Die Konsenstheorie der Wahrheit

Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Mi 21. Nov 2012, 10:13

ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben: Ganz einfach weil Menschen eine bestimmte Entwicklungshöhe brauchen, damit Argumente bei ihnen eine Wirkung entfalten.

Das ist auch mein Problem mit damit. Und wenn ich mich selbst beobachte, bin ich über Jahrzehnte hinweg mal für solche und mal für solche Argumente zugänglich gewesen - ich würde da lieber von "Standpunkt" als von "Entwicklungshöhe" sprechen, wobei man auch zu Standpunkten zurückkehren kann.


Das sehe ich anders und zwar, weil es einen darstellbaren Zusammenhang zwischen Entwicklungshöhe und Einstellungen gibt. Dabei kommt es weniger auf die Einstellung selbst an, als viel mehr auf die Begründung derselben.
Das war das Werk des Moralpsychologen Kohlberg, der im Austausch mit Habermas stand.

Bei vielen Fragen ist es so, dass unterschiedliche moralische Entwicklungshöhen zu identischen Ergebnissen führen können. „Sind sie für oder gegen Abtreibung?“ Das ist nicht entscheidend, sondern die Begründung.

„Schwangerschaften sind lästig, wenn man’s wegmachen kann, warum nicht?“, könnte eine präkonventionelle Frau sagen.
„Auf gar keinen Fall darf man abtreiben. Kinder sind ein Geschenk, das kann man gar nicht genug würdigen“, könnte die Meinung einer konventionellen Frau sein.
„Das muss man von Fall zu Fall entscheiden, je nach der Lebenssituation, aber generell sollte es einer Frau erlaubt sein auch abzutreiben, schließlich wächst das Kind in ihrem Körper heran und wenn gravierende Gründe, die vor allem die Frau betreffen, dagegen sprechen, ist eine Abtreibung vertretbar“, könnte eine postkonventionelle Einstellung dazu sein.

Die prä- und postkonventionelle Position nun auf „soundsoviel Prozent der Frauen sind für Abtreibung“ zu verkürzen, ist so richtig wie falsch. Richtig, denn sie sind es (im Prinzip) ja, aber falsch, weil eben in meinen Augen nicht nur das Ergebnis zählt, sondern auch die Begründung, die Einstellung dahinter.

Alle die die sagen, das sei doch wurscht, wichtig sei allein, was am Ende rauskommt, sollten sich vor Augen halten, dass es einen Unterschied macht, ob z.B. ein konventioneller Mensch sich stromlinienförmig der herrschenden Mode anpasst und dann ein lieber Mitmensch ist, wenn es von ihm erwartet wird, aber eben zur Not auch jemanden steinigen würde, wenn der gesellschaftliche Wind sich dreht.

Da ist mir jemand, der seinen eigenen guten Gründen folgt (aber nicht seinem Egozentrismus!), bedeutend lieber, denn ist dieses Fundament einmal errichtet ist es nicht ohne weiteres zu zerstören.

ujmp hat geschrieben:Mein Hauptkritikpunkt an der Konsensus-Theorie ist außerdem, dass sie Wahrheit mit Meinung gleichsetzt.


Das stimmt nicht. Sie setzt Wahrheit allenfalls mit begründeter Meinung gleich und der Grund muss einer sein, der die andere Position auch aufnimmt und kritisch reflektiert und in die eigene Position integriert, was anspruchsvoll ist. Für Triaden, Parolen und Egozentrismus ist da kein Raum.
Viele verwechseln aber heute Argumente haben, mit einen link von Wikipedia als Beleg reinhauen oder das Zitat einer Autorität und damit ist die Diskussion dann zu Ende. Das kann allenfalls als Stütze eigener Argumente dienen, aber man sollte das nicht verwechseln.

Es wird immer so getan, als sei Konsens eine Abstimmung darüber, wie hoch der Mount Everest ist, wo doch auf der anderen Seite die klare Wahrheit der Messgeräte zu stehen scheint. Und wenn die meisten glauben der M.Everest sei 5000 Meter hoch, dann ist er eben nur 5000 Meter hoch und das ist dann Konsenstheorie. Alles Quatsch. Es geht um die begründeten Argumente der Experten des Themas.

Das eigentliche Problem ist, wer ist zum Experten qualifiziert und wer nicht und aus welchem Grund.
Ein Folgeproblem ist die Immunisierung gegen Kritik, wenn ein Kreis von Experten immer konservativer wird und sich gegen neue Ideen abschottet, weil neue Impulse als Spinnerei gar nicht erst gehört wird.

Insofern ist es gut auch Regulative zu haben, wie gut informierte Laien, Presse, Gutachter und dergleichen.

ujmp hat geschrieben:Die Nazi-Ideologie hat sich meiner Meinung nach nicht durchgesetzt, weil sie mit unlauteren Mitteln vorgetragen wurde, sondern weil sie den Menschen passend erschien, sie hat ihnen schlicht gefallen.


Ich glaube, das reduziert einen komplexen Sachverhalt viel zu sehr, das geht schon fast in Goldhagen Richtung. Der indische Anthropologe Arjun Appadurai, der vielleicht eine größere Distanz zum Thema hat, als unmittelbar Beteiligte und ihre Nachkommen schreibt dazu:
Arjun Appadurai hat geschrieben: „Selbst Daniel Goldhagen, der im übrigen eine erstaunlich rassistisch gefärbtes Bild der Identität „normaler Deutscher“ entwirft (1996), gibt zu....“
, dass es alles andere als leicht und selbstverständlich war, die Deutschen zu Antisemiten umzuprogrammieren. [i]„Vielmehr bedurfte es einer ungeheuren Kraftanstrengung, um aus den vielen deutschen Nationalisten Werkzeuge der „Endlösung“ zu machen.“
Mediales Dauerfeuer und [i „unermüdliche Zirkulation einer rassistischen Propaganda“ waren dazu nötig.
(vgl. Appadurai, Die Geographie des Zorns, Suhrkamp 2009, S.70f)[/quote]

ujmp hat geschrieben:So weit ich weiß, ist es kaum möglich, die Meinung der Menschen zu bestimmten Themen mit Argumenten zu verändern. In Wahlkämpfen wird das gar nicht erst versucht. Stattdessen versucht man lieber die Wählerentscheidung mit Themen ("Agenda-Setting") zu beeinflussen, bei denen man weiß, wie die Wähler ticken.


Es kommt eben auf verschiedene Faktoren an. Ganz sicher ist der Mensch kein Computer, der einfach nur Fakten verarbeitet, sondern Entscheidungsprozesse sind wesentlich auch emotionaler Natur.
Doch man kann der reinen Emotionalität schrittweise entwachsen, wenn man lernt, innerlich einen Schritt weit zurück zu gehen, Empathie mit den Argumenten des Gegenüber zu erlernen, eben das was einen Konsens ausmacht. Wer gleich zu Stacheln aufstellt, kommt in einen Diskurs erst gar nicht hinein. Da eine nicht geringe Anzahl an Mitdiskutanten auch hier im Forum meint – das im Bezug auf Bildung und Intelligenz statistisch vermutlich nicht unterm Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt – es sei auch gar nicht nötig, die Argumente des anderen mal für die Dauer des Diskurses zu seinen eigenen zu machen und versuchsweise zu schauen, wie so betrachtet die Welt aussieht, sondern eine Frontstellung von Beginn an, sei viel besser, darf man schließen, dass es gesamt gesehen, vermutlich nicht besser aussieht.

Als Faustformel kann in etwas gelten: Je größer der gefühlte und tatsächliche Druck, desto simpler, emotionaler, eindeutiger, schwarz/weiß-gefärbter, unbewusst aggressiver, fundamentalistischer und damit diskursferner werden die Antworten.

Wer innerlich unter Hochspannung steht, warum auch immer, hat keinen Raum für die Argumente anderer und da kann man dann sagen – wenn man diese Umstände aufarbeitet und berücksichtigt – dass moralisch undifferenzierte und aggressive Antworten, meistens mit einpoligen und eindeutigen Schuldzuweisungen besser gefallen.

Darum, weil die Zeiten eben härter werden, wie man sagen könnte und wie die meisten wohl prognostizieren, wird das Plateau, aus dem heraus immer mehr Mitglieder unserer Gesellschaft den Sprung auf die Konsensebene schaffen, immer schmaler.
Das ist eine Frage der Intelligenz (die sinkt), der wirtschaftlichen Lage (die wird für die Mehrheit kritischer), der Psychopathologie (nimmt zu) und der Werteorientierung (nimmt ab).

Was in die Lücke stößt, ist gut gemachte Propaganda, die emotionalisiert und das gesellschaftliche Gravitationszentrum entwicklungshierarchisch betrachtet immer mehr nach unter verlagert.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon stine » Mi 21. Nov 2012, 12:56

Ich kann deiner Ausführung in allen Punkten zustimmen.
Vollbreit hat geschrieben:Viele verwechseln aber heute Argumente haben, mit einen link von Wikipedia als Beleg reinhauen oder das Zitat einer Autorität und damit ist die Diskussion dann zu Ende. Das kann allenfalls als Stütze eigener Argumente dienen, aber man sollte das nicht verwechseln.
Das ist etwas, was ich auch immer wieder feststelle: Das Selberdenken scheint dann ausgeschaltet, wenn man Wissen angehäuft zu verarbeiten hat. Auf Nahrungsaufnahme bezogen heißt das: Alles in sich reinessen und unverdaut wieder von sich geben. Ich weiß gerade noch, was ich gegessen habe, aber nicht mehr, was es im Körper bewirken soll. Manches schmeckt und was nicht schmeckt, lass ich auf dem Teller liegen.

Das kann eine Folge der fehlerhaften Wissensvermittlung an unseren Schulen sein. Wer im Deutschunterricht schreiben muss, was der Lehrer lesen möchte, ist nicht gut belehrt und wer Wissen vorgekaut bekommt, braucht überhaupt nicht mehr selber zu denken.
Vollbreit hat geschrieben:Wer innerlich unter Hochspannung steht, warum auch immer, hat keinen Raum für die Argumente anderer und da kann man dann sagen – wenn man diese Umstände aufarbeitet und berücksichtigt – dass moralisch undifferenzierte und aggressive Antworten, meistens mit einpoligen und eindeutigen Schuldzuweisungen besser gefallen.
Das Niederknüppeln der Argumente des vermeintlichen Gegners, als Selbstschutz, die eigene Position anzweifeln zu müssen, findet sich überall wieder.

Ich persönlich denke ja sowieso, dass die Wahrheit, sofern es DIE EINE überhaupt gibt, immer irgendwo in der Mitte, also im Konsens, liegt.

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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Zappa » Mi 21. Nov 2012, 18:03

@Vollbreit: Auch ich stimme im Wesentlichen zu.

Zu einem Nebenaspekt:

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:So weit ich weiß, ist es kaum möglich, die Meinung der Menschen zu bestimmten Themen mit Argumenten zu verändern. In Wahlkämpfen wird das gar nicht erst versucht. Stattdessen versucht man lieber die Wählerentscheidung mit Themen ("Agenda-Setting") zu beeinflussen, bei denen man weiß, wie die Wähler ticken.

Es kommt eben auf verschiedene Faktoren an. Ganz sicher ist der Mensch kein Computer, der einfach nur Fakten verarbeitet, sondern Entscheidungsprozesse sind wesentlich auch emotionaler Natur.

Das ist sicher so und wird auch durch die moderne Neurobiologie belegt. Das mach auch Sinn: Wenn ich jemandem überhaupt nicht über den Weg traue, er einen verschlagenen odder verlogenen Eindruck macht oder ich sogar weiß, dass er ein Betrüger ist, werde ich ihm weniger glauben schenken als einer vertrauenswürdigen Person, die wortgleich argumentiert. Das hat nicht nur mit den ja bereits beschriebenen Entwicklungshöhen zu tun, wobei ich durchaus annehmen kann, dass ein moralisch integrer, ehrlicher Mensch, eine höherer Entwicklungshöhe hat, als ein egomanischer, verschlagener Egoist. Darüber hinaus bin ich auf solche emotionalen Signale angewiesen, weil jedes einzelne Thema und damit jedes eigene Argument außerhalb meines Expertenwissens erst einmal zu komplex ist um es auf Anhieb zu durchdringen. Insofern ist Vertrauen im Diskurs eine Grundvoraussetzung (ob und wie man es einfordern kann ist wieder ein anderes Thema).

Insofern denke ich schon, dass man durch Argumente überzeugen kann, man muss aber den Gegenüber zunächst einmal davon überzeugen, dass man es "gut" und "ehrlich" meint und da kann man natürlich versuchen mit Werbepsychologie zu tricksen.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Myron » Mi 21. Nov 2012, 21:55

Daraus, dass alle eine Aussage für wahr halten, folgt nicht, dass sie wahr ist. Denn alle können sich irren.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Mi 21. Nov 2012, 22:05

Und mit der Korrespondenztheorie kommst Du zur Aussage, dass die Wahrheit von "Schnee ist weiß, ist wahr" darin liegt, dass man die Farbe des Schnees eben "weiß" nennt.
Perfekt ist das alles nicht.

Man kann zwar sagen, dass bestimmten formalen Systemen mit endlichen Schlussregeln, es bestimmte Wahrheiten gibt, die sogar ewig genannt werden können, weil ihre Richtigkeit auch dann gegeben ist, wenn sie noch niemand gefunden hat und zwingend aus dem System folgt, aber bei dem Gewusel aus emprischen Verifikationsversuchen, logischen Schlüssen und so weiter, kommt man "der Wahrheit" nie so recht auf die Schliche. Was meinst Du?
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon ujmp » Mi 21. Nov 2012, 23:13

Vollbreit hat geschrieben:Und mit der Korrespondenztheorie kommst Du zur Aussage, dass die Wahrheit von "Schnee ist weiß, ist wahr" darin liegt, dass man die Farbe des Schnees eben "weiß" nennt.

Eine Behauptung kann wahr sein aber nicht eine Benennung. Man versteht das m.E. besser, wenn man sagt "Schnee ist rot". Diese Aussage korrespondiert nicht mit der Erfahrung und sie macht klar, welche Erwartung wir an eine solche Korrespondenz haben.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Mi 21. Nov 2012, 23:26

Es geht darum, was diesen Satz wahr macht. Nämlich, dass Schnee eben weiß ist. Und er ist weiß, weil von uns, Schnee, unbeschriebenes Papier und Schönwetterwolken weiß genannt werden. Und das ist einfach eine Bedeutungsverdoppelung.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Myron » Do 22. Nov 2012, 00:53

Vollbreit hat geschrieben:Und mit der Korrespondenztheorie kommst Du zur Aussage, dass die Wahrheit von "Schnee ist weiß, ist wahr" darin liegt, dass man die Farbe des Schnees eben "weiß" nennt.


Schnee ist nicht weiß, weil wir ihm das Farbprädikat "weiß" zusprechen, sondern weil er bestimmte physikalische Eigenschaften besitzt, die ihn im Zusammenwirken mit bestimmten Lichtverhältnissen sowie bestimmten nervlichen Eigenschaften des Betrachters weiß erscheinen lassen. Wir könnten Schnee das Farbprädikat "rot" zusprechen, ihn aber dadurch nicht rot erscheinen lassen. Rot-genannter Schnee sieht immer noch weiß aus.
(Man kann auch keine fünfbeinigen Pferde erschaffen, indem man ihre Schwänze als Beine bezeichnet.)
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Myron » Do 22. Nov 2012, 00:56

ujmp hat geschrieben:Eine Behauptung kann wahr sein aber nicht eine Benennung.


Eine Behauptung oder Glaubung ist wahr, wenn die behauptete oder geglaubte Aussage wahr ist.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon ujmp » Do 22. Nov 2012, 08:08

Vollbreit hat geschrieben:Es geht darum, was diesen Satz wahr macht. Nämlich, dass Schnee eben weiß ist. Und er ist weiß, weil von uns, Schnee, unbeschriebenes Papier und Schönwetterwolken weiß genannt werden. Und das ist einfach eine Bedeutungsverdoppelung.

hm... es geht doch eigentlich darum, was einen Satz falsch macht. Denn für Wahrheit würden wir uns doch nicht interessieren, wenn wir damit nicht irgendeine Differenzierung unserer Erfahrungswelt im Auge hätten. Wir stellen fest, dass Meinungen graduell unterschiedlich mit diesen Erfahrungen korrespondieren. Diese Unterschiedlichkeit nennnen wir z.B. wahr und falsch. Die Meinung "Schnee ist rot" ist deshalb falsch, weil Schnee dieselbe Farbe hat wie Schönwetterwolken und die eben nicht rot sind. Ich tippe, dass der Zweifel an den eigenen Meinungen, also die Vermutung, dass sie nicht stimmen, der eigentliche Kern des menschlichen Denkens ist. Eine Erkenntnis beinhaltet immer eine Differenzierung und damit eine Negation. Dass unsere Meinungen falsch sein können ist unserer große Chance, die man nach meinem Empfinden in einem Konsens-Diskurs verpielt.

Myron hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Eine Behauptung kann wahr sein aber nicht eine Benennung.


Eine Behauptung oder Glaubung ist wahr, wenn die behauptete oder geglaubte Aussage wahr ist.


Stimmt.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Do 22. Nov 2012, 15:52

Myron hat geschrieben:Schnee ist nicht weiß, weil wir ihm das Farbprädikat "weiß" zusprechen, sondern weil er bestimmte physikalische Eigenschaften besitzt, die ihn im Zusammenwirken mit bestimmten Lichtverhältnissen sowie bestimmten nervlichen Eigenschaften des Betrachters weiß erscheinen lassen.


Klar, weißes Licht löst einen bestimmten Sinneseindruck aus, von dem wir begründet annehmen dürfen, dass er bei den meisten Menschen ähnlich ist.
Diesen Sinneseindruck nennen wir „weiß“ und Du hast vollkommen recht, wir könnten ihn auch „rot“ nennen oder „prömm“. Wichtig ist, dass man sich wechselseitig versichern kann, dass man das, was man da sieht irgendwie bezeichnet.
An dieser Stelle wäre es noch nicht mal gesichert, dass alle etwas Ähnliches sehen, wenn sie von „weiß“ reden (aber ich glaube, dass es zwingend ist, das zu unterstellen, die Begründung schenke ich uns jetzt).

Die Sinneswahrnehmung ist ein wichtiges Kriterium, die sprachliche Einigung ist mindestens so wichtig, vermutlich noch wichtiger. (Denn in der Tat können sich farbenblinde Menschen Farben ableiten.)

Mit dem gleichen Begriff belegt, wird weiß aber weil die meisten eine sehr ähnliche Sinneswahrnehmung bezeugen können, damit ist das wieder ein sehr intersubjektives Spiel.


ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Es geht darum, was diesen Satz wahr macht. Nämlich, dass Schnee eben weiß ist. Und er ist weiß, weil von uns, Schnee, unbeschriebenes Papier und Schönwetterwolken weiß genannt werden. Und das ist einfach eine Bedeutungsverdoppelung.

hm... es geht doch eigentlich darum, was einen Satz falsch macht.


Nö, warum das denn?

ujmp hat geschrieben:Die Meinung "Schnee ist rot" ist deshalb falsch, weil Schnee dieselbe Farbe hat wie Schönwetterwolken und die eben nicht rot sind.


Ja, weil die meisten Menschen das so erleben. Würden wir die Unterschiede nicht wahrnehmen, gäbe es diese Sprachspiele nicht. Versuch mal Aussagen über Dein unterschiedliches Erleben von Ultraschall und Radiowellen zu machen.

ujmp hat geschrieben:Dass unsere Meinungen falsch sein können ist unserer große Chance, die man nach meinem Empfinden in einem Konsens-Diskurs verpielt.


Über was wird denn wohl ein Diskurs geführt, wenn nicht über unterschiedliche Ansichten?
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon stine » Do 22. Nov 2012, 17:53

Naja, es geht doch hier um die Konsenstheorie. Selbst wenn einige Menschen den Schnee als hellgrau einstufen und andere als glasklar oder als hellblau, so wäre der Konsens vielleicht ein beigliches, helles Glasblau und somit würde die Farbe des Schnees als Wahrheit in einen gemischten Weißton eingestuft.
Oder irre ich da?

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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Do 22. Nov 2012, 18:45

Ja, Du irrst, aber es ist schön, dass Du es ansprichst, weil mit Dir etliche andere ebenfalls irren.
Konsens ist kein Mittelwert, keine goldene Mitte, kein: „Naja, du hast ein bisschen Recht und ich auch und nun gehen wir friedlich unserer Wege.“ All das ist Konsens nicht.

Konsens ist auch nicht der Versuch, dass alle irgendwie ihr Gesicht wahren können.
Wenn ein Gespräch von 3 anerkannten Experten eines beliebigen Gebietes – in das man sich nicht mal eben so, durch zwei Wikiartikel einarbeiten kann – mit 3000 Zuschauern stattfindet, die der normalen Verteilung an Intelligenz und Wissen der Bevölkerung entsprechen, von denen aber keiner ein Experte dieses Fachgebietes ist, dann ist die Meinung der 3 (von denen angenommen wird, sie seien einer Meinung und anderer – völlig könträrer –, als die überragende Mehrheit der 3000) leitend – sofern sie nachvollziehbar begründet ist – und die der 3000 nichts wert (wenn sie, mangels Sachkenntnis, die Begründung nicht nachvollziehen können).

Daraus erwachsen aber eigene Probleme, von denen ich einige ansprach.
Die (mögliche) Selbstimmunisierung oder einfach gesagt (mögliche) Betriebsblindheit der Experten.
Hier helfen gut informierte Laien, Journalisten, bestimmte externe Kontrollgremien und Experten angrenzender Gebiete.

Es gibt aber noch ein Problem. Die Experten könnte Recht haben, aber wenn sie niemand mehr versteht, geht ihr Wissen flöten, selbst wenn es konserviert ist. Ähnlich wie ein Handwerk, das eben auch nicht so ohne weiteres wiederbelebt werden kann, wenn der letzte Fassbauer tot ist.
Es braucht also, im Falle des Wissens, Übersetzer, die die Erkenntnisse, wenn vielleicht auch verdünnt, unters Volk bringen.

Wichtig ist aber auch die Frage, wer denn nun eigentlich kompetenter Diskurspartner ist.
Dabei muss es nicht immer nur um Sachkunde gehen, sondern es können auch gesamtgesellschaftliche Interessen eine berechtigte Rolle spielen, wie z.B. bei Gen- und Nanotechniken, wenn abzusehen ist, dass nicht abzusehen ist, was bei einem GAU passiert.

Es kann sein, dass Menschen als Stellvertreter für andere fühlende Wesen einspringen, wenn es etwas um Massentierhaltung geht und die Kuh uns leider nicht erzählt, wie es ihr geht.

Kurz und gibt, nicht nur Sachkunde, sondern auch Betroffenheit legitimiert zur Teilnahme am Diskurs.

Ein weiteres Problem ist die Frage, wer denn als Experte gelten sollte. Das ist ein echtes Minenfeld.

Ein Diskurs muss geführt werden, wenn viele Interessen im Spiel sind. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, der normale Bürger, Betroffene. Hier geht der Konsens manchmal in die Richtung jeder ein bisschen. Aber auch hier zählen Argumente und sie müssen hierarchisiert werden und dafür gibt es keine festen Kriterien – überlicherweise sind die Argumente nämlich alle nachvollziehbar –, sondern es entscheidet, die aktuelle Stimmung und derzeit leider zu oft der Lobbyismus.
Symptom einer Gesellschaft die übergeordnete Werte für verzichtbar hält und Leuten mit Visionen rät, zum Arzt zu gehen. Der letzte Punkt ist allerdings nur mein privates Vorurteil.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon ujmp » Fr 23. Nov 2012, 07:53

Vollbreit hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Es geht darum, was diesen Satz wahr macht. Nämlich, dass Schnee eben weiß ist. Und er ist weiß, weil von uns, Schnee, unbeschriebenes Papier und Schönwetterwolken weiß genannt werden. Und das ist einfach eine Bedeutungsverdoppelung.

hm... es geht doch eigentlich darum, was einen Satz falsch macht.


Nö, warum das denn?


Wegen...

Myron hat geschrieben:...(Man kann auch keine fünfbeinigen Pferde erschaffen, indem man ihre Schwänze als Beine bezeichnet.)


..."Wahr" oder "Falsch" ist die Antwort auf die Frage ob Schnee rot ist. Einen Konsens gibt es darüber, welchen Farbeindruck man mit "Rot" benennt. Diese Frage lautet daher, ob der Farbeindruck, den Schnee vermittelt, mit diesem Konsens korrespondiert. Das Kriterium, welches diese Aussage falsch macht, ist also die Wahrnehmung.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon stine » Fr 23. Nov 2012, 08:04

Vollbreit hat geschrieben:Kurz und gibt, nicht nur Sachkunde, sondern auch Betroffenheit legitimiert zur Teilnahme am Diskurs.


Ich war mal in den Bayerischen Landtag eingeladen, zu einem Vortrag eines hiesigen Ministers. Beim "Haben-Sie-dazu-noch-eine-Frage"-Abschluss wollte ich von ihm wissen, wie es denn möglich wäre, dass ein Minister aus dem Gesundheitswesen plötzlich in die Finanzen wechseln könne, um anschließend wieder ein Fachmann für Gesundheit oder Kultus zu sein?
Seine Antwort war so einfach wie genial: Es ist gar nicht erwünscht, einseitiges Fachwissen in die Schale zu werfen. Politiker sind nur die Volksvertreter. Sie müssen sich, genau wie Otto-Normalverbraucher auch, von vielen Experten beraten lassen, um sich dann mit gesundem Menschenverstand ein eigenes Bild von der Sachlage machen zu können. Nur so können sie auch Entscheidungen treffen, wie sie auch vom Wähler getroffen werden würden.

Konsensentscheidung ist also die Wahrheit, die nach dem Heranziehen aller notwendiger, oder besser gesagt möglicher, Parameter entsteht. Ist das jetzt richtig?

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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon ujmp » Fr 23. Nov 2012, 08:51

stine hat geschrieben:Konsensentscheidung ist also die Wahrheit, die nach dem Heranziehen aller notwendiger, oder besser gesagt möglicher, Parameter entsteht. Ist das jetzt richtig?


Kann man so sehen, sollte man aber nicht, wenn man einen klaren Kopf behalten möchte. Das Attribut wahr passt nicht zu Entscheidung, genau so wenig wie die Attribute silbern oder zwanzig.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Fr 23. Nov 2012, 10:26

ujmp hat geschrieben:..."Wahr" oder "Falsch" ist die Antwort auf die Frage ob Schnee rot ist.


Dazu würde man ganz einfach „Ja“ oder „Nein“ sagen.
Unsere Frage war, was die Aussage, „Schnee ist weiß, ist wahr“ zu einer eben solchen, wahren Aussage, macht.

Myron habe ich dabei so verstanden, dass er sagen möchte:
Nicht weil wir Schnee „weiß“ nennen, ist er auch weiß, sondern wir nennen etwas „weiß“, wenn es tatsächlich weiß ist. Und mit dem tatsächlich weiß sein will er sagen, dass ein Gegenstand uns weiß erscheint, wenn er alle Wellenlängen des sichtbaren Teils des elektromagnetischen Spektrum gleichermaßen reflektiert (oder eine Lichtquelle dieses Spektrum zu gleichen Teil enthält) und das muss er (sie) dann auch tatsächlich tun.

Und dem stimme ich zu.

Was ich nun nicht behaupte, ist folgendes:
Dass es ja nur ein Zufall sei, dass wir bestimmte Farbzuschreibungen „weiß“ nennen, da wir sie auch anders, „rot“ oder „brömm“ oder sonstwie hätten nennen können.

Ich behaupte es nicht deshalb nicht, weil ich es für falsch hielte, sondern weil das unmittelbar einsichtig ist. Du schreibst ja sehr richtig:

ujmp hat geschrieben:Einen Konsens gibt es darüber, welchen Farbeindruck man mit "Rot" benennt. Diese Frage lautet daher, ob der Farbeindruck, den Schnee vermittelt, mit diesem Konsens korrespondiert.


Völlig korrekt.

ujmp hat geschrieben:Das Kriterium, welches diese Aussage falsch macht, ist also die Wahrnehmung.


Warum halbierst Du denn nun wieder das, was Du eben richtig dargestellt hast?
Die eine Hälfte ist die sinnesphysiologische, doch es geht selbstverständlich auch darum, die Eindrücke mit den bei uns herrschenden Sprachspielen in Deckung zu bringen.

Wir müssen lernen (das ist uns weder gott- noch naturgegeben) dass, immer dann, wenn ein Gegenstand alle Wellenlängen des sichtbaren Teils des elektromagnetischen Spektrums gleichermaßen reflektiert (oder eine Lichtquelle dieses Spektrum zu gleichen Teil enthält), er mit dem Begriff „weiß“ oder „ist weiß“ belegt wird.

Wenn wir zu beidem in der Lage sind (was normalerweise so selbstverständlich ist, dass wir es voraussetzen und uns es erst auffällt, wenn es jemand nicht kann), können wir das Sprachspiel „Farben kennen“ korrekt spielen und nennen die Farbe des Schnees richtigerweise „weiß“. Wir würden sagen: „Schnee ist weiß.“
So weit, so gut.


Nun geht es aber um etwas anderes: Die Konsenstheorie der Wahrheit ist, wie der Name schon sagt, eine Wahrheitstheorie. Wahrheitstheorien haben den Anspruch theoretisch zu klären, was Wahrheit ist, wie man erklären kann oder was gegeben sein muss, um berechtigterweise von Wahrheit zu reden.
Die Konsenstheorie der Wahrheit hat ihre Tücken, einige versuchte ich bereits darzustellen.
Die andere große Wahrheitstheorie ist die Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das ist die, die Myron dargestellt hat und der auch Du anhängst (wenn ich euch beide richtig verstanden habe).
Gemäß der Korrespondenztheorie der Wahrheit, ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie mit den Fakten übereinstimmt. „Frau Merkel ist 2012 Bundeskanzlerin.“ „Bäume sind aus Holz.“ „Schnee ist weiß.“
Der Satz „Schnee ist weiß“ ist gemäß der Korrespondenztheorie genau deshalb wahr, weil er den Fakten entspricht. Schnee ist tatsächlich weiß. Er reflektiert alle Wellenlängen des sichtbaren Teils des elektromagnetischen Spektrums gleichermaßen.
Darum kann man sagen, die Aussage: „Schnee ist weiß“, sei eine wahre Aussage oder eben: „Schnee ist weiß, ist wahr.“

Nun geht es aber nicht um Sinnesphysiologie, sondern um die Frage, ob wir damit der Wahrheit auf die Spur kommen, ob diese Korrespondenztheorie uns wirklich erklären kann, was Wahrheit ist.
Und hier fällt eines auf. Wie sagen aus bestimmten sprachlichen Konventionen heraus, die auch anders hätten sein könnten (aber nun mal eben so sind, wie sie sind), dass Schnee „weiß“ ist. Begründen tun wir das damit, dass auch bestimmte andere Dinge von uns „weiß“ genannt werden, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, Kuhmilch oder Schönwetterwolken. Gemeinsam haben diese Dinge alle, dass sie alle Wellenlängen des sichtbaren Teils des elektromagnetischen Spektrums gleichermaßen reflektieren.

Wenn wir nun sagen „Schnee ist weiß“, ist damit bereits alles gesagt. Wir haben damit die Kompetenz bewiesen (wenn wir verstehen, was wir sagen und das heißt: theoretisch begründen könnten, warum wir es sagen), über ein Sehsystem zu verfügen, das dem der meisten anderen Menschen entspricht und die Sinneseindrücke sprachlich richtig (gemäß dem aktuellen Gebrauch der Sprachgemeinschaft in der ich lebe) zuzuordnen und ausdrücken zu können.

Der Satz „Schnee ist weiß, ist wahr“ ist deshalb lediglich eine Verdoppelung der Bedeutung des Satzes „Schnee ist weiß“. Seine Wahrheit bezieht er daraus, dass wir zu bestimmten Dingen eben „weiß“ oder „ist weiß“ sagen und gefragt warum wir das tun, könnten wir nur antworten, dass es eben so ist und uns auf andere Beispiele, die uns farblich gleich erscheinen, Kuhmilch, Schönwetterwolken, unbeschriebenes Papier, verweisen, die wir eben auch „weiß“ nennen.
Und das überzeugend klingende „Sie sind aber auch weiß“ bedeutet einfach, dass wir zu bestimmten Dingen, die alle Wellenlängen des sichtbaren Teils des elektromagnetischen Spektrum gleichermaßen reflektieren, eben sagen, sie seien weiß.

So werden aus beobachterunabhängigen Fakten, das, was sie in Wirklichkeit sind, Konventionen.
Mit anderen Worten, etwas ist so, weil wir es so nennen. Das ist natürlich nicht verborgen geblieben:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheitst ... enztheorie
Doch genau das gibt die Konsenstheorie auch her.

Sie sagt, es gäbe eine sprachliche Einigung darüber, wie wir (im Konsens) bestimmte Dinge bezeichnen. Schnee nennen wir „weiß“. Das scheinbare Faktum, dass Schnee tatsächlich weiß ist, hat sich als definitorischer Zirkel erwiesen, es ist genausogut eine Konvention oder ein Konsens Dinge, die alle Wellenlängen des sichtbaren Teils des elektromagnetischen Spektrums gleichermaßen reflektieren, „weiß“ zu nennen.

Beide Theorien der Wahrheit (und alle bekannten weiteren) sind gleichermaßen brauchbar und unvollkommen. Konsens bedeutet ja nicht nur Dinge zu benennen, das wären auch eher Konventionen, sondern Schlussfolgerungen aus Aussagen zueinander in Relation zu setzen.
Erst auf dieser Ebene wird Geschichte mit der Wahrheit interessant und relevant. Die vermeintlichen kleinsten Bausteine auf die verwiesen wird, sind bereits Züge in einem Sprachspiel und nicht einfach externe Fakten. Das bedeutet, dass in diesem Sinne verstanden, die empirische Welt in Sprach(spiel)e eingebettet erscheint (und uns auch immer nur so erscheinen kann).
Wahrheit ist ein Kriterium, was sich allein auf Aussagen bezieht. Auch – und vermutlich ganz fundamental – auf Aussagen über die empirische Welt (weil die sinnesphysiologischen Gemeinsamkeiten, eine grundlegende Einigung auf Begriff und vor allem Aussagesätze ermöglichen, die zwingend notwendig sind um sprechen zu können), aber eine sprachunabhängige reale Welt ist für uns kaum bis gar nicht vorstellbar, weil wir unsere, sprachliche, nicht verlassen können).
Ein Baum ist nicht wahr. Ich wüsste zumindest nicht, wie man das von ihm behaupten könnte.
Eine Aussage über einen Baum kann wahr oder falsch sein.

Zusatz: Die Tendenz, alles was existiert als wahr zu bezeichnen, mündet m.E. in einen Selbstwiderspruch, da auch Lügen unbestrittenerweise existieren und wenn alles, was existiert wahr ist, müsste demnach auch eine Lüge wahr sein.

Viele Worte, ich weiß, vielleicht zu viele und man könnte es auf den Satz reduzieren, dass man mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit eben in einen definitorischen Zirkel gerät, aber wenn man nicht täglich mit diesen Begriffen zu tun hat und sie einem so geläufig sind, wie „die nächste links und dann an der dritten Ampel rechts“, bringen diese Ausdrücken eben auch nicht, zwingend mehr Klarheit und ich habe mich zumindest bemüht diese herzustellen. Ob es gelungen ist, werden die Antworten zeigen.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Fr 23. Nov 2012, 10:41

stine hat geschrieben:Konsensentscheidung ist also die Wahrheit, die nach dem Heranziehen aller notwendiger, oder besser gesagt möglicher, Parameter entsteht. Ist das jetzt richtig?


Ich glaube ja, wobei die Gewichtung, welche Paramater notwendig sind und wie sie gewichtet werden – wie ist es zu bewerten, wenn ein geplantes Autobahnteilstück durch ein Gebiet führen soll, in dem eine bedrohte Vogelart nistet – eine jeweils aktuelle Frage der Sprachgemeinschaft ist, die alle paar Jahre anders ausfallen kann.

Es kann, Stichwort Männerbild, daher z.B. völlig legitim sein, einseitige Ungerechtigkeiten der Vergangenheit, Unterdrückungen der Frauen, als solche zu bezeichnen und die Kritik daran zu würdigen und einige Jahre später zu konstatieren, dass sich der Wind inzwischen gedreht hat und wir nun genau hinschauen müssen, ob die empfundenen Ungerechtigtkeiten nun nicht inzwischen auf der andere Seite zu finden sind. Oder, wie ich finde, dass es der Wahrheit am nächsten kommt, es immer noch Ungerechtigkeiten zu Ungunsten der Frauen in einigen Bereichen gibt, eine erfreulich breite Basis an einem konstruktiven Miteinander, um das auch mal zu erwähnen und Bereiche in denen inzwischen Jungen/Männer benachteiligt werden.

Mit anderen Worten, ein dynamischer Prozess. Und da er dynamisch ist, gibt es möglicherweise auch keine ewigen Wahrheiten zu dem Thema, die unter allen Umständen beibehalten werden müssen, sondern es gilt zu prüfen, in welchem Maße die guten alten Werte und die neuen Sitten austariert werden können und müssen. Dass da Argumente nicht immer eine Rolle spielen, sondern wir Menschen da erst mal zu Schnellschüssen neigen, ist wohl ganz einfach so und lässt sind, m.E. auch nicht ändern.

Die Stunde der Reflexion schlägt dann später und muss immer hoffen, dass es nicht zu spät ist. Allerdings hat sich der Mensch bisher als zähes Biest erwiesen.
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Lumen » Fr 23. Nov 2012, 11:52

Ich habe erneut das Gefühl, dass der Sachverhalt eher verklärt als beleuchtet wird. Sprache und Begriffe haben ihre Tücken auf mehren Ebenen (mehrfache Bedeutungen, verschobene Konnotationen und so weiter). Naturwissenschaftler werden mit Sicherheit genau wissen, was sie meinen, wenn sie "Weiß" irgendwo reinschreiben und das wird auch nochmal bei Physikern anders sein, als bei Zoologen. Letzterem reicht wahrscheinlich die alltagstaugliche Begrifflichkeit aus, um die Fellfarbe eines Hasen zu beschreiben. Ein Glaziologe hat bestimmt auch genauere Vorstellungen von "Schnee". Letztlich lassen sich Unklarheiten durch weitere Definitionen, wie die von Myron, auflösen. Es soll jetzt nicht daran scheitern, dass jemand die vorgestellte Definition von "Weiß" hier für nicht ausreichend empfindet. Das ist doch nur wieder der Versuch Qualia-Suppe reinzukippen. Die These...

Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube ja, wobei die Gewichtung, welche Paramater notwendig sind und wie sie gewichtet werden – wie ist es zu bewerten, wenn ein geplantes Autobahnteilstück durch ein Gebiet führen soll, in dem eine bedrohte Vogelart nistet – eine jeweils aktuelle Frage der Sprachgemeinschaft ist, die alle paar Jahre anders ausfallen kann.


...halte ich für hochgradig obskurant. Die "Sprachgemeinschaft" weiß zu jeder Zeit, was ein Autobahnteilstück und welche Vogelart bedroht ist. Es ist keine Frage von Quantenmechanik (Überspitzung), ob eine Autobahn eine Vogelart verdrängen soll. Sorry. Das ist auch keine Frage von "Wahrheit".
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Re: Die Konsenstheorie der Wahrheit

Beitragvon Vollbreit » Fr 23. Nov 2012, 12:10

Lumen hat geschrieben:Naturwissenschaftler werden mit Sicherheit genau wissen, was sie meinen, wenn sie "Weiß" irgendwo reinschreiben und das wird auch nochmal bei Physikern anders sein, als bei Zoologen.


Jeder der „weiß“ sagt, wird (wenn er versteht, was er sagt), genau wissen, was er meint, sonst würde er es ja nicht sagen.

Lumen hat geschrieben:Letzterem reicht wahrscheinlich die alltagstaugliche Begrifflichkeit aus, um die Fellfarbe eines Hasen zu beschreiben.


Ja, nur geht es darum gerade nicht.

Lumen hat geschrieben:Ein Glaziologe hat bestimmt auch genauere Vorstellungen von "Schnee".


Auch nicht um Schnee, sondern der Klärung der Frage, was Wahrheit ist.

Lumen hat geschrieben:Letztlich lassen sich Unklarheiten durch weitere Definitionen, wie die von Myron, auflösen.


Welche waren das noch mal?

Lumen hat geschrieben:Es soll jetzt nicht daran scheitern, dass jemand die vorgestellte Definition von "Weiß" hier für nicht ausreichend empfindet. Das ist doch nur wieder der Versuch Qualia-Suppe reinzukippen.


Aha.
Hast Du überhaupt verstanden, was an der Korrepondeztheorie unzureichend sein könnte?
Beschreib genau das doch mal, damit ich sehen kann, ob das angekommen ist.
Danach bin ich Gegenargumenten, die Du zugunsten von Mutmaßungen wohl vergessen hast, gegenüber sehr aufgeschlossen.

Eine weitere Erforschung meiner Motivationslage durch Dich interessiert mich hingegen nicht, auch wenn Du die auch beim nächsten Mal nicht unterdrücken können wirst.

Lumen hat geschrieben: Die These...

Vollbreit hat geschrieben:Ich glaube ja, wobei die Gewichtung, welche Paramater notwendig sind und wie sie gewichtet werden – wie ist es zu bewerten, wenn ein geplantes Autobahnteilstück durch ein Gebiet führen soll, in dem eine bedrohte Vogelart nistet – eine jeweils aktuelle Frage der Sprachgemeinschaft ist, die alle paar Jahre anders ausfallen kann.


...halte ich für hochgradig obskurant. Die "Sprachgemeinschaft" weiß zu jeder Zeit, was ein Autobahnteilstück und welche Vogelart bedroht ist. Es ist keine Frage von Quantenmechanik, ob eine Autobahn eine Vogelart verdrängen soll. Sorry.


Keine Ahnung in welchem Film Du da schon wieder bist, aber von Quantenmechanik habe ich nun wirklich nichts geschrieben und hatte sie beim Schreiben auch zu keiner Sekunde im Sinn.
Ich wollte darauf hinweisen – und so missverständlich fand ich das eigentlich gar nicht – dass es eben eine Entscheidung der Sprachgemeinschaft und des durch sie wehenden Zeitgeistes ist, ob man nun, in diesem Fall dem Artenschutz den Vorrang gibt (auch wenn dabei wirtschaftliche Defizite zu erwarten sind) oder ob man der besseren Verbindung den Vorrang gibt (auch wenn dadurch Defizite bei Natur- und Umweltschutz zu erwarten sind).
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