglich, ob man überhaupt eine strenge logische Ableitbarkeit fordern kann, ohne dabei überhaupt jeglicher Theorienreduktion den Garaus zu machen.

Diese zwei Bedingungen wären also die Minimalbedingung dafür, von einer Reduktion sprechen zu können. Und diese Kriterien werden - Stand der Dinge - nur von einem halben Dutzend Theorien-Paare erfüllt. In diesen speziellen Fällen haben wir tatsächlich eine Brille auf und sehen damit das, was wir mit der anderen Brille sehen und sehen sogar noch ein wenig mehr ... Aber in den anderen Fällen?
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Di 10. Jul 2012, 11:07

Hallo zusammen,

möchte mit dem folgenden Zitaten keine Diskussionen abwürgen, sondern nur das Feuer "Gottesbegriff" ein wenig schüren:

Knauer, Peter 1991: 40 hat geschrieben:Dagegen würde die Vorstellung von einer
Wechselwirkung zwischen Gott und Welt Gott zu einem Bestandteil eines übergreifenden
Gesamtsystems machen und dadurch mit einem Stück Weltwirklichkeit
verwechseln. Diese vermeintlich fromme, aber jedes wirkliche Glaubensverständnis
verhindernde Denkweise könnte man als den Ausdruck der Erbsünde
in unserem Denken bezeichnen


Wie ist das jetzt mit der Welt?

Knauer, 1991: 40 hat geschrieben:Wo Dinge in Wechselwirkung stehen, wie dies innerweltlich grundsätzlich
der Fall ist, sind sie jeweils um so weniger eigenständig, je mehr sie von anderen
abhängig sind, und umgekehrt. Sie können dabei aber nie ihre Eigenständigkeit
ganz verlieren noch andererseits überhaupt ohne Abhängigkeit sein. In
innerweltlichen Verhältnissen sind also Eigenständigkeit und Abhängigkeit
einander umgekehrt proportional, aber keines von beiden kann ganz ohne das
andere sein.


Was ist mit Gott?

Knauer, 1991: 40f. hat geschrieben:Bei der restlosen und einseitigen Beziehung der Welt auf Gott, die
wir Geschöpflichkeit nennen, ist es dagegen paradoxerweise die geschöpfliche
Eigenständigkeit selbst, die restlos abhängig ist. Sie ist also der Abhängigkeit
nicht umgekehrt, sondern direkt proportional. Je gefüllter die restlose Abhängigkeit
eines Geschöpfes von Gott ist, um so größere Eigenständigkeit kommt
diesem Geschöpf zu. Ein Mensch ist ungleich eigenständiger als ein Stein. Die
Abhängigkeit von Gott beraubt das Geschöpf nicht seiner Eigenständigkeit,
sondern verleiht ihm diese überhaupt erst.


Ich finde diese Stellen aus folgenden Gründen bemerkenswert: Erstens kommt in ihnen ganz klar zum Ausdruck, daß Gott nichts mit innerweltlichen Vorgängen, Prozessen, Naturgesetzen usw. zu tun hat. Nach Knauer wäre die Vorstellung von einem Intelligent Designer sogar "Sünde". Zum anderen die Bemerkung, daß Dinge in der Welt teilweise von anderen abhängen, und je mehr sie abhängen, desto weniger eigenständig sind sie. Die Abhängigkeit von Gott bewirke dagegen das Gegenteil: je mehr sich der Mensch als von Gott geschaffen - und "geschaffen" liest Knauer als "bezogen auf", je mehr also der Mensch sich auf Gott bezogen sieht, desto eigenständiger ist er.

Daß Gott nicht direkt bestimmt werden kann, als Begriff also weder Gegenstand noch Ergebnis von Schlussfolgerungen sein kann, daß wir nur die Welt haben, von der wir behaupten, daß sie auf Gott verweist oder zeigt, das alles sind Gedanken, die schon bei Anselm von Canterbury im 11.Jh. und dann später bei Thomas von Aquin anzutreffen sind:

Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Liber 1, cap 30 hat geschrieben:Non enim de Deo capere possumus quid est, sed quid non est, et qualiter alia se habeant ad ipsum, ut ex supra dictis patet.


Diese Gottesvorstellung, die hier von mir nur angerissen wurde, ist also nicht ein "destillierter Rest", wie Lumen glaubt. Im Gegenteil: Sie ist schon seit langer Zeit etwas völlig anderes als das sog. Intelligent Design, welches einfach nur eine Verrohung des christlichen Glaubens und seines Gottesbegriffs ist.

Knauer, 1991: 43 hat geschrieben:Anstelle eines angeblichen »Gottesbeweises« begnügen wir uns mit
einem Beweis unserer Geschöpflichkeit. Er führt nicht zu jenem sogenannten
»höchsten Wesen«, das nur ein ins Unendliche projiziertes Stück Welt ist, aber
nichts mit dem Gott der biblischen Tradition zu tun hat.


Literatur: Knauer, Peter 1991: Der Glaube kommt vom Hören. Ökumenische
Fundamentaltheologie. Freiburg (downloadbar unter http://peter-knauer.de/20.html)
Zuletzt geändert von laie am Di 10. Jul 2012, 12:03, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Vollbreit » Di 10. Jul 2012, 11:51

Dieses Motiv der Freiheit durch totale Abhängigkeit oder sich in den Dienst stellen, findet man auch bei Meister Eckhart.

Gleichzeitig findet man bei ihm aber auch eine radikale Absage an die kleinlichen Projektionen mit denen man meint ein gottgefälliges Leben zu führen, kurz und gut, eine Absage an den konventionellen Gehorsam.

Gott weiß schon wie er euch haben will, bleibt locker, entspannt euch, erzwingt nichts, lebt einfach, dann ist alles in Ordnung. Man könnte meinen der Meister sei bei den Buddhisten in die Lehre gegangen, wahrer ist wohl, dass sich zwar längst nicht alle Religionen im Kern ähneln, die Mystik der Religionen jedoch schon.

(Zu Eckhart gibt es allerdings wirklich sehr verschiedene Stimmen, eine Bochumer Schule um Kurt Flasch leugnet den Mystiker Eckhart (und will sich wohl im Kern gegen dessen Vereinnahmung durch „Esoteriker“ wehren), andere sehen seine Mystik eher aus den Schriften gezogen, das heißt Eckhart kam nach dieser Ansicht via Intellekt zur Mystik, von dem Eckhart reichlich besaß, doch das ist wirklich ein Thema für sich.)

Was mich interessieren würde, laie:
Kannst Du Deinen Gottesbegriff irgendwie festmachen?
Die Zeit der Wunder ist vorbei, sagst Du, Dein Gott scheint sehr transzendent zu sein, kannst Du diese Transzendenz fassen und wie gehst Du mit der Problematik des Dualismus um?

Ist es eher ein rationaler oder erfahrbarer Gott?
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Di 10. Jul 2012, 12:20

Vollbreit hat geschrieben:Dieses Motiv der Freiheit durch totale Abhängigkeit oder sich in den Dienst stellen, findet man auch bei Meister Eckhart.


Richtig. Auch hier geht es darum, nichts auf der Welt mit Gott zu verwechseln. Eckhart sagt einmal sinngemäß, das, was von der Seligkeit abhält, sind Mannigfaltigkeit und Zeit: alles, was die Zeit berührt, ist sterblich. Gott ist ausserhalb jeder Zeit, daher ist er zeitlos, ein zeitloses Nun. Das Nun, sagt Eckhart, in dem Gott die Welt geschaffen hat und das Nun, in dem ich jetzt spreche, und das Nun, in dem der letzte Mensch vergehen wird, sind eins. Keine leichte Kost.

Vollbreit hat geschrieben:Kurt Flasch leugnet den Mystiker Eckhart


stimmt. Flasch leugnet aber nicht den Philosophen Eckhart. Flasch hat etwas gegen esoterische Verflachung. Ich persönlich denke auch, daß in dem o.g. Gottesbild der Einfluss von Eckhart wirksam ist. Meister heisst Eckhart deswegen, weil er Professor in Paris war, nicht, weil er ein Guru war.

Vollbreit hat geschrieben:Ist es eher ein rationaler oder erfahrbarer Gott?


Im Augenblick würde ich sagen, ein rationaler Gott. Er kann nicht Gegenstand der Erfahrung sein so wenig wie er Gegenstand logischer Schlussfolgerungen ist. Ich meine, was wir erfahren können, das sind wir selbst, wenn wir an Gott glauben. Eckhart nennt dies die Gottessohnschaft: je mehr man sich von den Dingen um einen herum befreit, desto gegenwärtiger wird man. vgl. dazu die Predigt Nr. 52 Beati pauperes spiritu, quia ipsorum est regnum coelorum ("Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich")

Was sind "Dinge"? Alles, was auf der Welt ist. Dazu gehören materieller Besitz, aber eben auch unsere Voruteile und Zielvorstellungen und Karrierepläne und sogar Gottesvorstellungen.

Problematik des Dualismus: ja, das ist eines. Welches? Daß es die Welt und Gott geben soll, oder? Und in welcher Beziehung die zueinander stehen. Ich weiss es nicht. Es ist alles so verdammt schwer. Aber wenn man auf den Kinder-Gott des ID verzichtet und statt dessen den Gott der katholischen Kirche nimmt, dann hat zumindest nicht mehr das Problem der "Konkurrenzsicht".
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Lumen » Di 10. Jul 2012, 14:47

laie hat geschrieben:...

Vollbreit hat geschrieben:...


Die Teach the Controvery Taktik besteht darin, zunächst Zweifel an Wissenschaften beziehungsweise an einer Theorie oder Disziplin zu sähen, dieses aber mit dem Hintergedanken um dann Gott als scheinbare Lösung ins Spiel zu bringen. Meine Frage: Ist das hier der Fall? Beschrieben habe ich den Sachverhalt ein paar Seiten vorher und nun müsste es eigentlich offensichtlich sein. Wenn nicht, bitte ich darum, dass mir "Fundamentalist" gezeigt wird, was ich da übersehen haben könnte. Da sich sonst kein Widerspruch regt, bin ich durchaus gewillt, meinen Fehler einzusehen.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Di 10. Jul 2012, 15:13

Ach Lumen,

Also gut, wenn es dir besser geht, dann nehme ich halt die Indianer und du kannst mit den Soldaten spielen, die das Fort "Science Creek" verteidigen und ich - Bumbumbum --- bumbumbum - greife es mit Schadenszauber an. BUMM!

Irgendwo am Rande des Universums hockt einer, den man bloss noch nicht entdeckt hat, der macht hier alles. Er macht auch, daß du ihn nicht entdecken kannst. Howgh! Bumbumbum.. hörst du den dumpfen Trommelklang?

Am Ende rauchen wir dann das Kalumet und du kannst gegen ein paar Glasperlen und pockenverseuchte Decken wieder ein bisschen mehr Gebiet dem Einzugsbereich von Science Creek einverleiben. Ich werde dann von einem Reservat aus mit meinen Indianern weiterkämpfen.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon ujmp » Di 10. Jul 2012, 19:15

laie hat geschrieben:möchte mit dem folgenden Zitaten keine Diskussionen abwürgen, sondern nur das Feuer "Gottesbegriff" ein wenig schüren:...

Du kannst überall in dem Text statt "Gott" auch "Daffy Duck" einsetzten ohne dass der Text irgend etwas an Bedeutung verliert. Es ist leider nur willkürliches Gerede. Er könnte das alles kürzer fassen: Gott ist nichts.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon ujmp » Di 10. Jul 2012, 21:16

laie hat geschrieben:möchte mit dem folgenden Zitaten keine Diskussionen abwürgen, sondern nur das Feuer "Gottesbegriff" ein wenig schüren:...


Hallo laie, ich befürchte, du könntest meinen letzten Kommentar als Verhöhnung auffassen. Das war ganz bestimmt nicht so gemeint! In den letzten Gessprächen mit meinen christlichen "Geschwistern" habe ich mal sowas gesagt wie, so wie wir unseren Gott in die Bedeutungslosigkeit hineindeuten, können wir eigentlich irgendwann jeden Clown als Gott anrufen. Jedenfalls stehen solche sophistischen Winkelzüge, die du da gepostet hast im Widerspruch zu der Botschaft der Evangelien, die unbezweifelbar eine konkrete Heilserwartung verkünden.

Der Witz dabei ist auch, dass ihr permanent damit beschäftig seit, eine Definition für den Begriff Gott zu finden. Ich wisst ja offensichtlich selbst noch nicht genau, woran ihr glaubt! Wenn das nicht irrational ist!
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon ganimed » Di 10. Jul 2012, 23:59

Vollbreit hat geschrieben:Zweitens, selbst wenn es eine allumfassende physikalische Ebene gibt, was eine Glaubensfrage ist, deren kleinste Bestandteile die Quanten sind, so dass wir, die nächste Glaubensfrage, durch die Erforschung dieser Ebene die größte Präzision – was immer das ist – erzielen. Niemand versteht die Sprache dieser Ebene. Dazu kommt noch, dass niemand die Logik dieser Ebene versteht.

Quanten waren ja auch nur so dahingesagt, weil das sozusagen so ziemlich die unterste Ebene ist, von der wir verlässlich wissen. Aber um Reduktion zu betreiben und zu vermuten, dass die Welt physisch ist und nicht teilweise metaphysisch, muss man ja nun keineswegs die Quanten verstehen. Atome, Moleküle, das reicht ja sicher auch schon als Fundament. Mir geht es ja nur darum, dass wir beim Anblick eines Staus (um mal ein klassisches Emergenzphänomen zu nennen) nicht wie Nanna anfangen, das ganze als eine Menge von Autos PLUS einem mystischen, nicht näher zu fassenden metaphysischen Anteil zu sehen. Nein, es sind wirklich nur Autos, nach allem was wir wissen. Autos in einer ganz bestimmten Relation zueinander.

Sehr viele Hirnforscher haben schon sehr viele Blicke auf das Hirn geworfen und meines Wissens noch nie einen konkreten oder indirekten Hinweis auf metaphysische Elemente in den neuronalen Prozessen gefunden. Wie kommt ein intelligenter Mensch wie Nanna oder andere hier dann dazu, ohne solche Hinweise dennoch diese phantastisch klingende Annahme zu wagen, dass da bei einfachen Gedanken bereits Metaphysik am Werke sei? Das wäre meine Frage. Meine Vermutung als Antwort: Intuition, die in diesem Fall fehlleitet.

laie hat geschrieben:Zu den epistemologischen Voraussetzungen: Ich bin der Meinung, daß man nur von Theorien sagen kann, daß sie wahr oder falsch sind.

Soweit ich verstehe, kann man von Theorien sogar nur sagen, ob sie bereits widerlegt sind oder ob noch nicht so ganz. Aber ich würde die "Ebenen" lieber als unterschiedliche Modellbeschreibungen sehen wollen, was man natürlich als Spezialfall von Theorien sehen kann. Also für den klassischen Psychologen gibt es, sagen wir, eine darstellende Beschreibung der Emotion "Angst". Er beschreibt das vermutlich mit gewissen körperlichen Symptomen, mit gewissen Erlebnisberichten aus subjektiver Sicht, mit messbaren Verhaltensänderungen. Das ist die psychologische Ebene. Ein Hirnforscher schaut auf seinen Scanner und sieht zum Stichwort "Angst" eine erhöhte Aktivität in der Amygdala, er sieht irgendwelche Hormonreaktionen, neuronale Muster, wie auch immer. Beide Ebenen beschreiben aber doch wohl das gleiche Phänomen. Wenn man nun auf reduzierter Ebene, also den Neuronen, beispielsweise sähe, dass bei einer Angstreaktion das Gedächtnis blockiert wird durch einen Neurotransmitter (reine Phantasie meinerseits), dann wäre das im Rückschluss für den Psychologen interessant, der ebenfalls bereits beobachtet haben mag, dass sich Angstpatienten an bestimmte Dinge schlecht erinnern. Nun hätte er durch Anwendung dieser Reduktion eine Erklärung für die Amnesie geliefert bekommen. Und mit ein wenig Pharmaforschung vielleicht auch ein Medikament in die Hand bekommen, welches diesen Neurotransmitter unterdrückt und dem Patienten irgendwie hilft. Ich finde, solche Beispiele lassen sich leicht vorstellen und denken. Ich vermute nun, dass in einem solchen Beispiel deine strikten Anforderungen für eine strenge Transformation zwischen den beiden Theorien nicht erfüllt wären. Aber wie man sich hier denken kann, ist das wohl auch nicht nötig und man kann trotzdem eine Menge mehr über die Welt lernen. Durch diesen Reduktionismus und die Annahme, dass eine Emotion auch auf körperlicher Ebene verstehbar ist, hat man meines Wissens bereits viele Erfolge gerade im Grenzgebiet Hirnforschung-Psychologie erzielt.

laie hat geschrieben:Diese zwei Bedingungen wären also die Minimalbedingung dafür, von einer Reduktion sprechen zu können. Und diese Kriterien werden - Stand der Dinge - nur von einem halben Dutzend Theorien-Paare erfüllt.

So wenig? Welche Theorien-Paare sind das? Hast du da bei so wenigen Kandidaten eine konkrete Liste? Würde mich interessieren. Gehören auch Theorienpaare aus Hirnforschung und Psychologie dazu?
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Mi 11. Jul 2012, 06:27

@ujmp

freundliches Danke für deinen zweiten Post.

ujmp hat geschrieben:unbezweifelbar eine konkrete Heilserwartung


ja, auf die bin ich auch gespannt. Ich kann es dir nicht sagen, wie das zusammengeht. Aber wir stehen ja noch ganz am Anfang. Bleiben wir dran!

Und: es kommt eben darauf an, was man vom "Clown" erwarten kann oder?

@ganimed

ja, so eine Überschau an Theorienpaaren gibt es. Hirnforschung und Psychologie war nicht dabei:

- Kartesischen Stoßmechanik auf die Newtonsche Teilchenmechanik
- Keplerschen Planetarischen Theorie auf die Newtonsche Teilchenmechanik
- Geometrischen Optik auf die Wellenoptik
- Wellenoptik auf die Klassische Elektrodynamik
- Newtonschen Partikelmechanik auf die Relativistische Teilchenmechanik
- Mendelschen Genetik auf die Molekularbiologie

(Quelle: Moulines, C.-U. "Einheit des Seins, Einheit der Wissenschaft". In: D. Rippl, E. Ruhnau (Hg.) Wissen im 21. Jahrhundert, Komplexität und Reduktion. (Wilhelm Fink Verlag) München, 2002, S. 27-38)

ganimed hat geschrieben:aber ich würde die "Ebenen" lieber als unterschiedliche Modellbeschreibungen sehen wollen


Gut, dann sagen wir halt, daß eine Theorie eine homogene Klasse von Modellen ist, ausgedrückbar durch ein mengentheoretisches Prädikat der Art ... ist ein Modell für T oder kurz ... ist ein T. Also sagen wir dann von einem Sachverhalt/Phänomen: x ist ein Modell für die Theorie T oder kurz x ist ein T. Dann definiert man dieses Prädikat, indem man seine Individuenbereiche, Relationen und eventuellen Gesetze rein mengentheoretisch (nicht inhaltlich!) angibt. Dann hat man den mathematischen Kern einer Theorie T.

Auch empirische Anwendungen sind dann Modelle für die Theorie, allerdings solche, über die in der scientific community Einigung besteht, daß es sich um Anwendungen für die Theorie handelt. Und natürlich kommt zu dieser schwammigen, pragmatischen Komponente noch ein geeigneter Approximationsapparat hinzu, den man aber auch logisch rekonstruieren kann.

Du beschreibst zwei verschiedene Theorien der Angst, einmal eine intuitive Skizze aus Sicht eines klassischen Psychologen, dann aus Sicht eines Hirnforschers, so daß die beiden Theorien folgende Gestalt haben könnten (ich beschränke mich ebenfalls auf eine Skizze, die nur den Grundgedanken andeuten soll):

x ist eine klassische Theorie der Angst gdw es Person (P) körperliche Symptome (kS), haben (h), Verhaltensänderungen (VÄ) gibt so daß gilt:
1) x = <P, kS, VÄ>
2. P ist eine nicht leere Menge mit genau einem Element
3. kS ist eine nicht leere Menge
4. h ist eine Relation auf die Mengen P und kS, p hat ks
5. VÄ ist eine nicht leere Menge
6. wenn P ks hat, dann hat P VÄ

x ist eine neuronale Theorie der Angst, gdw es Person (P), neuronale Muster, Amygdala, Hormonreaktionen usw. gibt, so daß gilt: (spare ich mir jetzt):

jetzt zeig, ob die beiden Ps identisch sind. ist kS dasselbe wie Hormonreaktionen usw.

ganimed hat geschrieben:Beide Ebenen beschreiben aber doch wohl das gleiche Phänomen.


Eben nicht so einfach! Das muss man erst begründen.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Vollbreit » Mi 11. Jul 2012, 10:02

laie hat geschrieben:Richtig. Auch hier geht es darum, nichts auf der Welt mit Gott zu verwechseln. Eckhart sagt einmal sinngemäß, das, was von der Seligkeit abhält, sind Mannigfaltigkeit und Zeit: alles, was die Zeit berührt, ist sterblich. Gott ist ausserhalb jeder Zeit, daher ist er zeitlos, ein zeitloses Nun.


Eckhart spricht ja in der von Dir verlinkten Predigt auch von den Zustand außerhalb der Zeit zu stehen und den sterblichen Gegenpart.

laie hat geschrieben:Das Nun, sagt Eckhart, in dem Gott die Welt geschaffen hat und das Nun, in dem ich jetzt spreche, und das Nun, in dem der letzte Mensch vergehen wird, sind eins. Keine leichte Kost.


Und eine Erfahrungstatsache aus den Berichten der meisten Mystiker. Darum bin ich auch skeptisch gegenüber der Ausdeutungs Flaschs oder der ganzen Fraktion, die gerne behauptet, dieses Nun zu erreichen sei eine rein rationale Angelegenheit. Ganz sicher sind das platonische Einflüsse, aber auf der anderen Seite gehörte, soweit ich das recherchieren konnte, die Praxis der Stille und Zurückgezogenheit in Klausen auch zum Dominikanersein.

Nur war für das Umfeld Eckharts Intellektualität und Glaube oder Gotteserfahrung überhaupt kein Widerspruch und ich denke auch dass Kontemplation, Meditation und Nachdenken fließend ineinander übergegangen sein werden.

Besitzt Du da nähere Kenntnisse?

laie hat geschrieben:Im Augenblick würde ich sagen, ein rationaler Gott. Er kann nicht Gegenstand der Erfahrung sein so wenig wie er Gegenstand logischer Schlussfolgerungen ist. Ich meine, was wir erfahren können, das sind wir selbst, wenn wir an Gott glauben.


Da besteht ja dann tatsächlich eine größere Ähnlichkeit des Gottesbegriffs als etwas Negatives, ähnlich wie der Seinsbegriff von Heidegger. Das aller Selbstverständlichste können wir nicht fassen, von allem sagen wir, dass es ist, ohne dieses Sein zu kennen.

Ist Dein Gottesbegriff ein ähnlich negativer (im Sinne von sich entziehender)?

Ich stehe diesem sich immer Entziehenden zwiegespalten gegenüber. Einerseits hat dieses Negativsein auch seinen Charme, weil dort eben Widersprüche zusammenfallen können. Zum anderen ist die Abwesenheit aller ichhaften (zeitlich-sterblichen) Regungen, manchmal auch aller Eindrücke überhaupt, etwas, was Mystiker aller Kulturen immer wieder beschreiben. Der eigentliche Durchbruch, die die Abwesenheit von allem und die Erfahrung, dass eine Form von Sein, dennoch nicht vergeht, bzw. niemals in den Strom der Vergänglichkeit eingetreten ist und postwendend da ist, wenn der Strom der Vergänglichkeit versiegt.

Damit das keinen Dualismus ergibt, mit all seinen Schwierigkeiten, kann man daraus auch ein monistisches Projekt machen und ich glaube, so stellten sich die meisten das auch vor. Ein Hintergrund, sein Sein, ein göttlicher Raum der beständig im anwesend ist, der nicht schwer zu erreichen, sondern unmöglich zu verfehlen ist.

Und doch gibt es natürlich auch starke Kritik, nicht nur aus der logisch positivistischen/analytischen Ecke, auch nicht nur aus der neuen naturalistischen Ecke – die mich mit Abstand am wenigsten überzeugt –, sondern auch aus der Frankfurter Schule und ihrem Dunstkreis.

Die wesentliche Kritik ist im Grunde, dass man mit negativen, sich entziehenden Begriffen, nicht philosophieren kann. Nun können wir Gott schlecht vorwerfen, dass er sich nicht unseren begrifflichen Möglichkeiten anpasst, auf der anderen Seite geht es ja hier um den Gottesbegriff und was er bezeichnet oder bezeichnen soll. Vielleicht kann er immer nur ein Hinweisschild ein „da lang“ sein? Man hat immer schon gerne Zuflucht zu Paradoxien genommen um Gott oder mystische Zustände zu beschreiben.

Ich frage mich nur, warum man Erfahrungen der Transzendenz nicht auch differenziert beschreiben können soll. Zwischen dem Begriff „Pfeffergeschmack“ und dem Geschmack von Pfeffer liegt auch eine unüberbrückbare Differenz, die genau dann am überzeugendsten überbrückt wird, wenn man Pfeffer schmeckt. Ob den Pfeffer dann wirklich jeder so schmeckt wie der andere, ist ja im Grunde geklärt. Hinreichend ähnlich, um sich erfolgreich drüber verständigen zu können, hinreichend unterschiedlich, um eigene Erlebenswelten zu konstituieren.
Der Praxistest ist beim Pfeffer einfach leichter: „Hier, probier mal, das ist Pfeffer.“
„Hier probier mal, das ist Erleuchtung (oder Gott?)“ kann man nicht so einfach sagen, obwohl man es letztlich eben doch kann. Wenn die allergewöhnlichste Erfahrung nicht angenommen werden kann –was spirituelle Lehrer immer wieder bemerkt haben – geht man eben den umgekehrten Weg und beseitigt die Hindernisse im Ich, in der Welt eigener Projektionen und Vorstellungen, Schritt für Schritt. Am Ende – das in jedem Moment erreicht werden kann, weil es das Jetzt oder Nun ist – sind dann Berge wieder Berge und in meiner Phantasie liegt das oft beschriebene schallende Gelächter der Zen-Meister daran, dass sie – sozusagen auf dem Gipfel all dessen, was man hinter sich lassen kann, angekommen – erkennen, dass sie all das, was sie jetzt gewonnen oder erreicht haben, immer hätten haben können. Es war nie woanders.

Nun will ich da aber kein schnelles happy end draus basteln, weil das nämlich in eine ungesunde Richtung führen kann, die wir tatsächlich erlebt haben. „Esoteriker“, ich benutze den Begriff mal so abschätzig wie er gemeint ist, obwohl ich das eigentlich nicht mag, haben nun die Möglichkeit sich etwas über diese wunderbare Welt, die doch irgendwie so außergewöhnlich und ganz anders und dann doch wieder der allergewöhnlichste Zustand ist auszusagen, in blumigen Andeutungen, zugerauntem „Wissen“ und das ist die Misere in die man gekommen ist. Jeder Spinner verwechselt seine narzisstischen Größenphantasien mit Erleuchtung und Ich-Schwäche mit Ichlosigkeit.

Hier muss man viel aufklären, man kann aber. Innenwelten und Erlebnisse sind ja zu beschreiben, Lyriker, Schriftsteller, Mystiker, Du und ich und jeder andere, wir tun und können das ja.
Selbst hinreichend ausdifferenzierte Begriffsapparate stünden zur Verfügung, haben nur den Nachteil, dass sie, oft aus dem Osten kommend, so einen exotischen Touch hineinbringen, dass es die Blumenkinder anzieht und manche Wissenschaftler erschreckt und abstößt. Also spricht man lieber vom Zustand erhöhter Gammawellenaktivität, warum soll man da nicht pragmatisch agieren.

Doch das Problem ist nun: Wenn ich Meister Eckhart oder die Zen-Buddhisten oder andere spirituelle Meister ernst nehme, was ich ausdrücklich tue, was ist denn dann mein allernatürlichster Zustand? Woran merke ich denn, um bei Eckhart zu bleiben, wenn ich vorher ein Frömmler, ein Esel war, dass ich nun keiner mehr bin und mir nicht einfach noch verkrampfter oder geschickter etwas vormache? Es blinkt ja keine rote Lampe, es gibt kein Biofeedbackgerät, keine göttliche Hand fährt aus den Wolken und gratuliert mir. Hm. Ich muss – und jetzt kommt die Ungeheuerlichkeit und die Freiheit – es selbst erkennen.
Buchstäblich niemand kann mir das abnehmen. Der letzte Schnipser, der Schritt durch das torlose Tor des Zen (das in dem Augenblick verschwindet wenn ich durchgehe), den kann nur ich gehen.
Die letzte Kompetenz liegt immer bei mir. War es das, was Eckhart „bei diesem Durchbrechen zuteil“ wurde? Was meinst Du?

Falls es das war, sind alle die naturalistischen Entwertungsversuche der ersten Person Perspektive natürlich noch in einem ungleich höheren Maße Unfug, als sie es ohnehin schon sind, wenn man auf der Ebene der Erkenntnistheorie bleibt.
Zur Begriffsbestimmung, von Pfeffergeschmack und mystischen Erfahrungen und der Differenzierung zu pathologischen, brauchen wir den intersubjektiven Diskurs, derjenigen, die das Experiment durchführen, nicht derjenigen, die keine Ahnung haben. Wir müssen den halbdunklen Raum ausleuchten und einrichten, so dass sich immer mehr darin zurechtfinden.

Ich glaube, dass man auf diesem Weg zu einem breiten Gitter weiterer positiver Begriffsbestimmungen finden kann.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Vollbreit » Mi 11. Jul 2012, 11:26

ganimed hat geschrieben:Quanten waren ja auch nur so dahingesagt, weil das sozusagen so ziemlich die unterste Ebene ist, von der wir verlässlich wissen. Aber um Reduktion zu betreiben und zu vermuten, dass die Welt physisch ist und nicht teilweise metaphysisch, muss man ja nun keineswegs die Quanten verstehen.


Eine Welt zu postulieren in der Elefanten keine Elefanten sind, sondern Quantenballungen Elefanten sehr viel treffender, wahrer und besser beschreiben, ist Metaphysik, schon weil wir zu dieser Welt überhaupt keinen Zugang haben.

ganimed hat geschrieben:Atome, Moleküle, das reicht ja sicher auch schon als Fundament. Mir geht es ja nur darum, dass wir beim Anblick eines Staus (um mal ein klassisches Emergenzphänomen zu nennen) nicht wie Nanna anfangen, das ganze als eine Menge von Autos PLUS einem mystischen, nicht näher zu fassenden metaphysischen Anteil zu sehen. Nein, es sind wirklich nur Autos, nach allem was wir wissen. Autos in einer ganz bestimmten Relation zueinander.


Und ein Stapel sind wirklich nur Zeitschriften. Und Denken ist wirklich nur Hirngewitter. Und Liebe ist wirklich nur Neurotransmitterausstoß. Seltsam, dass man überhaupt diese Begriffe bemühte, nicht wahr? Streichen wird sie doch alle wieder.

ganimed hat geschrieben:Sehr viele Hirnforscher haben schon sehr viele Blicke auf das Hirn geworfen und meines Wissens noch nie einen konkreten oder indirekten Hinweis auf metaphysische Elemente in den neuronalen Prozessen gefunden.


Sehr viele Hirnforscher haben auch sehr wenig Ahnung von Philosophie.

ganimed hat geschrieben:Wie kommt ein intelligenter Mensch wie Nanna oder andere hier dann dazu, ohne solche Hinweise dennoch diese phantastisch klingende Annahme zu wagen, dass da bei einfachen Gedanken bereits Metaphysik am Werke sei? Das wäre meine Frage. Meine Vermutung als Antwort: Intuition, die in diesem Fall fehlleitet.


Eine Lösung dazu bietet wiederum Daniel Dennett an. Er sagt ganz einfach: Streichen. Manche Begriffe haben überhaupt keine Bedeutung und man kann ersatzlos auf sie verzichten. Qualia? In den Müll. Intersubjektivität? Weg damit. Das Subjekt? Überflüssig.
Am Ende bleibt eine Welt der objektiv beschreibbaren Funktionen über. Eigenartigerweise glaubt aber auch Dennett nicht an den Physikalismus, sondern ist schon der Auffassung, dass unsere Gehirn sich von einer Schüssel Hefe unterscheidet. Das erfasst die Quantenphysik nicht, denn der Unterschied zwischen Hefe und Hirn verschwindet gerade genau auf dieser Ebene von "alles ist Physik kleinster Teilchen".
So werden genau jene Ebenen wieder eingeführt, deren „wahre“ Existenz zuvor geleugnet wird.
Warum? Weil wir Welt erkennen wollen. Quanten wollen keine Welt erkennen. Ohne wollendes Ich ist Wissenschaft, Erkenntnis, Philosophie überhaupt nicht zu denken. Dass nun ausgerechnet dieses wollende Ich, was die Grundlage der Erkenntnis, des Wunsches nach Erkenntnis bildet als eigentlich gar nicht existent, nur Zellen und eigentlich nur Quantenballungen negiert werden soll, ist ein Treppenwitz der Geschichte, nicht mehr.
Dennett gerät in den Widerspruch erklären zu müssen, warum die Reduktion der Psyche auf biologische Funktionen und die Einkürzung des Gesamtgebietes der Psychologie allein auf Wahrnehmungspsychologie – warum gerade die, was ist mit den anderen? – segensreich sein soll, aber die eigentlich logische weitere Reduktion all dessen hin zum Physikalismus dann doch Unsinn ist. Verstehe ich nicht, Du?
Warum Quantenphysiker Elefanten besser beschreiben können sollten als Verhaltensforscher und Quantenelefanten die wahreren Elefanten sind, habe ich auch noch immer nicht verstanden.
Gibt es eigentlich schone ein quantenpyhsikalische Buchkritik? Gibt es eine biologische Theaterkritik?

Im Grunde steht im Hintergrund dieser Diskussion die philosophische Frage, ob eine komplett objektivierbare Beschreibung der Welt möglich ist (wie Dennett meint und auch einige Hirnforscher glaub(t)en) oder ob bei dem Verzicht auf die Perspektive der ersten Person ein irreduzibler semantischer Rest bleibt, wie z.B. Habermas glaubt. (Um das zu verstehen, müsstest Du allerdings wissen, was ein irreduzibler semantischer Rest sein könnte. Das meine ich nicht abwertend, sondern um die Kritik erfassen zu können.)
Der Versuch den einige Hirnforscher unternommen haben, dieser metaphysischen Forderung einer komlett objektivierbaren Welt mal ein erstes Knochengerüst zu verleihen, noch gänzlich ohne Fleisch, ist aber kläglich gescheitert. Genau an der Stelle, an der man nicht umhin kann, jene verzichtenswerten Termini der Sprache der ersten Person, auf das nun zu objektivierende Hirn zu übertragen. Auf einmal „wollte“ dann das Hirn etwas. Der Natur, zu der das biologische Organ Gehirn – und nichts weier soll es ja sein – gehört, unterstellen wir aber gerade, keine Intentionen zu haben, nichts zu wollen. Den Vogel schoss tatsächlich Roth ab, der nirgendwo einen anderen Akteur erblicken konnte, als das Gehirn, kein Ich winkte hinter den bunten Wärmebildchen, kein Homunkulus weit und breit – hast Du mal recherchiert wo man diese Homunkuli eigentlich findet: Ich sag’s Dir, ausschließlich in den Anatomiebüchern der Neurologen, kein Philosoph der Welt hat in den letzten 200 Jahren damit arguementiert, musste mal googlen – diesem Gehirn dann aber unterstellte „perfide“ zu sein. Das ist schon harter Stoff.

Eine andere Antwort ist, dass Du eventuell nicht so genau weißt, was eigentlich Metaphysik ist.
Der wiki-Artikel ist sehr gut: http://de.wikipedia.org/wiki/Metaphysik


Zu Deiner Antwort an laie:
ganimed hat geschrieben:Durch diesen Reduktionismus und die Annahme, dass eine Emotion auch auf körperlicher Ebene verstehbar ist, hat man meines Wissens bereits viele Erfolge gerade im Grenzgebiet Hirnforschung-Psychologie erzielt.


Nenn mir bitte von den vielen mal einen einzigen.
Meines Wissens ist es so, dass man ungefähr gar nichts Neues aus den Erforschungen der Hirnforscher für die Psychologie ableiten kann, was nicht schon seit Jahrzehenten bekannt ist. Damals hieß Hirnforschung Neurologie bzw. Psychiatrie.
Ich kann den entsetzlichen Hype um bunte Wärmebildchen nun auch tatsächlich überhaupt nicht nachvollziehen. Eines der Stichworte die in dem Kontext aufgekommen ist, ist ja die Neuroplastizität. Die wunderbare Eigenschaft des Gehirns immer anders zu sein. Frauen haben ein etwas anderes Gehirn als Männer, Linkshänder ein anderes als Rechtshänder, Geiger ein anderes als Mathematiker, Du ein anderes als Ich. Die Größe der Areale denen man eine feste Zuordnung großenteils wieder abspricht differiert erheblich, zwischen den einzelnen Menschen.
Was also ist damit gewonnen, wenn man auf einen Millimeter genau bestimmen kann, welches Areal oder sind es zwei, oder vier, oder doch 38 oder 17.000, bei mir aktiv ist, wenn ich an Rotwein denke?
Was hast Du davon?
Was sagt eigentlich das bunte Wärmebilchen genau aus? Es beschreibt eine etwas erhöhte Durchblutungssituation. Was genau sagt das und woher weiß man das? Ist doch klar, da denkt es, da wird gedacht. Ja? Ab wann denn? Um wieviel Prozent muss die Durchblutung den erhöht sein, damit man weiß, dass es hier denkt? Und wenn parallel meine Zunge auch durchblutet ist, oder meine linke Wade, denkt es dort auch? Warum (nicht)?
Es könnte richtig sein, dass dort wo es warm wird, grade nicht gedacht wird, das könnte die Klimaanlage des Gehirns sein, gedacht wird immer unmittelbar daneben.
Was genau spricht gegen diese These?

Wusstest Du, dass dort oft eine Präzision vorgegaukelt wird, die es gar nicht gibt?
Die neuesten fMRT Geräte haben nur eine bestimmte Auflösung, so dass es gar keine scharfen Bereiche gibt, die man lokalisieren kann. Dennoch werden Aussagen über Bereiche getroffen, die Unterhalb der Auflösung liegen.
Wusstest Du, dass einige Hirnforscher, die führende Protagonisten der Diskussion sind, zu dem Gebiet über das sie Aussagen machen, manchmal gar nicht selbst geforscht haben und die Ergebnisse der anderen, die dazu geforschrt haben, sehr freundlich ausgedrückt, sehr großzügig interpretiert haben?

Wieviele Sprachzentren gibt es wohl ? Zwei, vier? Ungefähr 50.
Wieviele Neurotransmittersysteme gibt es wohl? Neurotransmitter stellen Kontakte zwischen verschiedenen Nervenzellen her und haben an verschiedenen Bereichen im Hirn (und im Körper) mitunter völlig unterschiedliche Funktionen. So knapp 20. Wir kennen gerade mal Dopamin, Serotonin, Noradrenalin einigermaßen, die anderen nicht besonders.
Es gibt immer wieder Versuche mit der elektrischen Stimulation einzelner Areale, der Hirnschrittmacher, bspw. bei Parkinson-Patienten. Was vorgeführt wird, ist immer eindrucksvoll. Eben noch bewegungsunfähig klappt alles bestens, wenn der Schrittmacher angeht.
Die andere Seite der Medaille ist der Durchschnittspatient auf der neurologischen Station. Geh mal hin und schau selbst. Überzeugend funktionieren die Dinger so gut wie nie.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Mi 11. Jul 2012, 11:36

@vollbreit

bitte entschuldige, wenn ich nicht so lang antworten kann. Bin grad in der Mittagspause :wink:

Vollbreit hat geschrieben:Besitzt Du da nähere Kenntnisse?


Nein. Ich habe bis jetzt etwa 50 Predigten von Meister Eckhart gelesen, dazu das Trostbuch, die Reden der Unterweisung. Dazu die eine oder andere Darstellungen von Kurt Flasch. Aber Kenntnisse? Nein, dazu ist das Denken einfach zu schwer. Sagen wir, ich lese mich demütig ein.

Vollbreit hat geschrieben:Ist Dein Gottesbegriff ein ähnlich negativer (im Sinne von sich entziehender)?


Negative Theologie gibt es schon seit Dionysos Areopagita. Sie wird fortgesetzt bei Anselm, Thomas von Aquin, Eckhart, Duns Scotus bis in unsere Zeit. Insofern würde ich es nicht als "mein" Gottesbegriff bezeichnen. Jedenfalls sympathisiere ich sehr mit dieser Vorstellung. Gott fällt unter keine Begriffe, das war und ist noch immer die zentrale Idee. Daher kann er natürlich auch nicht bewiesen werden. Wenn wir behaupten, wir könnten Gott positiv bestimmen (z.B. als Wirkursache), dann würden wir uns ja sozusagen über Gott stellen mit unserem Denken. Im AT gibt es ein schönes Bild dafür: da ist Moses auf dem Beg Sinai und verlangt, die Gott zu schauen. Und Gott sagt zu ihm:

Gott hat geschrieben:Du kannst mein Angesicht nicht sehen, denn ein Mensch kann mich nicht sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der HERR: Sieh, da ist ein Platz bei mir, stelle dich da auf den Felsen. Wenn nun meine Herrlichkeit vorüberzieht, will ich dich in den Felsspalt stellen und meine Hand über dich halten, solange ich vorüberziehe. Dann werde ich meine Hand wegziehen, und du wirst hinter mir her sehen. Mein Angesicht aber wird nicht zu sehen sein.
(Zürcher Bibel 2007: Exodus, 30, 20-23)

Erinnert mich ein wenig an die Platonsche Höhle. Und natürlich gibt es dazu auch eine Predigt von Meister Eckhart ;)

Vollbreit hat geschrieben:Die wesentliche Kritik ist im Grunde, dass man mit negativen, sich entziehenden Begriffen, nicht philosophieren kann.


nimm den Satz: "das ist mein Buch". "mein" bezieht das Buch auf mich. Wer bin ich?

Vollbreit hat geschrieben:Vielleicht kann er immer nur ein Hinweisschild ein „da lang“ sein?


Umgekehrt: "Non enim de Deo capere possumus quid est, sed quid non est, et qualiter alia se habeant ad ipsum, ut ex supra dictis patet." ("Wir können von Gott nicht wissen, was er ist, sondern nur, was er nicht ist und wie sich alle Dinge zu ihm verhalten"), Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, liber 1, cap 30.

Vollbreit hat geschrieben:Einerseits hat dieses Negativsein auch seinen Charme, weil dort eben Widersprüche zusammenfallen können.


ja, das Widerspruchsproblem taucht bei der Beschreibung wirklicher Weltlichkeit auf: z.B. bei Konzepten wie Veränderung (bin ich immer noch derselbe, der ich war bevor ich das hier schreibe? Ja und nein, nicht wahr? Ich bin nicht mehr derselbe, denn ich habe mich durch die Sätze verändert und trotzdem bin ich noch derselbe); oder bei Endlichkeit (etwas ist etwas aber zugleich ist es auch etwas nicht). In der christlichen Fundamentaltheologie geht es wesentlich um die Auflösung dieses Widerspruchsproblems.1 Darauf baut dann die eigentliche "Frohe Botschaft" auf.

Vollbreit hat geschrieben:„Hier probier mal, das ist Erleuchtung (oder Gott?)“ kann man nicht so einfach sagen, obwohl man es letztlich eben doch kann. Wenn die allergewöhnlichste Erfahrung nicht angenommen werden kann –was spirituelle Lehrer immer wieder bemerkt haben – geht man eben den umgekehrten Weg und beseitigt die Hindernisse im Ich, in der Welt eigener Projektionen und Vorstellungen, Schritt für Schritt.


Tja. Ich meine schon, daß man bis zu einem gewissen Grad so etwas lernen kann. Wozu dienen sonst all die Gebete und meditativen Übungen? Wozu gibt es sonst Liturgien? Unterweisungen? Eckhart z.B. schreibt genau über dieses Thema in den "Reden der Unterweisung": "ich möchte auch so eine Gottesnähe haben wie Ihr, Meister, wie mache ich das?" Das wichtigste ist Gelassenheit. Das ist ein zentraler Begriff bei Eckhart. Gelassenheit. Loslassen von der Welt und von sich selbst (wie in der Predigt 52). Es ist ja überhaupt immer ganz erstaunlich, daß man gestressten Menschen immer empfiehlt, sie sollten mehr an sich denken oder mehr für sich tun. Das tun sie doch ohnehin die ganze Zeit!

1 z.B. bei Albert Keller, 2010: Grundfragen des Glaubens. Herder oder bei Knauer, Peter, 1991. Der Glaube kommt vom Hören. vgl. auch Rahner, Karl, Grundkurs des Glaubens.
Zuletzt geändert von laie am Mi 11. Jul 2012, 12:08, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Vollbreit » Mi 11. Jul 2012, 12:04

@ laie:

Ich glaube, dass wir bei der negativen Begriffsbestimmung weitgehend einer Meinung sind, was Vor- und Nachteile angeht.

laie hat geschrieben:Tja. Ich meine schon, daß man bis zu einem gewissen Grad so etwas lernen kann. Wozu dienen sonst all die Gebete und meditativen Übungen? Wozu gibt es sonst Liturgien? Unterweisungen? Eckhart z.B. schreibt genau über dieses Thema in den "Reden der Unterweisung": "ich möchte auch so eine Gottesnähe haben wie Ihr, Meister, wie mache ich das?" Das wichtigste ist Gelassenheit. Das ist ein zentraler Begriff bei Eckhart. Gelassenheit. Loslassen von der Welt und von sich selbst (wie in der Predigt 52). Es ist ja überhaupt immer ganz erstaunlich, daß man gestressten Menschen immer empfiehlt, sie sollten mehr an sich denken oder mehr für sich tun. Das tun sie doch ohnehin die ganze Zeit!

Die Frage ist, was genau man damit einübt. Ich stimme Dir auch hier im Kern zu.
Über Erleuchtung sagt man gerne sie sei nicht zu erreichen, nichts Neues, was dazukommt.
Aber auch hier übt man ja. Und es ist wohl so, wie Du sagst, auch hier schmirgelt man allmählich das Ich weg, vielleicht besser die Egozentriertheit. Das Ich wird eigentlich nicht abgebaut, eher erweitert, vergößert, bis es luzide wird.
Das schafft einen Raum, dafür, dass allmählich etwas durchschimmert von jener anderen Seite, die auch immer erfahrbar ist und die sich manchmal eben auch dann zeigt, wenn die Durchbrüche nicht Früchte konsequenter Praxis sind. Immerhin eine Erklärung, wo Skeptikern oft nur die Möglichkeit der Pathologisierung bleibt.

Allerdings ist mancher Durchbruch auch ein Zusammenbruch. Hier „trösten“ Religionen immerhin damit, dass es einen Sinn haben könnte. Dieser Trost wiederum hat seinerseits eine positive Wirkung nur halte ich nicht so viel von einer Reduzierung von Spiritualität auf Psychologie.

Dennoch könnte man hiervon abgeleitet die Brights weiter fragen: Wenn’s denn hilft, wieso eigentlich nicht?
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon stine » Mi 11. Jul 2012, 14:32

laie hat geschrieben:Gott fällt unter keine Begriffe, das war und ist noch immer die zentrale Idee. Daher kann er natürlich auch nicht bewiesen werden. Wenn wir behaupten, wir könnten Gott positiv bestimmen (z.B. als Wirkursache), dann würden wir uns ja sozusagen über Gott stellen mit unserem Denken. Im AT gibt es ein schönes Bild dafür: da ist Moses auf dem Beg Sinai und verlangt, die Gott zu schauen. Und Gott sagt zu ihm:

Gott hat geschrieben:Du kannst mein Angesicht nicht sehen, denn ein Mensch kann mich nicht sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der HERR: Sieh, da ist ein Platz bei mir, stelle dich da auf den Felsen. Wenn nun meine Herrlichkeit vorüberzieht, will ich dich in den Felsspalt stellen und meine Hand über dich halten, solange ich vorüberziehe. Dann werde ich meine Hand wegziehen, und du wirst hinter mir her sehen. Mein Angesicht aber wird nicht zu sehen sein.
(Zürcher Bibel 2007: Exodus, 30, 20-23)

Interessant im AT, dass Gott nie zu sehen, aber immer zu sprechen ist.
Sollte uns das etwas sagen?

:kerze: stine
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon stine » Mi 11. Jul 2012, 15:00

Vollbreit hat geschrieben:Dennoch könnte man hiervon abgeleitet die Brights weiter fragen: Wenn’s denn hilft, wieso eigentlich nicht?
Dass Religionen einen Placebo Effekt hervorrufen können, das haben die Brights, soviel ich weiß, ja nie bestritten.
Und genau deswegen ist man ja gegen die Religionen: Die Brights sehen ihren Einfluss nicht immer zum Wohle der Menschen.
Wo jetzt aber genau das Wohl der Menschen beginnt, bleibt weiterhin fraglich.

Die Fortsetzung des "alten" Naturalismus, der lediglich alle übernatürlichen Geschehnisse und übernatürliche Wesen ablehnt, ist in meinen Augen kein Streitpunkt, die Fortführung aber, hin zur mechanischen Welt, kann durchaus schlimm enden.

Bei modernen naturalistischen Theorien seit Anfang des 20. Jahrhundert steht jedoch oft der Begriff der Naturwissenschaft und nicht der Begriff der Natur im Vordergrund. Dabei wird argumentiert, dass die Naturwissenschaften zu den grundlegenden Beschreibungen der Strukturen der Welt führen und in diesem Sinne philosophischen, geisteswissenschaftlichen und alltäglichen Methoden überlegen sind. Der Naturalist Wilfrid Sellars erklärt daher: „Wenn es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht, sind die Naturwissenschaften das Maß aller Dinge.“
Quelle: Wikipedia

LG stine
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon laie » Mi 11. Jul 2012, 15:24

Hallo Stine,

ich denke es geht bei den Religionen schon um mehr als nur um einen Placebo-Effekt. Aber da mag ich mich täuschen. Jedenfalls gibt es da eine Hypothese, man kann sie die "eigentliche Gotteshypothese" im Gegensatz zu Dawkins eigener "Gotteshypothese" nennen. Diese Hypothese besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß das Bezogensein der Welt (und also auch des Menschen) auf Gott/Sein zum einen keine zufällige Eigenschaft ist, die man wählen könnte oder die einem im Fieberwahn irgendwie befällt. Man kann sich wohl entscheiden, nicht in die Kirche zu gehen und ein Bright zu werden. Gegen Gott selbst kann man sich nicht entscheiden. Denn die Welt (und also auch der Mensch) sei gar nicht anders denkbar als "auf Gott/Sein bezogen" zu sein. Man könne gar nicht über die Welt sprechen, ohne sich in logische Widersprüche zu verwickeln, wenn man sie nicht als geschaffen und das heisst eben: auf Gott bezogen denken würde. Zum anderen soll jedes Seiende (Ding, Tier, Mensch, Pflanze, etc) erst durch sein Geschaffensein oder auch sein "Bezogensein auf Gott" überhaupt seine Eigenständigkeit erhalten. Dem Menschen kommt dabei die höchste Eigenständigkeit zu, das heißt, während viele Dinge anderen Dingen ausgesetzt sind, die auf sie einwirken (Akzidentien) und sie zu dem machen, was sie sind (Substanzen), kommt jedem Menschen so etwas wie eine "relative" Absolutheit zu. Deshalb fasst die Theologie den Personenbegriff auch in die Kurzformel: Selbstand in Relation.

Diese Gotteshypothese ist viel dramatischer als das, wogegen Dawkins kämpft, und weit mehr als ein blosser Placebo-Effekt.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Vollbreit » Mi 11. Jul 2012, 16:49

@ die Runde:

Der Placeboeffekt ist mit einem reinen Wohlfühleffekt m.E. unterbestimmt, weil er m.E. sehr viel existentiellere Dimensionen zu bieten hat. Unser Demokratsein ist durch diese Brille auch nur ein Placeboeffekt.

Nur ist es eben so, dass es ein Irrtum sein könnte und höchstwahrscheinlich auch ein Irrtum ist, wenn man eine wahre Welt hinter der „eingebildeten“ annimmt. Eine beobachterunabhängige Wahrheit, ja, wie soll die aussehen? Das wäre meine Frage an ujmp und auch an Lumen, wenn er zwischendurch mal wieder einen klaren Moment hat.

Sellars, den stine zitiert, weiß auch, dass die Sicht der Naturwissenschaften oft auf dem „Mythos des Gegebenen“ aufbaut, nur sieht er in dem Mythossein kein größeres Problem. Auch kennt er die Tücken des Empirismus, nämlich gerade nicht durch und an ihm in eine Theorie hineinzukommen, sehr genau. Mit Sellars ist kein billiger Empirismus zu haben, eigentlich überhaupt keiner.

Gegen einen anspruchsvolleren Empirismus, der experimentell verifiziert und falsifiziert, hat ja niemand etwas, nur weiß auch Sellars, dass die Hypothese, der rationale Akt primär ist.

Meine Frage an laie ist, ob Du nicht mit Deiner Skizzierung in einen gewissen Konflikt mit Eckharts Predigt 52 geräts, ich habe ihn dort so verstanden, dass ihm Gott als Schöpfer aller Kreaturen zu wenig ist. Möglicherweise habe ich aber auch das Konzept der notwendigen Bezogenheit auf Gott/Sein noch nicht richtig verstanden.
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Re: Wozu dient der Gottesbegriff?

Beitragvon Lumen » Mi 11. Jul 2012, 17:27

vollbreit hat geschrieben:Das schafft einen Raum, dafür, dass allmählich etwas durchschimmert von jener anderen Seite, die auch immer erfahrbar ist und die sich manchmal eben auch dann zeigt, wenn die Durchbrüche nicht Früchte konsequenter Praxis sind. Immerhin eine Erklärung, wo Skeptikern oft nur die Möglichkeit der Pathologisierung bleibt. Allerdings ist mancher Durchbruch auch ein Zusammenbruch. Hier „trösten“ Religionen immerhin damit, dass es einen Sinn haben könnte. Dieser Trost wiederum hat seinerseits eine positive Wirkung nur halte ich nicht so viel von einer Reduzierung von Spiritualität auf Psychologie. Dennoch könnte man hiervon abgeleitet die Brights weiter fragen: Wenn’s denn hilft, wieso eigentlich nicht?


Beim Überfliegen der verschiedenen Religionen fällt doch das gemeinsame Merkmal auf, dass sie immer einen nicht belegbaren Mangel behaupten, den die Religion selbstredend beheben kann. Mal seien Menschen von außerirdischen Parasiten befallen, dann hätten sie eine Art spirtuellen Geburtsfehler, eine Erbsünde oder ähnliches, der sich durch Hinwendung zur Religion heilen ließe. Da es einerseits keinerlei Belege für die Behauptungen gibt, andererseits die Informationskontrolle große Macht verspricht, neigen Religionen zu Sektiererei. Die Informationskontrolle rührt daher, dass immer nur ausgewählte Zugang zur "göttlichen" (oder im Falle von Scientology außerirdischen) Information haben wollen. Die Exklusivität wird mindestens an das gläubig-sein geknüpft und darüberhinaus auch an bestimmte "Fähigkeiten". Diese sind stets so beschaffen, dass nicht überprüft werden kann, ob der Betreffende die Fähigkeit wirklich erlangt hat. Gemeinhin wird dies Erleuchtung genannt und an wirre, semantisch oder auch syntaktisch unsinnige "Aussagen" geknüpft, die angeblich nur der Erleuchtete versteht. Da kommen dann z.B. Sachen ins Spiel, die Dennett Deepities nennt. In diesem Umfeld blühen Ideen wie die von der Trinität Gottes, mystische Lehren und auch Quacksalberei. Das Spiel besteht dann darin, sich selbst, oder wenigstens die anderen Jünger davon zu überzeugen, man habe die sagenhaften Fähigkeiten soweit erlangt, um sich als Stellvertreter der Gottheit ausrufen zu können. Bei Protestanten passiert das gradueller, in anderen Religionen in diskreteren Schritten.

Um die Sektiererei von innen einzudämmen, haben Religionen in ihren Lehren verschiedene Mechanismen entwickeln. Teufel, die den Jünger vom rechten Weg abringen wollen; Strafen, die den Jünger drohen, wenn er desertiert und Belohnung für loyale Gläubige. Da Menschen Verluste größer fürchten als dass sie Vorfreude auf Belohnungen verspüren, sind die Strafen in der Tendenz deutlicher und drastischer ausgeschmückt. Über gemeinsame Symbole und über das Herstellen einer gemeinsamen (fiktiven) Welt, werden die Jünger zu einer Art "Schicksalsgemeinschaft", die gemeinsam leidet und gemeinsam auf das Heil wartet. Von Außen wird Sektiererei über sozialen Druck, also z.b. Gruppenzwang, soziale Bindungen (über Feste und Hochzeiten) oder wie im Falle der katholischen Kirche auch über eine machtvolle Insititution verhindert (mit Dogmen als Gesetzen analog zur Judikative, die auch exekutive Gewalt ausübte). Über die fiktionale Herstellung einer Erblinie, wie es in Religionen ursprünglich explizit der Fall war (alle stammen von denselben mythischen Vorfahren ab), wird eine große Familie suggeriert. Das dient dazu, reziproken Altruismus auszunutzen, der sich zwischen Angehörigen einer Gruppe findet.

Die Gemeinsamkeiten der Glaubensgruppe werden durch Rituale im Alltag verankert und sind oft so beschaffen, dass sie vom Jünger ein "Opfer" abverlangen, zumindest was Zeit und Mühen angeht. Speisen müssen getrennt werden, Zeit für Gebete muss eingerichtet werden und oft müssen noch andere "nervige" Regeln eingehalten werden, die scheinbar sonst keinen Nutzen haben. Diese Dinge dienen als Erinnerung an die Religion und sorgen dafür, dass der Gläubige sich fortwährend, idealerweise mehrmals täglich, mit der religiösen Idee beschäftigt. Wir wissen, dass Menschen vermittels Mechanismen wie kognitiver Dissonanz ihren "Einsatz" gerechtfertig sehen wollen. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Religionen, die es schaffen relativ große "Opfer" von ihren Jüngern abzuverlangen, diese noch gläubiger macht. Eine muslimische Frau, die eine Burka trägt ist eventuell noch gläubiger als die Männer, denn es muss sich intern für sie irgendwo "rechnen".

Eine Religion wird außerdem versuchen, die Interpretation über ihre "Inhalte" zu behalten, wobei jeder Jünger im Prinzip zum Pressesprecher und Anwalt der Religion wird. Das "neutrale" wird bewusst aufgehoben, da jeder Jünger durch Einbindung konkret emotional investiert ist. Durch ausgepräftes In-Group-Out-Group Denken wird jeder Nicht-Jünger automatisch mindestens zu einem "noch nicht überzeugtem", jemand der ein zumeist schreckliches Schicksal erleben wird, weil er sich vor der Lehre verschließt. Moderne Theologen haben dies, um mit der Zeit zu gehen, umgedeutet und verknüpften trickreich die "Abkehr" von Gott per Definition mit dem schrecklichen Schicksal. Die Hölle ist da, wo Gott nicht ist. Das ist bequem, passt in die Zeit. Die "Abkehr" von Gott wird umgedeutet und zu einem Angebot gemacht, dem sich jemand gemeinerweise entzieht. Dies ist erkennbar eine Dynamik die auf sozialen Druck setzt: "Ach komm schon, hab dich nicht so! Alle wollen dich so toll singen hören" würde es auf einer Familienfeier heißen. Mit der Betonung auf Jesus' Leiden wird daraus auch ein Verrat gemacht: "Sieh, der hat sich für uns geopfert und dir ist das einfach egal! Er kann doch nicht umsonst gestorben sein!?". Das sind alles durchschaubare Methoden der emotionalen Beeinflussung.

Menschen werden fast universal im Kindesalter an die Religion herangeführt. Die interne Logik behauptet einfach Erziehungsregeln und andere Dinge, die angeblich durch die Religion entstanden sind, und am Ende von Gott diktiert wurden. Atheisten müssen wohl bei der Vorstellung lachen, wie Moses vom Berg herunterstieg und verkündete: Du sollst nicht töten! (beachte: Gesetze zum Erhalt der Religion werden vorher genannt und haben auch eine höhere, unanfechtbare Priorät im Christentum—wohingen ab und zu dann dochmal getötet und rumgehurt werden durfte). Die Zuhörer standen also da als Moses das sagte und dachten verwundert: "Wie, nicht töten? Oh echt? Achso, na dann.". Möchte man, wie es moderne Gläubige tun, die tatsächliche Beschreibung der religiösen Offenbarung in Zweifel ziehen, fragt sich der Atheist, wo denn das symbolische beginnt und wo das tatsächliche aufhört. Das ist erwiesenermaßen beliebig. Jesus gabs also wirklich, aber dematerialisiert als er in den "Himmel aufstieg" hat er sich wohl nicht. Die eine Wundertat ist symbolisch, die andere faktisch. Wenn es alles symbolisch ist, nach moderner Lesart, dann gab es also niemals einen Adam und keine Eva. Keinen Baum, und damit keine verbotene Frucht, keine Erbsünde und somit ist auch das Opfer eines Juden aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung hinfällig.

All diese Mechanismen sind allesamt recht gut verstanden und werden auch umfassend in anderen Bereichen, selten aber so gut orchestriert, eingesetzt. Die Werbung zum Beispiel "weckt" Bedürfnisse und bietet dann das Produkt an, um sie zu stillen. Werbung arbeitet auch fortwährend mit der Plazierung von Ideen im Alltag. Vereine bis Nationen nutzen Symbole um Gemeinsamkeiten zwischen Anhängern zu "stiften" usf.

Hartnäckig halten sich aber dennoch Vorstellungen an Gott. Sie stammen aus der Erziehung und aus dem Umfeld, also von anderen Menschen. Deshalb glaubte der Däne vor 1000 Jahren an andere Dinge als der heutige Italiener, der Japaner an andere Dinge als der Inder. Diese "Theorien" des Göttlichen gehen, um mal bei der Wissenschaftskritik zu bleiben in keiner Weise ineinander über. Sie haben Elemente, die teilweise durch eine gemeinsame Vergangenheit vergleichbar sind, aber doch profund unterschiedlich sind.

Für die Existenz eines Gottes, insbesondere für eine spezifische Sorte von Gott gibt es indes keinerlei Anhaltspunkte. Ein Mensch der sich Tatsächlich seiner Rationalität bedient, kann zu keinem anderen Schluss gelangen, dass Religionen durch ihr historisches Umfeld und ihre Mechanismen keinewegs "nicht von dieser Welt" stammen (d.h. offenbart wurden), sondern —im Gegenteil— sehr genau auf kognitive Beschaffenheit von Menschen abgestimmt sind. Wie kommts? Ein Theologe oder irgendjemand der sich ernsthaft und ehrlich mit dem Thema befasst, kann die überwältigenden Hinweise hierauf nicht unkommentiert belassen.

Darüberhinaus sind positive Effekte wie der Plazebo-Effekt nicht an Götter gebunden, sondern hat mit komplexen psychosomatischen Wechselwirkungen zu tun.

Eingedenkt dieser Tatsachen, kann eine Religion nicht als Trost-spendend gelten. Ohne den induzierten Mangel gibt es keine Notwendigkeit, diesen zu heilen. Religionen beheben nicht das Problem unserer Endlichkeit, denn jeder verhält sich so als sei eine Existenz wirklich irgendwann endet, einschließlich der Trauer die damit verbunden ist, wenn jemand anderes stirbt. Noch nie habe ich erlebt, wie jemand gejubelt hat, da der Geliebte sich nun am denkbar besten Ort befindet.

Zudem kann jede mögliche positive Idee über beliebige Kontexte hergestellt werden. Es gibt keine argumentative Verbindung zwischen dem positivem Nutzen z.B. einer Erlösungsfantasie zu einer bestimmten Religion. Wenn jemand die Vorstellung von einem Jenseits braucht, um mit der Trauer fertig zu werden, wird sich diese Vorstellung selbst entwickeln. Dafür braucht sich keine Religion im Vorfeld als Mittler implantieren.

Darüberhinaus gelten alle sprachlichen Probleme die oben diskutiert werden ebenso (eher stärker) noch im religiösen Umfeld. Man kann argumentieren, dass keine zwei Religionen sich gleichen, da jeder Gläubige seine Privatreligion mit Privatvorstellungen entwickelt, die nur oberflächlich über geteilte (aber ambivalente) Symbole scheinbar synchonisiert werden. Chomsky ging noch davon aus, dass sich der Sinn einer Aussage letztlich in der Tiefenstruktur befindet, wenn es mehrere gibt, ist die Bedeutung auch ambivalent. Später ging man auch hier von einem Kontinuum aus, dass sich zwischen der Tiefenstruktur und äußeren Faktoren aufspannt. Egal, wie man es dreht und wendet, Gläubige haben keine Möglichkeit zu wissen, ob sie dasselbe meinen. Und das ganz sicher auf eine andere Art mit viel größeren Unsicherheiten behaftet als das im Alltag mit "greifbaren" Dingen der Fall ist.

Das sich Religionen komplett auf einer "hohen" sozio-kulturellen Stufe abspielen, und nicht etwa wie die Physik auf einer "tiefen", sind alle mitgeschleiften "Ungenauigkeiten" die sich aus Emergenz ergeben, komplett in der Religion vorhanden. Wenn es keine Wirklichkeit gibt, dann hat Jesus und ein Buch mit Märchend drin noch viel weniger eine Chance als sonst. Am Ende läuft es auf den "Leap of Faith" hinaus, der Glauben von Unglauben unterscheidet. Das ist schlicht die Neigung einer Person, inwiefern sie den Mechanismen die ich oben ausgeführt habe, erlegen ist.
Zuletzt geändert von Lumen am Mi 11. Jul 2012, 17:36, insgesamt 2-mal geändert.
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