Anarchie

Re: Anarchie

Beitragvon laie » Fr 26. Apr 2013, 11:38

stimme in vielem überein. Ja, wir sind objektiv Individuen, weil man uns zählen kann (natürlich nicht nur deswegen; aber ich wollte hier zunächst die Begründung: "ja, wir sind Individuen, weil wir so individuell sind" beseite lassen). Wären wir alle Eins, würde zählen keinen Sinn machen. Auch die Menschen, die angeblich einem "Stammesdenken" anhafteten, waren nicht Eins.

Was den heutigen Individualismus vom vermuteten früheren Kollektivismus unterscheidet, ist darum nicht, dass wir jetzt viele verschiedene wären, wo wir früher Eins waren. Eins waren wir nie.

ujmp hat geschrieben:Nochmal zu Luther: Lies mal Hermann Cohens "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums". Er zeigt darin auf, dass es schon innerhalb des Alten Testamentes eine kolossale Entwicklung der relgiösen Vorstellungen gegeben hat. Das Christentum hat dann das Opfer zu einem komplett abstrakten Ritual gemacht und hat durch die umfassende "Vergebung" den Menschen eine unglaubliche geistige Befreiung gebracht - relativ zu zeitgenössischen Vorstellungen. Das braucht man dann m.E. bloß noch zu Ende zu denken und man landet bei einem symphatisch warmherzigen Atheismus.


Genau ist es. Rene Girard argumentiert meines Wissens ähnlich. Ein wichtiger Punkt, der im AT (Prophetenbücher) immer wieder herausgehoben wird, ist folgender: Ohne Recht zerfällt jede menschliche Gesellschaft. Unter "Recht" werden dabei nicht irgendwelche sakralen Vorschriften und Gebote verstanden, sondern ethische Normen ("die Waise nicht ausplündern, der Witwe zu ihrem Recht verhelfen, dem Arbeiter seinen Lohn nicht vorenthalten, den Fremden im Land nicht bedrücken usw."). Weil die Menschen rechtlos gehandelt haben, Unrecht getan haben, "haben sie den Herrn nicht gekannt". Unrecht tun und den Herrn nicht kennen ist nämlich in den Prophetenbüchern ein und dasselbe. Darum wurde Jerusalem zur Wüste (vielleicht nur fiktional, aber egal).

Mit einem "warmherzigen Atheismus" kann ich prima leben. Da ist Glaube und Atheismus nicht weit entfernt voneinander. In Lukas 10,25-38 ist ja auch im Grunde ein Atheist, der dem Halbtoten aus Barmherzigkeit zu Hilfe kommt. Es ist ein Samariter. In Lukas 9, 52f. weigern sich die Einwohner eines samaritischen Dorfes zwar, Jesus die Gastfreundschaft zu gewähren (zur Begründung heisst es: "... weil er auf dem Weg nach Jerusalem war."). Trotzdem hegt Jesus keinen Groll und stellt klar, dass es letztenendes auf die Barmherzigkeit ankommt. Warum der Priester vorüberging ("er sah ihn und ging vorüber") wird übrigens nicht gesagt. Vermutlich, weil er sonst gegen irgendeins der vielen sakralen Geboten im AT verstossen hätte (angeblich gibt es davon über 630). Daher sagt Paulus auch, daß das Gesetz (eben diese vielen Vorschriften) unerfüllbar ist und daß aus dem "Gesetz" heraus keiner gut ist.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Fr 26. Apr 2013, 12:00

laie hat geschrieben:Mit einem "warmherzigen Atheismus" kann ich prima leben. Ich frage mich, ob dieser warmherzige Atheismus so warmherzig bleibt, wenn man seine Herkunft und Wurzeln vergisst.
Dem stimme ich zu.
Wir erleben derzeit einen riesigen Kulturwandel, der umso schneller passiert, je mehr Grenzen sich öffnen und Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen zueinander finden müssen.

ujmp hat geschrieben:Wir haben Krankenkasse, Sozialhilfe usw. die letzlich auch aus dem sozialen Empfinden des Menschen heraus geboren wurden.
Das Individuum, dem hier so schön gehuldigt wird, ist nichts wert, wenn es gleichsam dazu verdonnert werden muss, sich einem Staat zu fügen, der entscheidet was gut und was schlecht für das Individuum ist. Ich denke nicht, dass es das soziale Empfinden der einzelnen Individuen war, das unsere Sozialsysteme so aufgebläht hat. Ich denke vielmehr, dass Sozialsysteme das Ergebnis einer Individualisierung sind, wo jeder zuerst an sich denkt, Sozialsysteme sind sozusagen Schadensbegrenzung per Dekret. Stammesdenken braucht keine "Systeme", weil automatisch funktioniert, was funktionieren soll. Wie selbstverständlich kümmert man sich um Alte und Kinder gleichermaßen wenn die Gruppe überschaubar bleibt. Wir dagegen, solidarisieren menschliche Probleme und lösen sie mit Geldmittel. Das ist für mich kein Fortschritt der erweiterten Mitmenschlichkeit, sondern gerade ein Zeichen für das Prinzip Egoismus mit generöser Freikaufsmentalität.
Den Kulturwandel hin zum egoistischen Wesen erleben wir alle. Gleichzeitig erleben wir den Rückgang christlich, religiöser Einflüsse und Gemeindeleben. Ob nun das eine mit dem anderen im Zusammenhang steht, weiß ich nicht. Atheisten leugnen den Zusammenhang, Christen dagegen zementieren ihn.

LG stine
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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Fr 26. Apr 2013, 12:22

Der Gedanke, dass unser Handeln nicht Gott als Adressaten hat, sondern den anderen Menschen, kommt auch im Buch Hijob vor: "Begehst du eine Sünde, was kannst du ihm (gemeint ist Gott) schaden? Bist du gerecht, was kannst du ihm (=Gott) geben? Nur deinesgleichen trifft dein Frevel, ein Menschenkind dein tugendhafter Wandel" (verkürzt nach Hijob 35, 6-8).
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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » So 28. Apr 2013, 06:47

stine hat geschrieben:
laie hat geschrieben:Mit einem "warmherzigen Atheismus" kann ich prima leben. Ich frage mich, ob dieser warmherzige Atheismus so warmherzig bleibt, wenn man seine Herkunft und Wurzeln vergisst.
Dem stimme ich zu.

Laie hat die Passage zwar gelöscht, aber ich find die Frage gar nicht so schlecht. Es ist nämlich die Frage: Möchte ein Mensch Gutes tun, weil er religiös ist - oder - ist ein Mensch religiös, weil er Gutes tun möchte? Mal vom "Gutsein" abgesehen, es gibt Hinweise darauf, dass Menschen weniger oft Opfer von Verführung sind, als man denkt. Sie finden einfach u.U. in Sekten oder extremistischen Ideologien, was ihnen irgendwie entspricht. Religion ist evtl. einfach nur eine Art Artikulationshilfe. Wir reden z.B. davon dass uns Dinge oder Ideen "ansprechen". Man könnte es mit dem physikalischen Phänomen der Resonanz vergleichen, wo man Körper zum Schwingen anregen kann, insofern die Frequenz dem Körper auf gewisse Weise entspricht. Aus dieser Perspektive ist es schon interessant, wieso Religionen 2013 noch so viele Anhänger haben.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » So 28. Apr 2013, 10:41

ujmp hat geschrieben: Aus dieser Perspektive ist es schon interessant, wieso Religionen 2013 noch so viele Anhänger haben.
Das sind die "alten" Gene.
Menschen ticken eben nicht alle gleich. Es gibt Egoisten, die ganz selbstverständlich Egoisten sind und nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei haben, wenn sie jemanden übervorteilen. Und es gibt Menschen, die empathisch sein können und die das schlechte Gewissen plagt, wenn sie jemandem Unrecht tun. Und das gibt es in ziemlich allen Abstufungen.
Es kann selbstverständlich so sein, dass sich in unterschiedlichen Religionsgemeinschaften Menschen mit jeweils den gleichen Schwingungen häufen. Gläubige sind vielleicht gläubig, weil sie vernetzter Denken.

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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Mo 29. Apr 2013, 10:14

Ja, ich hatte den Satz "Ich frage mich, ob dieser warmherzige Atheismus so warmherzig bleibt, wenn man seine Herkunft und Wurzeln vergisst." gelöscht. Weil ich ihn für missverständlich hielt. Man könnte so meinen, es ginge mir nur um eine rein historische Frage. Das war nicht der Fall, obwohl ich schon oft artikuliert habe, dass ich den gesellschaftlichen Einfluss des Christentums auch für die Entwicklung der säkularen, atheistischen Gesellschaft für profund halte.

Nein. Ich wollte damit einfach zum Ausdruck bringen, dass der Glaube ein Teil der Kultur ist und wie diese nur existiert, wenn sie weitergegeben wird. Wenn "der warmherzige Atheismus" aus dem "atheistischen" Erlösungsgedanken stammt (und ich denke, es gibt gute Gründe, sich einmal mit dieser Idee anzufreunden), dann geht der "warme Kern" irgendwann verloren, wenn der Glaube nicht mehr tradiert wird. Und deshalb ertönt seit gut 2000 Jahren immer wieder das Hochgebet "Darum, gütiger Vater, feiern wir das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung deines Sohnes." Dieser Gedanke findet in der Kirche bündig seine Formel in der Lehre von der Erbsünde: Der Glaube ist nicht angeboren. Er muss gelernt werden. Und Glaube beschränkt sich ja nicht auf ein paar teure Gewänder und bestimmte liturgische Handlungen.

ujmp hat geschrieben:Religion ist evtl. einfach nur eine Art Artikulationshilfe. Wir reden z.B. davon dass uns Dinge oder Ideen "ansprechen". Man könnte es mit dem physikalischen Phänomen der Resonanz vergleichen, wo man Körper zum Schwingen anregen kann, insofern die Frequenz dem Körper auf gewisse Weise entspricht. Aus dieser Perspektive ist es schon interessant, wieso Religionen 2013 noch so viele Anhänger haben.


Sehr gut. Besonders hat mir dein Bild der Artikulationshilfe gefallen, dass uns Dinge oder Ideen "ansprechen" wie einen Resonanzkörper. Ich denke, dass trifft die Sache ziemlich gut.

ujmp hat geschrieben:Laie hat die Passage zwar gelöscht, aber ich find die Frage gar nicht so schlecht. Es ist nämlich die Frage: Möchte ein Mensch Gutes tun, weil er religiös ist - oder - ist ein Mensch religiös, weil er Gutes tun möchte? Mal vom "Gutsein" abgesehen, es gibt Hinweise darauf, dass Menschen weniger oft Opfer von Verführung sind, als man denkt. Sie finden einfach u.U. in Sekten oder extremistischen Ideologien, was ihnen irgendwie entspricht.


Kann man sich das vornehmen, "Gutes tun"? Ist das nicht eine Hybris? Aber lassen wir das für den Moment. Du unterscheidest zwei Fälle. Im ersten speist sich die Motivation, Gutes zu tun, aus der Religiosität eines Menschen. Im zweiten Fall speist sich die Religiosität aus den guten Werken. Dieser Unterscheidung entspricht die alte Streitfrage, ob es die guten Werke sind, die den Glauben ausmachen, oder ob es der Glaube ist, der die Werke erst "gut" macht. Im ersten Fall maßt man sich an, zu wissen, was gute Werke sind, und wenn man nur genügend davon getan hat, dann sei man eben auch "religiös". Im zweiten Fall leitet der Glaube (also: das fundamentale Vertrauen auf das Hineingenommensein in die Liebe Gottes zu Gott) die Vernunft und ist damit die eigentliche Quelle der guten Werke.

Also: um gute Werke zu tun, muss man die Vernunft walten lassen. Und um die Vernunft "richtig" walten zu lassen, braucht es den Glauben in o.g. Bedeutung. Sind nun etwa Werke, die "nur vernünftig" sind, nicht gut? Ehrlich, ich traue mich nicht, diese Frage mit Ja oder Nein zu beantworten. Nur soviel: Anders Breivik wollte seinem Land etwas Gutes tun. Er hat über seine Motive eine Verteidigungsrede gehalten. Vor einiger Zeit wurde die Verteidungsrede des Anders Breivik als Theater aufgeführt. Anders Breivik tritt dort als Theoretiker seiner eigenen Tat auf. Diese Performanz rückt einen ganz wichtiger Zug in der Auseinandersetzung mit dem Bösen in den Vordergrund: Man kann Anders Breivik mit rationalen Argumenten nichts entgegnen, da er ebenfalls rational argumentiert.

Von daher gewinnt der Satz: "Ich entsage dem Bösen" einen neuen Sinn. Daß man nichts Böses tun möchte ist ebenso wie sein Gegenteil "Ich möchte Gutes tun" ein schöner Vorsatz, an dem wir aber regelmäßig scheitern. "Dem Bösen entsagen" bedeutet vielmehr m.E. sich nicht argumentativ mit dem Bösen auseinandersetzen. Ihm kein Gehör zu schenken und ihm keine Antwort geben. Auch Jesus wird vom Teufel versucht und setzt sich mit den Versuchungen des Teufels, die ja allesamt ziemlich vernünftig klingen ("warum willst du nicht die Weltherrschaft, warum stürzt du dich nicht vom Felsen, du bist doch der Sohn Gottes?" usw.), nicht auseinander.

Wenn es für mich etwas zu mäkeln gibt am "aufgeklärten Individualismus", dann, dass wir meinen, alles sei nur eine Frage der "besseren" Argumente. Vor dem Bösen enden die Argumente.
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Re: Anarchie

Beitragvon Vollbreit » Mo 29. Apr 2013, 16:10

laie hat geschrieben:Von daher gewinnt der Satz: "Ich entsage dem Bösen" einen neuen Sinn. Daß man nichts Böses tun möchte ist ebenso wie sein Gegenteil "Ich möchte Gutes tun" ein schöner Vorsatz, an dem wir aber regelmäßig scheitern. "Dem Bösen entsagen" bedeutet vielmehr m.E. sich nicht argumentativ mit dem Bösen auseinandersetzen. Ihm kein Gehör zu schenken und ihm keine Antwort geben. Auch Jesus wird vom Teufel versucht und setzt sich mit den Versuchungen des Teufels, die ja allesamt ziemlich vernünftig klingen ("warum willst du nicht die Weltherrschaft, warum stürzt du dich nicht vom Felsen, du bist doch der Sohn Gottes?" usw.), nicht auseinander.

Wieso eigentlich? Mit der Nettolebensbilanz im Blick, ist das doch keineswegs ausgeschlossen.

laie hat geschrieben:Wenn es für mich etwas zu mäkeln gibt am "aufgeklärten Individualismus", dann, dass wir meinen, alles sei nur eine Frage der "besseren" Argumente. Vor dem Bösen enden die Argumente.
Sicher, mit Dummen und Bösen kann man schwer reden, aber man kann versuchen, ihre Zahl zu verringern
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Re: Anarchie

Beitragvon Vollbreit » Mo 29. Apr 2013, 16:34

Den Deutschen sind die Religionen übrigens zunehmend suspekt - und die Atheisten auch:
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitges ... ettansicht
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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Mo 29. Apr 2013, 16:51

Vollbreit hat geschrieben:Wieso eigentlich? Mit der Nettolebensbilanz im Blick, ist das doch keineswegs ausgeschlossen.


Ich verstehe deinen Einwand nicht. Damit meine ich nicht, dass es kein Einwand ist, sondern dass ich ihn gerade wirklich nicht verstehe. Der Grundgedanke ist, dass man dem Bösen anders begegnet und auf andere Weise entgegnet als durch rationale Überzeugungsarbeit.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Mo 29. Apr 2013, 17:26

laie hat geschrieben:Von daher gewinnt der Satz: "Ich entsage dem Bösen" einen neuen Sinn. Daß man nichts Böses tun möchte ist ebenso wie sein Gegenteil "Ich möchte Gutes tun" ein schöner Vorsatz, an dem wir aber regelmäßig scheitern. "Dem Bösen entsagen" bedeutet vielmehr m.E. sich nicht argumentativ mit dem Bösen auseinandersetzen. Ihm kein Gehör zu schenken und ihm keine Antwort geben.
Ich erlaube mir manchmal keine Zeitung zu lesen und das Radio aus zu lassen. Hat den selben Effekt!

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Re: Anarchie

Beitragvon Vollbreit » Mo 29. Apr 2013, 18:15

laie hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Wieso eigentlich? Mit der Nettolebensbilanz im Blick, ist das doch keineswegs ausgeschlossen.


Ich verstehe deinen Einwand nicht. Damit meine ich nicht, dass es kein Einwand ist, sondern dass ich ihn gerade wirklich nicht verstehe. Der Grundgedanke ist, dass man dem Bösen anders begegnet und auf andere Weise entgegnet als durch rationale Überzeugungsarbeit.


Okay, ich hatte mich jetzt eher auf das regelmäßige Scheitern bezogen. Und da meinte ich, dass man hier und da sicher nicht alles perfekt macht, aber unterm Strich ist es für mich ein gutes Gefühl, wenn ich mir (hier durchaus auch begründet) einreden kann, ich hätte unterm Strich mehr Nutzen als Schaden angerichtet.

Dem Bösen kann man sicher schwer durch Überzeugungsarbeit bei seinen realen Stellvertretern beikommen, das sehe ich ähnlich. Das würde unterstellen, dass böse Menschen allesamt dumm sind und einfach nicht richtig verstehen. Sie verstehen die Argumente zuweilen durchaus, aber es interessiert sie nicht sonderlich.
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Re: Anarchie

Beitragvon Nanna » Mo 29. Apr 2013, 19:17

Vollbreit hat geschrieben:Den Deutschen sind die Religionen übrigens zunehmend suspekt - und die Atheisten auch:
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitges ... ettansicht

Was die Atheisten angeht, dürfte es sich nicht um ein "zunehmend" handeln. Der Artikel begründet eigentlich recht schlüssig, dass der Atheismus die Axt für den Geschmack mancher eine Stufe zu tief ansetzt und die Grundsätzlichkeit, mit der er den Einbettungskontext unserer Traditionen in Frage stellt, den Leuten Angst macht. Das wird aber, verbunden mit einem Rückgang der traditionellen Religiosität, durch einen Gewöhnungseffekt eher abnehmen. Wenn ein Großteil der Menschen atheistisch ist und die Apokalypse trotzdem noch nicht eingetreten ist, wird sich da auch der skeptische Teil der Bevölkerung umorientieren. Das war bei anderen großen gleichberechtigenden Veränderungen ebenfalls so. Schwule oder Frauen, die ihre Gleichberechtigung einfordern und leben werden heute noch selten als echte Bedrohung wahrgenommen, auch wenn zu Beginn die Traditionalisten ganz genau wussten, dass Mord und Totschlag einsetzen würden, wenn man denen auch nur einen Zentimeterbreit geben würde.
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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » Mo 29. Apr 2013, 20:46

laie hat geschrieben:Nein. Ich wollte damit einfach zum Ausdruck bringen, dass der Glaube ein Teil der Kultur ist und wie diese nur existiert, wenn sie weitergegeben wird. Wenn "der warmherzige Atheismus" aus dem "atheistischen" Erlösungsgedanken stammt (und ich denke, es gibt gute Gründe, sich einmal mit dieser Idee anzufreunden), dann geht der "warme Kern" irgendwann verloren, wenn der Glaube nicht mehr tradiert wird.

Ich meine, es ist umgedreht: Die Menschen haben ein mehr oder weniger angeborenes ethisches und soziales Empfinden, das sich irgendwie zu verwirklichen sucht. Wenn grad nur Religion zur Hand ist, um dies zu verwirklichen, dann wird sie eben hergenommen. Und Religion kann außerdem ebsogut kalt und unmenschlich sein. Wenn Ideologien oder Religionen zum Selbstzweck werden, mutieren sie oft früher oder später zu Gefängnissen. Dass Religionen sich reformieren liegt m.E. jedenfalls nicht am "festen Glauben", sondern daran, dass man mit Menschen nicht alles machen kann, nicht auf Dauer. M.E. ist Glaube in einem religiösen Sinn nicht erforderlich.
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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Mo 29. Apr 2013, 21:29

Vollbreit hat geschrieben:Das würde unterstellen, dass böse Menschen allesamt dumm sind und einfach nicht richtig verstehen. Sie verstehen die Argumente zuweilen durchaus, aber es interessiert sie nicht sonderlich.


Und im schlimmsten Fall überzeugen sie dich vielleicht sogar, je nachdem wie eng du dich an deine Prämissen klammern kannst. Ich erschauere bei dem Gedanken, daß ich vermutlich ohne Mühe die Argumentationsketten von Breivik und Vorläufern, Mitläufern und Nachläufern aufnehmen und zu meinen eigenen machen könnte. Nicht, weil sie besser als meine jetzigen Überzeugungen wären. Sondern weil sie vom logischen Standpunkt gleichberechtigt sind. Vielleicht werde ich damit nicht gleich zum Mörder wie Breivik, aber die Saat ist dann gesät.

Laie hat geschrieben:(daß man dem Bösen nur begegnen kann, indem man ihm entsagt)
Stine hat geschrieben:Ich erlaube mir manchmal keine Zeitung zu lesen und das Radio aus zu lassen. Hat den selben Effekt!


Das meinte ich nicht, tut mir leid, wenn ich da mißverständlich war. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß Aufklärung und Bildung eben nicht immer die besten Waffen im Kampf gegen Unrecht und Unmenschlichkeit sind. Der Gedanke an die Macht des aufklärerischen Wortes gehört eh in den Showdown amerikanischer Gerichtsfilme, wo dann meist der Verteidiger die Geschworenen und damit den ganzen Fall mit überzeugenden Argumenten herumreissen kann. Kann man sich Jesus tatsächlich vorstellen, wie er sich vor Pilatus auf diese Weise verteidigt? Oder nehmen wir Gandhi und seinen gewaltlosen Widerstand. Der Gandhi hat sich nicht lange argumentativ mit den britischen Kolonialherren auseinandergesetzt. Er hat ihnen nichts erzählt von wegen Menschenrechte und "ihr dürft das aber nicht, weil so und so". Er hat einfach auf die Macht des zivilen Ungehorsams gesetzt. An seinem frühen Mitstreiter Subhash Chandra Bose kann man übrigens gut studieren, wie ein Mensch umgedreht werden kann, der meint für alles gute Argumente zu haben. Hat es sich Bose tatsächlich träumen lassen, einmal Hitler zu treffen und einen indischen Zweig der Waffen-SS aufzubauen?
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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Mo 29. Apr 2013, 21:47

Laie hat geschrieben:Nein. Ich wollte damit einfach zum Ausdruck bringen, dass der Glaube ein Teil der Kultur ist und wie diese nur existiert, wenn sie weitergegeben wird. Wenn "der warmherzige Atheismus" aus dem "atheistischen" Erlösungsgedanken stammt (und ich denke, es gibt gute Gründe, sich einmal mit dieser Idee anzufreunden), dann geht der "warme Kern" irgendwann verloren, wenn der Glaube nicht mehr tradiert wird.
ujmp hat geschrieben:Ich meine, es ist umgedreht: Die Menschen haben ein mehr oder weniger angeborenes ethisches und soziales Empfinden, das sich irgendwie zu verwirklichen sucht. Wenn grad nur Religion zur Hand ist, um dies zu verwirklichen, dann wird sie eben hergenommen. Und Religion kann außerdem ebsogut kalt und unmenschlich sein. Wenn Ideologien oder Religionen zum Selbstzweck werden, mutieren sie oft früher oder später zu Gefängnissen. Dass Religionen sich reformieren liegt m.E. jedenfalls nicht am "festen Glauben", sondern daran, dass man mit Menschen nicht alles machen kann, nicht auf Dauer. M.E. ist Glaube in einem religiösen Sinn nicht erforderlich.


Ich kann dir folgen. Ok. Allerdings meine ich schon, daß wir bei der Beziehung zwischen säkularem Atheismus und Religion nicht von irgendeiner beliebigen Religion oder Ideologie reden, sondern von der christlichen Religion mit ihrer Vermenschlichung Gottes und der Absage an sakrale Gebote, in meinen Augen sehr wichtig für die Entstehung des aufgeklärten, säkularen Humanismus. Aber ich kann mich täuschen und das ist überhaupt vielleicht nur "Glaubenssache".

Auch deinem "daß wir ein mehr oder weniger angeborenes ethisches und soziales Empfinden haben, das sich irgendwie zu verwirklichen sucht." kann ich folgen.
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Re: Anarchie

Beitragvon Vollbreit » Di 30. Apr 2013, 05:51

@ Nanna:

Ich bin wirklich mal gespannt, wo die Reise diesbezüglich hingeht.
Viele Menschen finden irgendeine Form von Religion und Spiritualität gut, fühlen sich aber selbst dem nicht verpflichtet.
Dazu kommt noch die Frage, wie man Spiritualität definiert. Ist „Ich glaube irgendwie an ein Leben nach dem Tod“, spirituell oder einfach postmodernes Wunschdenken?
Beim Atheismus scheint mir entscheidend zu sein, inwieweit er es schafft seine Anhänger auf irgendwelche Werte zu verpflichten. Aus dem „Jeder, wie er will“ entsteht schwerlich eine gemeinsame Praxis. Die allgemeine Oberflächlichkeit, damit meine ich vor allem, sich auf nichts festlegen zu wollen, ist m.E. ein Problem.
Sicher kann man ein solches Vakuum, falls es entsteht, durch mehr Gesetze regeln, ob das wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt.


@ laie:

Logische Folgerichtigkeit allein ist doch überhaupt kein Kriterium für die Güte eines Weltbildes. Ich wundere mich immer, wie viele Menschen diesen Faktor überbewerten, positiv wie negativ. Positiv, ich dem sie meinen, wer logisch folgerichtig argumentiert, dem sie nicht beizukommen. Doch klar, man kann schauen, welchen Wert die Prämissen haben, nur ist das dann eben keine Aufgabe der Logik mehr.
Negativ, indem man, wie Popper, bis er am Ende seinen Irrtum korrigierte, meinte, es genüge einen falschen Satz, eine empirische Widerlegung irgendwo zu finden und schon bräche alles zusammen. Du hast doch selbst auf Duhem verwiesen.

Den Anders Breivik in sich zu finden, ist ja ansonsten nicht wertlos, zeigt es uns doch welche Vorläufer noch immer in uns schlummern. Dieses: „So hätte ich unter gewissen Umständen auch denken können“, ist m.E. allemal besser als die kategorische Leugnung, nie und nimmer und auch nur in Ansätzen verstehen zu können, wie man „so einer“ werden könne. Die Leute, die, im Mainstream schwimmend, immer auf der richtigen Seite zu sein scheinen, einem aber nie sagen können wie sie selbst eigentlich zu ihrer Auffassung gelangt sind. Sie berufen sich gerne darauf, dass man dazu doch nur den gesunden Menschenverstand brauche, sich das doch wohl von selbst versteht und jedes weitere Wort zu dem Thema eines zu viel ist. Da kann man sich immer nur wünschen, der Strom möge stets in die richtige Richtung fließen.
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Re: Anarchie

Beitragvon stine » Di 30. Apr 2013, 06:48

Vollbreit hat geschrieben:@ Nanna:

Ich bin wirklich mal gespannt, wo die Reise diesbezüglich hingeht.
Viele Menschen finden irgendeine Form von Religion und Spiritualität gut, fühlen sich aber selbst dem nicht verpflichtet.
Dazu kommt noch die Frage, wie man Spiritualität definiert. Ist „Ich glaube irgendwie an ein Leben nach dem Tod“, spirituell oder einfach postmodernes Wunschdenken?
Beim Atheismus scheint mir entscheidend zu sein, inwieweit er es schafft seine Anhänger auf irgendwelche Werte zu verpflichten. Aus dem „Jeder, wie er will“ entsteht schwerlich eine gemeinsame Praxis. Die allgemeine Oberflächlichkeit, damit meine ich vor allem, sich auf nichts festlegen zu wollen, ist m.E. ein Problem.
Sicher kann man ein solches Vakuum, falls es entsteht, durch mehr Gesetze regeln, ob das wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt.
:up:
Danke, @Vollbreit, sonst hätte ich das schreiben müssen.

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Re: Anarchie

Beitragvon laie » Di 30. Apr 2013, 06:57

@Vollbreit

stimmt. Die Güte eines Weltbildes hängt nicht (nur) an seiner logischen Folgerichtigkeit, das sehe ich auch so. In deinem letzten Absatz hast du auf die Bedeutung biographischer Eindrücke und Erlebnisse verwiesen. Wer kann schon sagen, wie ihn was beeinflußt!

ujmp, darth und nanna lasse ich jetzt mal so auftreten:

ujmp: soziales und ethisches Mitgefühl ist mehr oder weniger angeboren
darth:mehr angeboren
nanna:mehr gelernt
ujmp: ok, aber angeboren
darth und nanna: ja, schon irgendwie
nanna: Aber Atheismus ist keine Religion und macht keine ethischen Vorgaben
ujmp: muss er ja auch nicht, denn Mitgefühl ist ja angeboren. Wird schon alles gut.
darth: alles ist eben Evolution, jetzt schauen wir mal, was daraus wird
nanna: hmm, so ganz wohl ist mir dabei nicht.
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Re: Anarchie

Beitragvon ujmp » Di 30. Apr 2013, 07:20

laie hat geschrieben:Religion mit ihrer Vermenschlichung Gottes und der Absage an sakrale Gebote, in meinen Augen sehr wichtig für die Entstehung des aufgeklärten, säkularen Humanismus. Aber ich kann mich täuschen und das ist überhaupt vielleicht nur "Glaubenssache".

Nein, das ist "Willenssache" oder ganz profan ausgedrückt "Geschmackssache". Schopenhauer nannte das den "Grund des Willens". Bestimmte Vorstellungen lassen sich nicht weiter hinterfragen, sagen wir mal z.B. dass man leben möchte. Wenn ein Mensch erst Mal satt ist und nicht friert, fallen ihm noch viele andere Dinge ein, die er will. Der Grund dafür ist letztlich der eigene Organismus, der in unserem Bewusstsein als Wollen zum Ausdruck kommt. Dass wir zwar tun können, was wir wollen, aber nicht wollen können, was wir wollen, macht das Wollen etwas mysteriös. Diese Erklärung wird daher nicht akzeptiert. Die Menschen vergeistigen das lieber in irgendeinem gezirkelten -ismus.
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Re: Anarchie

Beitragvon provinzler » Di 30. Apr 2013, 08:39

ujmp hat geschrieben: Aus dieser Perspektive ist es schon interessant, wieso Religionen 2013 noch so viele Anhänger haben.


Die heute großen Religionen sind deshalb groß, weil sie es immer wieder geschafft haben, elementare Bedürfnisse vieler Menschen zu befriedigen. Für manche dieser Bedürfnisse findet der gemeine Atheist für sich heute andre Kanalisierungsmöglichkeiten, etwa wenn er statt Heiligenbilder zu küssen, "Thomas Miller - Fußballgott" schreit. Überhaupt hat das eingespielte Prozedere in Fußballstadien viel mit Gottesdiensten gemeinsam. ("Und mit der Nummer 3?" "Bitte für uns..." Äh halt, hab ich was verwechselt :mg: ).
Manche versprechen sich die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse vom Staat (zum Beispiel den Wunsch Verantwortung fürs eigene Leben abzugeben, und dafür die Absolution zu bekommen) und beten diesen mit einem Fanatismus an, der Fundamentalisten der verschiedenen Religionen in nichts nachsteht. Der Ketzer der Neuzeit ist der Steuerhinterzieher, die Sozial-/Politikwissenschaftler sind die Priester,die Politiker die Kardinäle und die Journalisten das Inquisitionskommando. Der Delinquent wird an den medialen Pranger gestellt, wo ihn jeder anpöbeln und anrotzen darf und es wird penetrant Widerruf (Rücktritt) und Buße gefordert...
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