von Max » Mi 4. Okt 2006, 20:22
aus der NZZ:
Eine Erörterung der Frage: Was ist eine gute Religion?
Von Arno Gruen
Wird der Mensch sich seines Seins bewusst, sucht er nach einem Sinn, einer Bedeutung für seine Existenz. Er sucht Geborgenheit und zugleich die Relevanz seines Daseins in der Welt. Religion kann Menschen eine Bedeutung und einen Sinn für Leben und Tod sowie das tiefe Erleben der Transzendenz des Seins geben, ein Sich-Erheben über die eigene Begrenztheit. Ein Glaube an höhere Mächte kompensiert zum Teil die Ängste des Menschen und seine Unsicherheiten, die von einer unsicheren Welt und von unbeherrschbaren Naturgewalten ausgehen. Diese Unsicherheit ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Gefühl von Schwäche, das ein Mensch über sich empfinden kann.
Verletzlichkeit, Stärke und Vertrauen
Zur Illustration sei John Collier zitiert, der ab 1933 Indianer-Beauftragter unter Präsident F. D. Roosevelt war: «Der Indianer hatte das Ziel, ein volles Leben trotz materieller Not zu führen, und dies aus einer tiefen Unsicherheit heraus, die er in seiner Weisheit gar nicht aufheben wollte. Diese Unsicherheit entstand durch Kriege, Stürme, Krankheiten. Der kreative Umgang damit und seine Bräuche halfen ihm, äussere Unsicherheit in eine innere Sicherheit zu verwandeln. Die weissen Invasoren kamen. Es gab Kriege, und die Unsicherheit der Indianer wuchs, aber ihr Gleichmut brach nie zusammen.» Sie besassen Gleichmut trotz Unsicherheit und Sicherheit trotz Hilflosigkeit, weil Stärke nicht aus Unverletzlichkeit, sondern aus Leid und Schmerz erwächst. Ein solcher Selbstwert, der aus dem Umgang mit Leid und Schmerz erwächst, wirkt sich entscheidend auf die Entwicklung religiöser Anschauungen aus.
Ob ein Mensch aus der Erfahrung von Leid und Schmerz Kraft gewinnen kann, hängt von dem Vertrauen und der Geborgenheit ab, die er als Kind in seiner frühen Entwicklung erlebt hat. Bei anderen Kulturen und unseren Ahnen war das mehr der Fall als bei uns Heutigen. In unserer Gesellschaft gilt ein Mensch, der unsicher ist und Angst hat, als schwach. Nur Menschen, die aufgrund früher Geborgenheitserfahrungen ein Urvertrauen ausbilden konnten, sind in der Lage, trotz Ängsten und Unsicherheiten eine innere Stärke zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Diese Menschen brauchen keine übermächtig starken Götter. Sie suchen keinen Gott, der sie straft oder belohnt.
Der Religionsforscher Harald Strohm ist der Auffassung, dass die frühen Religionen sich um gütige, positive Götter bildeten und nicht um bestrafende. Erst mit den Anfängen der sogenannten «grossen Zivilisationen», die den Gehorsam zur Sicherung von Herrschaft benötigten, entstand ein Götterbild, das mit Angst, Verdammung und Rache in Verbindung steht. Erst Angst und Bestrafung erzwingen Gehorsam. Der Psychologe Julian Jaynes zeigte in seinem vor dreissig Jahren erstmals erschienenen Buch «Der Ursprung des Bewusstseins» am Beispiel von Homers «Ilias», wie sich die Götter in den Menschen als Agens, als treibende Kraft des menschlichen Verhaltens, festsetzten. Handlungen wurden nicht in Eigenverantwortung, sondern als Akt des Gehorsams gegenüber autoritären Göttern vollzogen. Das prägt manche Religion.
Ein anderes Gottesbild entsteht, wo Menschen nicht durch ihre früheste Entwicklung auf Gehorsam geprägt werden. Carl Gustav Jung zitiert Ochwiay Biano, einen Häuptling des Taos- Pueblos-Stammes in New Mexico: «Wir leben auf dem Dach der Welt; wir sind die Söhne von Vater Sonne, und mit unserer Religion helfen wir ihm täglich, den Himmel zu überqueren. Hörten wir auf, unsere Religion auszuüben, würde in zehn Jahren die Sonne nicht mehr aufsteigen. Dann würde für immer Nacht sein.» Jung schrieb dazu: «. . . dass der Mensch Gott etwas im Austausch geben kann, bewirkt Stolz, denn es hebt das menschliche Individuum zur Würde eines metaphysischen Faktors empor (. . .) Solch ein Mann hat im vollsten Sinne des Wortes seinen angemessenen Platz.»
Selbstlos, autoritätshörig
Ein Mensch jedoch, dessen Selbst durch Gehorsam gegenüber einer Autorität, die ihm sein Eigenes verboten hat, abhanden kommt, wird sich immer nach einer äusseren Autorität, einer Religion und einem Erlöser sehnen, der ihn von der Verantwortung für sich befreit. Die Frage nach einer guten oder schlechten Religion ist deshalb etwas irreführend. Religion und Gottesbild werden dadurch bestimmt, ob Menschen aufgrund ihrer Bedürfnisse eher zu einer autoritären Anschauung tendieren oder zu einer Vorstellung, die ihre Ebenbürtigkeit bejaht.
In dem Klassiker «Das Ringen um das Tausendjährige Reich» beschreibt Norman Cohn den revolutionären Messianismus des Mittelalters angesichts einer Erwartung der Endzeit. Seine brillante Analyse zeigt auch, dass der heutige Terrorismus nichts Neues ist. Cohn zeichnet nach, wie Menschen in Erwartung des Tausendjährigen Reiches Christi einen erbitterten Kampf um ein zukünftiges himmlisches Leben führten. Ihr Verlangen nach Erlösung verwandelte sich in fanatische Wut und Rachsucht - in die Sucht nach Rache an einem abstrakten Feind, dem alle menschlichen Attribute abgesprochen wurden. Dieser Verbindung von Endzeiterwartung und Hoffnung auf das Kommen eines starken kriegerischen Messias, der die Getretenen von ihrem unerträglichen Joch befreit, begegnen wir auch bei heutigen Fundamentalisten gleich welcher religiösen Couleur.
Selbstverantwortung
Ein sozialer und ökonomischer Zusammenbruch führte damals und führt heute zur Bedeutungslosigkeit des Einzelnen. Wenn die soziale Struktur sich auflöst, weil der Gehorsam nie ein eigenes Selbst oder ein Selbstwertgefühl zuliess, dann bricht die ganze unterdrückte Wut hervor, die dieser Gehorsam selbst erzeugt hat. Eine Religion wandelt sich vom Guten zum Schlechten, wenn sie von Führern interpretiert wird, die sich und alle, die ihnen folgen, als heilig ansehen und eine vorbehaltlose Unterwerfung fordern. Diese macht es den Anhängern unmöglich, die vom Führer gewiesene Mission zur Aufopferung zu hinterfragen.
Ob eine Religion gut oder schlecht ist, hängt also von der Entwicklungsgeschichte des Einzelnen ab. Ist diese von Gehorsam geprägt, wird der Mensch einen autoritären, strafenden Gott suchen. Menschen jedoch wie die Pueblo-Indianer, deren Entwicklung auf Vertrauen und Geborgenheit beruht, werden eine Religion ausbilden, die auf Vertrauen, Ebenbürtigkeit und gegenseitigem Respekt basiert. Jesu Leben beruhte auf Liebe und Barmherzigkeit. Einige seiner Anhänger machten daraus eine Religion, die Gehorsamkeit predigte.
Die Bibelforscherin Elaine Pagels hat aufgezeigt, dass die Bekehrungen zum Christentum nach dem Tod Jesu häufig auf Unterwerfung unter abstrakte Prinzipien beruhte. Die frühen Gnostiker dagegen wussten, dass nur eine innere Transformation zur Erfüllung führt. Dieses Denken unterscheidet sich grundsätzlich von einer Religion, für die Erlösung in einer Belohnung durch eine Autorität besteht.
Ich stimme dem Historiker Erich Kahler zu, der sagt, dass eine Religion wie die Lehre Christi, die eine Lehre des Herzens ist, die Menschen zu einer Verantwortung für sich selbst bringt. Wenn die grossen Religionen gebraucht werden, um Menschen an Regeln zu binden und so abstrakten Prinzipien zu unterwerfen, führt dies stets zu einer Pervertierung der Lehre des Herzens. Das Märtyrertum der Fundamentalisten verkehrt die Liebe zum Leben in eine Liebe zum Tod, wodurch der Tod zum «wahren» Leben erklärt wird. Solche Menschen und ihre Führer suchen falsche Götter, weil sie in sich selbst keinen Zugang zum Göttlichen haben. Jakob Böhme drückte es bereits im frühen 17. Jahrhundert wie folgt aus: «Darum sehe ein jeder zu, was er thut! Es ist ein jeder Mensch sein eigener Gott (. . .) Er formet (ihm) in seinem Willen selbst ein Zentrum zu seinem Sitze.» Böhme verstand, dass Gott nur da Einzug halten kann, wo der Mensch sein eigenes Selbst hat.
Der Autor war als Psychologe und Psychoanalytiker an verschiedenen Universitäten und Kliniken tätig, zuletzt als Professor an der Rutgers University. Er arbeitet heute als Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich. Sein letztes Buch, «Ich will eine Welt ohne Kriege», erschien 2006 bei Klett-Cotta.