Was den heutigen Individualismus vom vermuteten früheren Kollektivismus unterscheidet, ist darum nicht, dass wir jetzt viele verschiedene wären, wo wir früher Eins waren. Eins waren wir nie.
ujmp hat geschrieben:Nochmal zu Luther: Lies mal Hermann Cohens "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums". Er zeigt darin auf, dass es schon innerhalb des Alten Testamentes eine kolossale Entwicklung der relgiösen Vorstellungen gegeben hat. Das Christentum hat dann das Opfer zu einem komplett abstrakten Ritual gemacht und hat durch die umfassende "Vergebung" den Menschen eine unglaubliche geistige Befreiung gebracht - relativ zu zeitgenössischen Vorstellungen. Das braucht man dann m.E. bloß noch zu Ende zu denken und man landet bei einem symphatisch warmherzigen Atheismus.
Genau ist es. Rene Girard argumentiert meines Wissens ähnlich. Ein wichtiger Punkt, der im AT (Prophetenbücher) immer wieder herausgehoben wird, ist folgender: Ohne Recht zerfällt jede menschliche Gesellschaft. Unter "Recht" werden dabei nicht irgendwelche sakralen Vorschriften und Gebote verstanden, sondern ethische Normen ("die Waise nicht ausplündern, der Witwe zu ihrem Recht verhelfen, dem Arbeiter seinen Lohn nicht vorenthalten, den Fremden im Land nicht bedrücken usw."). Weil die Menschen rechtlos gehandelt haben, Unrecht getan haben, "haben sie den Herrn nicht gekannt". Unrecht tun und den Herrn nicht kennen ist nämlich in den Prophetenbüchern ein und dasselbe. Darum wurde Jerusalem zur Wüste (vielleicht nur fiktional, aber egal).
Mit einem "warmherzigen Atheismus" kann ich prima leben. Da ist Glaube und Atheismus nicht weit entfernt voneinander. In Lukas 10,25-38 ist ja auch im Grunde ein Atheist, der dem Halbtoten aus Barmherzigkeit zu Hilfe kommt. Es ist ein Samariter. In Lukas 9, 52f. weigern sich die Einwohner eines samaritischen Dorfes zwar, Jesus die Gastfreundschaft zu gewähren (zur Begründung heisst es: "... weil er auf dem Weg nach Jerusalem war."). Trotzdem hegt Jesus keinen Groll und stellt klar, dass es letztenendes auf die Barmherzigkeit ankommt. Warum der Priester vorüberging ("er sah ihn und ging vorüber") wird übrigens nicht gesagt. Vermutlich, weil er sonst gegen irgendeins der vielen sakralen Geboten im AT verstossen hätte (angeblich gibt es davon über 630). Daher sagt Paulus auch, daß das Gesetz (eben diese vielen Vorschriften) unerfüllbar ist und daß aus dem "Gesetz" heraus keiner gut ist.