Darth Nefarius hat geschrieben:Abgesehen davon, dass ich die von mir aufgeworfene Frage für mich persönlich unlängst beantwortet habe, frage ich mich, wozu ich als Altruist handeln wollen sollte?
Das weiß ich doch, dass du dich das fragst. Und so lange du es dich fragst, bin ich schon recht zufrieden.
Darth Nefarius hat geschrieben:Hilfe ist keine altruistische Leistung.
Helfen impliziert, insbesondere im emphatischen Sinne, dass du etwas gibst, ohne etwas dafür zu erhalten. Wenn du jemandem gegen Geld "hilfst", in der Schule besser zu werden, ist das nicht helfen in dem Sinne, über den wir hier reden. Wobei ich einen Feuerwehrmann schon als Helfer sehen würde, weil das Gehalt die Lebensgefahr meines Erachtens nicht so wirklich aufwiegt. Ohne eine Portion Idealismus und Pflichtgefühl geht da nichts. Insofern ist Hilfe meines Erachtens sogar genuin eine altruistische Leistung. Man begibt sich in eine unangenehme Situation, möglicherweise gar in Gefahr, um jemandem beizustehen, obwohl man in vielen Fällen recht leicht aus der Bredouille käme, sieht man von einem drohenden schlechten Gewissen ab.
Darth Nefarius hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Das Selbstopfer für andere wird meines Wissens von den meisten Ethikern und Moralphilosophen nicht gefordert
Nein, aber von vielen gewünscht (damit meine ich nicht die Philosophen explizit). Selbstaufopferung wird als heldenhaft und moralisch besonders wertvoll angesehen - die Spitze des Altruismus; für mich ist das die verachtenswerteste Ausprägung von Moralvorstellungen. Es geht mir ja nicht um eine konkrete Kritik an dieser Heiligen-Parabel, es war nur nebenbei erwähnt.
Ich finde das aber interessant. Denn es ist, im Zweifel, ja die höchste Form des Altruismus. Es gibt schlechtere Arten, zu sterben. Was definitiv ethisch bedenklich wäre, wäre das aktive Suchen einer Situation, in der man sich mutwillig opfern kann. Das wäre dann mehr getarnter Suizid und eine Missachtung all derer, die man durch den eigenen Tod verletzt. Aber wenn jemand sich spontan einer Gefahr entgegenstellt, um Andere zu schützen, sehe ich das als heroisch an und es nötigt mir tiefen Respekt ab.
Darth Nefarius hat geschrieben:1. Die Gesellschaft und die Moral wollen in ihrem eigenen Egoismus letztlich nur, dass du dich selbst opferst.
Ich tue mich schwer, einem Kollektiv Egoismus oder Altruismus zuzuschreiben. Meines Erachtens sind das Begriffe, die Individuen vorbehalten bleiben sollten. Aber wenn du es unbedingt so sehen willst: Ich finde das ok. Ich bin ein soziales Tier, ich bin autonom nicht überlebensfähig bzw. nur zu Bedingungen, zu denen ich ein Überleben nicht zwangsläufig in Betracht ziehen würde. Die Verbindungen mit anderen Menschen und die sich darin entfaltende soziale Dynamik sind das, worin und wofür wir meines Erachtens leben. Das Leben um des Lebens willen wäre ein Mittel ohne Zweck - möglich, aber leer und bedeutunglos. Plankton kann so was von mir aus machen.
Insofern gibt es Wichtigeres als mich. Ich möchte zwar gerne so lange und aktiv mitmachen, wie irgendwie möglich, aber im Zweifel ist es wichtiger, dass es weiter geht, nicht dass es für mich weiter geht.
Darth Nefarius hat geschrieben:2. Ich will das nicht und stelle meine Wünsche und Ziele unabhängig von der Bewertung anderer an erste Stelle.
Ich stelle mir eine Existenz unter diesen Bedingungen irgendwie sehr einsam vor.
Darth Nefarius hat geschrieben:Ich habe keine Diskussion zu dieser Parabel in evolutionsbiologischer Perspektive gefordert, sondern nur etwas Hintergrundwissen gegeben - manche würden im Norden sagen "geschnackt". Du musst nicht hinter jedem Kommentar einen Appell an die Menschheit vermuten - die habe ich nämlich ohnehin längst aufgegeben.
Ich denke, wir sind uns beide darüber klar, dass unsere Gedanken hier den Lauf der Geschichte nicht signifikant ändern können. Ok, vielleicht bin auch nur ich mir darüber klar. Anyway: Du befürwortest bestimmte Positionen und ich denke, ich darf das schon als Appell im Sinne von "Es wäre besser, wenn wir es so machen würden." verstehen. Werde ich mir vermutlich zumindest nicht abgewöhnen können.
Darth Nefarius hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Es geht um eine faire Abwägung fremder und eigener Interessen, die im Ergebnis von deiner privaten, mit ethischen Egoismus versetzten Kooperationsethik häufig gar nicht soo schrecklich weit entfernt ist.
Richtig, die Gewichtung bleibt dennoch mir überlassen.
Das kannst du so handhaben, macht aber die Gewichtung sehr zum Gegenstand von Willkür. Möglicherweise entscheiden am Ende deine Launen. Als Einzelperson kann man das so handhaben, aber sobald man schon eine kleine Gruppe zusammenhalten will, sagen wir eine Familie, wird das zum gefährlichen, unberechenbaren Querschläger. Andere werden dann Vorhersehbarkeit, Fairness und die Einhaltung von Regeln einhalten, auch von denen, denen du nicht explizit zugestimmt hast. Im allerschlimmsten Fall bist du dann der versoffene, egomanische Typ, der seine Frau schlägt und sich das je nach aktueller Gefühlslage irgendwie zurecht rationalisiert. Um so etwas zu vermeiden, bist du auf Instanzen von außen angewiesen. Alles selbst regeln zu wollen, wie es einem gerade passt, macht einen vor allem zum sozialen Miteinander unfähig. Fairness impliziert eben auch, auf andere zu hören und "sich etwas sagen zu lassen".
Darth Nefarius hat geschrieben:Mit der radikalen Aussage, dass beide erfrieren, ging es auch nur darum (wie gesagt), auch andere Perspektiven anzunehmen, als es einem unreflektiert von der Gesellschaft eingeflößt wird: Zwischen guter Tat und persönlichem Glück besteht kein kausaler Zusammenhang;
Ich bin mir recht sicher, dass die Glücksforschung dazu etwas anderes sagt.
Darth Nefarius hat geschrieben:zwischen Moral und Notwendigkeit besteht kein kausaler Zusammenhang;
Richtig, sonst wäre es ja ein naturalistischer Fehlschluss. Moral ist immer ein Konstrukt, wobei es Qualitätsunterschiede in der Begründung gibt. Letztlich zählt die überzeugendere Begründung, nicht das Ergebnis eines empirischen Experiments. Das würden aber auch nur wenige besonders krasse Naturrechtler behaupten.
Nur der Vollständigkeit halber: Der moralistische Fehlschluss, also physische Gegebenheiten nicht zu akzeptieren (etwa den Selbsterhaltungstrieb des Menschen pauschal als moralisch verwerflich zu bezeichnen), ist genauso hirnrissig. Den dritten Weg dazwischen zu finden, ist nicht ganz trivial, wobei ein paar Philosophen, wie z.B. Kant, schon sehr nahe dran gewesen sind.
Darth Nefarius hat geschrieben:zwischen Vernunft und Altruismus besteht kein kausaler Zusammenhang.
Ich glaube, dass wir dafür erst mal sehr genau klären müssten, was du unter dem Vernunftbegriff subsummieren willst.
Darth Nefarius hat geschrieben:Die Entwicklung eines Landes hängt von solchen Dingen ab, nicht von der Mentalität. Im Zweifelsfall ist jeder Mensch und jeder Mensch ist ein Tier.
Das, was du da rezitierst, sind typische Positionen des Naturdeterminismus des 19. Jahrhunderts. Der cultural turn in der Geografie hat das schon in den 1960ern weggespült. Es gibt mittlerweile massenweise Forschung (ja, auch saubere empirische, bevor du fragst) dazu und selbst heutige Vertreter post-naturdeterministischer Strömungen wie Jared Diamond (bekannt durch "Kollaps", ein Buch, in dem er sehr anschaulich darstellt, wie Gesellschaften durch unkluge Entscheidungen ihre Lebensgrundlagen zerstört haben) sagen sehr deutlich, dass Kultur eine wichtige Rolle in der Frage spielt, wie eine Gesellschaft sich entwickelt. Diamonds Bücher, obwohl äußerst stark durch naturdeterministische Argumentationen durchzogen, sind ja sogar als Weckruf an unsere modernen Gesellschaften gedacht, das derzeitige Wachstumsideal zu hinterfragen und umzusteuern. Also um das klar zu sagen: Selbst die wissenschaftlichen Hardcore-Vertreter von Argumenten wie deinen räumen der Kultur eine Schlüsselstellung ein.
Ich kann dir theoretisch (praktisch ungern, kostet so viel Zeit, wenn man's ordentlich macht ) am Beispiel des Nahen Ostens ausführen, wie beispielsweise bestimmte Rechtsauffassungen und Moralvorstellungen dazu führen, dass diese Region nicht auf die wirtschaftlichen Füße kommt. Die Tatsache, dass die Gegend weitestgehend in der Wüste liegt, hat auch damit zu tun, aber eben nicht nur. Israel, das mitten drin liegt und mehr Patente ausstößt als die gesamte arabische Welt zusammen, ist ein schönes anschauliches Beispiel dafür, wie innovationsfreudige Kultur bei vergleichbaren äußeren Bedingungen kulturabhängig zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Darth Nefarius hat geschrieben:Eine Erfindung wie das griechische Feuer kann dir hunderte von Jahren so einen enormen Vorteil verschaffen, dass du deine Stadt halten kannst und das osmanische Reich dich nicht einnimmt und du dich so unabhängig eintwickeln kannst. War diese temporäre Überlegenheit durch Technik eine Leistung der Mentalität?
Das ist das Problem, wenn man über Sozialwissenschaften redet, ohne deren Vokabular und Begriffsverständnis erfasst zu haben. Unter Kultur versteht man selbstverständlich auch die téchne, also Technik, Kunst, Wissenschaft. "Mentalität" ist etwas völlig anderes. Mit "Kultur" ist nicht nur gemeint, ob man Weihnachten feiert, und wann, oder ob man schon vor der Ehe Sex haben darf. Das griechische Feuer ist selbstverständlich Kultur. Und erfunden konnte es nur unter der Anwesenheit bestimmter Vorbedingungen werden. Oder glaubst du, dass es Zufall ist, dass der Computer in den Industriestaaten 20. Jahrhundert und nicht im Römischen Reich erfunden wurde?
Darth Nefarius hat geschrieben:Die Japaner haben die Schmiedekunst derart perfektioniert, dass Samuraischwerter jahrhunderte einen enormen Vorteil lieferten und Verteidigung und Eroberung vereinfachten. Eine günstige geographische Lage auf einer Insel ist ein zusätzlicher Vorteil.
Geografische Lage: Ja. Samuraischwerter: Hollywoodblödsinn. Kuckst du hier: Wikipedia: Katana - Mythen und Missverständnisse (zufällig kenne ich auch einen Fachmann für mittelalterliche europäische Schwertkunst und kann selber ein wenig mit einem Katana fechten, bloß um auch mal namedropping zu betreiben. )
Darth Nefarius hat geschrieben:Um es also nochmal auf den Punkt zu bringen: Nicht immer ist allgemeiner Altruismus nützlich, nicht immer kollektive Entwicklung innerhalb einer Gesellschaft.
Da sind wir uns auch absolut einig. Die historischen Präzedenzfälle, in denen falsch verstandender Altruismus zu unsäglichem Leid geführt hat, beispielsweise in der brutalen Selbstaufopferung von Millionen Menschen in den nationalistischen Kollektivismen des 19. und 20. Jahrhunderts hast du ja völlig zu Recht angeführt.
Darth Nefarius hat geschrieben:Die "Sterbeparabel" soll darauf hinaus, dass das, was viele als Altruismus bezeichnen, seine Grenzen durch den Darwinismus hat. Die Selbstlosesten gehen am Ende beim Versuch jemandem zu helfen eher drauf und haben auch eine geringere Fitness, können somit ihre Einstellung (sofern sie genetisch manifestiert ist) seltener vererben. Es soll anmerken, dass die Realität und die Gesetze der Evolution keine Moral kennen - jetzt mal unabhängig davon, was man für sich oder die Gesellschaft für richtig hält.
Ich bin kein Biologe, aber soweit ich Vererbung verstanden habe, muss ich nicht notwendigerweise selbst Nachkommen zeugen, um meinen Genen eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit zu geben. Wenn ich acht Geschwister habe und dabei drauf gehe, alle vor einem Feuer zu retten und jedes dieser Geschwister zwei Kinder bekommt, sind verdammt viele Nachkommen mit zwar nicht identischem, aber sehr ähnlichem Erbgut zu meinem dabei. Wenn von den 16 Nachkommen der Familie auch nur einige die Veranlagung zum Altruismus weiter tragen, sind das u.U. weit mehr, als wenn ich meine acht Geschwister sterben hätte lassen und nur selber Kinder bekommen hätte. So gesehen kann es sogar passieren, dass ich durch meine altruistische Tat die altruistischen Gene weiter verbreitet habe als durch eigene Nachkommen. Vom kulturellen Nachahmungseffekt durch mein strahlendes Vorbild, das noch jahrzehntelang an Lagerfeuern besunden wird, mal ganz abgesehen.
Vielleicht missverstehe ich den Darwinismus hier ja auch, aber für mich erscheint es so, als würde die darwinistische Begrenzung des Altruismus ganz so trivial nicht funktionieren. Und dass sich das altruistische Idealbild seit Jahrtausenden in so ziemlich allen Kulturen der Welt gehalten hat und der reine Egoist fast überall in unterschiedlichem Maße verachtet wird, scheint mir eine empirische Bestätigung des evolutionären Wertes von altruistischen Grundwerten zu sein. Wobei ich dabei aber nie impliziere, dass reiner Altruismus einer Gesellschaft gut tut. Wie üblich bin ich mal wieder für Mäßigung und Ausgleich.