Zappa hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben: Wenn Du Lust hast, kannst Du ja irgendwo anbeißen.
OK. Nagel, Gabriel und Kahneman hab ich gelesen (Zweiteren* und Letzteren kann auch ich sehr empfehlen) - nur leider begreif ich nicht immer alles und vergesse auch viel, deswegen machen Diskussionen über das Thema immer auch für mich Sinn. Die Frage ist, ob damit die Diskussion nicht etwas zu hoch aufgehängt wird? Natürlich kann man darüber diskutieren, was DIE REALITÄT, DIE WELT, DIE WAHRNEHMUNG ist. Meine Antwort auf die Frage ist, dass die Begriffe mit den großen Anfangsbuchstaben weder gültig definierbar, noch besonders nützlich sind.
Diese Fragen sind fast nie nützlich, außer in wenigen Spezialfällen und selbst da ist es mittlerweile möglich praktikable wie fundierte Antworten zu geben. In der Philosophie oder bei Ken Wilber, Deepak Chopra und wie die Woo-Meister alle heißen, wird man aber nicht fündig. Linguisten, Kognitionswissenschaft, und nahestehende Psychologen sind ein deutlich besserer Ansprechpartner. Kahnemann zum Beispiel fällt unüberaschenderweise in diesen Bereich. Ich würde natürlich immer Steven Pinker empfehlen, dessen Bücher trotz Woo-anfälliger Themen (Denken, Sprache, Bewusstsein, Gefühle...) sehr schön geerdet sind. Das ist eben kein Bullshitter, der sich in nebulösen Wolken verliert, sondern jemand der in seinem nächsten Pflichtbuch gerade dazu anleitet, möglichst klar und zugänglich zu schreiben.
Zappa hat geschrieben:Die Studie untersucht doch eigentlich ein anderes Setting: Kinder mit welchem Erziehungshintergrund sind in der Lage nach allgemeinem Wissensstand offensichtlich fiktive Geschichten (Aschenputtel, Weihnachtsmann etc.) auch als solche zu erkennen? Nun sind die Probandenzahlen nicht besonders hoch, für psychologische Studien aber gar nicht mal so schlecht, gell? Aber es bringt doch nun wirklich nichts, die Studie mit dem Ansatz "was wäre, wenn diese Entitäten wirklich existierten oder theoretisch existieren könnten" zu kritisieren; das macht für mich wenig Sinn.
Die Realitätswahrnehmung selbst ist wahrscheinlich nicht beeinträchtigt, gleichwohl entwickeln wir Intuitionen, die es möglich machen, etwas “realistisch” einzuschätzen. Manchmal tauchen Begriffe wie “Volkspsychologie” oder “naïve Physik” auf, die meinen, dass jeder ein gewisses Grundverständnis entwickelt wie die Welt funktioniert. Wenn Kinder mit der Idee aufwachsen, dass z.B. Wunder ein regulärer Bestandteil der Welt sind, dann wird es ihnen schwer fallen, bestimmte Fiktionen auszusieben, weil ihnen eine vernünftige Einschätzung fehlt, was “plausibel” ist.
Zappa hat geschrieben:Das Ergebnis, dass religiös erzogene Kinder damit größere Probleme haben ist für mich interessant - mehr erst mal nicht. Ich will das weder moralisch noch sonst wie irgendwie (über)bewerten und was Ursache und was Wirkung ist, ist ja längst nicht klar. Vielleicht sind Kinder mit mehr Phantasie tendenziell eher bereit übernatürliche und/oder ungewöhnliche Erklärungsmuster zu akzeptieren? Vielleicht ist das sogar gut für die kindliche Entwicklung (ich erinnere mich selber an eine Phase wüster Phantasiegeschichte, die immer wieder in meine Realität einbrachen bis ich hemmungslos flunkerte und phantasierte)?
Allerdings machen mich Erwachsene mit solch einer Phantasie immer etwas nervös (Chemtrails, Lichtwesen, Handystrahlung - you name it) und ich halte dieses Verhalten durchaus ab einem gewissen Grad für (psycho)pathologisch. Ich denke, irgendwann muss man sich ein Repertoire an einigermaßen begründbare Fakten und an anerkannte Methoden der Erkenntnisgewinnung zulegen. Dazu gehört die Eindämmung der Phantasie auf ihr Refugium und ansonsten möglichst reduktionistisch-rationelle Ansätze (ich weiß wir sind da im Dissens).
*Kann man das so sagen?
Ein großer Teil des Problems ist am Ende die Fähigkeit kritisch zu denken, die neben den richtigen Eingangsdaten (z.B. der Intuitionen) noch voraussetzt, dass derjenige Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten halbwegs realistisch einschätzen kann. Auch das wird, nehme ich an, von dem Wissen von der Welt feinjustiert. Gerade gestern kamen Dokumentationen zu verschiedenen Verschwörungstheorien, unter anderem 9/11. Es wurde daran schon recht deutlich, dass es einerseits bestimmte Denkmuster gibt, die alle gemeinsam haben, aber ein weiterer Teil durch (mangelndes) Wissen gespeist wird. Es fällt auch auf, dass vielleicht der Wert, quasi naturgemäß eine elegante Lösung finden zu wollen (d.h. Ockham's Rasiermesser) teils nicht vorhanden ist. Auch das kann davon herrühren, wenn reich ornamentierte Märchengeschichten als wahr angenommen werden. Sie sind einerseits zentral und wichtig, dann aber verletzten sie eine Grundregel nach sonst anscheinend fast alles sonst funktioniert.
Die 9/11 Truther glauben zum Beispiel in Verschwörungen, die es erfordern, dass Tausende eingeweiht wurden, die dann auch noch alle irgendwie bereit waren mitzumachen. Wenn ich z.B. die Prämisse akzeptiere, dass die US Regierung den Anschlag selbst verübt hat, dann wäre die einfachste Lösung die, wonach die Attentäter Agenten waren. Dann wäre der nächste Schritt, anzunehmen, die Regierung hätte die Attentäter unter falschem Vorschein angeworben (d.h. deep cover als arabische Fürsten ausgeben usw), gefolgt von sie habe die Umstände beeinflusst, sodass die Attentäter sich gründen konnten und haben deren Bestreben heimlich befördert usw. oder in der Minimalvariante davon gewusst und die Attentate nicht behindert. Verschwörungstheoretikern arbeiten genau andersherum: Wenn eine Behauptung unplausibel wird, dann wird nicht die Behauptung fallen gelassen, sondern neuer Krempel als Stützgerüst drumherumgebaut. Auffällig ist auch, dass diese Theorien häufig nicht einmal in sich selbst stimmig sind, was das Resultat ist, wenn sehr viel Krempel zum stützen eingebaut wird, was seinerseits begründet werden will.
Hier wird vielleicht deutlich, dass den Leuten ein Gefühl dafür fehlt, dass alles mit allem zusammenhängt. Sie denken, man kann einfach irgendwo was einbauen und das habe dann keine Auswirkungen. Weit gefehlt, natürlich. Manchen Religiösen kann man neben der Einzelkritik oft auch vorhalten, dass sie kein Gespür dafür haben, dass man z.B. nicht einfach das Alter der Erde mir-nichts-dir-nichts um ein paar Milliarden kürzen kann, damit ihre heilige Schrift irgendwie noch hinkommt. Die denken, man kann manche Sachen selektiv ablehnen und das habe dann keine Auswirkungen, was wieder einerseits mangelndes Wissen anzeigt, zum anderen das Verständnis für die Integrität und Konsistenz der Welt. Und da könnte der Glaube an Mirakel schon eine große Rolle spielen, den damit lassen sich die entstehenden Löcher im Kontinuum dann stopfen.
Letztlich gibt es Gemeinsamkeiten mit religiösem Glauben in der Hinsicht, dass diese Sichtweisen oft inkonsistent sind und quasi wie ein Necker-Würfel funktionieren. Es gibt zwei oder mehr in sich verschränkte Sichtweisen oder Interpretationen, und der Betreffende schaltet unbewusst zwischen ihnen hin- und her. Dadurch entsteht ein Eindruck eines Sachverhalts der in einer Schwebe gehalten wird, mit dem sich der Verstand ewig befassen kann, wie eine Endlosschleife in einem Computerprogramm, die man nur durch externe Unterbrechung stoppen kann. Sie ist aber nie wirklich kohärent greifbar. Hat man früh eine gewisse geistige Hygiene gelernt, wird man automatisch “joosten” wie Dan Dennett den Vorgang nennt, aus einem System auszubrechen und sozusagen von der übergeordneten Ebene reinzugucken. Das sind dann Fragen wie “was bedeutet das eigentlich konkret?” (verhindert, dass man sich an sinnlosen Wortspielen aufhängt), oder “woher kann man das wissen?” (verhindert, dass beliebiger Bullshit geglaubt wird). Als Beispiel bei den Religionen finden wir sowas wie die Dreifaltigkeit, oder z.B. das Jesus in den Himmel aufgefahren ist. Jemand mit einem wachen Verstand möchte wissen, was das konkret
meint. Meint das, das Jesus in den Himmel geflogen ist, quasi wie ein Vogel? Oder meint das, dass Jesus sich dematerialisiert hat, und etwa wie Obi Wan Kenobi sich in Luft aufgelöst hat? D.h. es muss einen Hang dazu geben, konkret verstehen zu wollen, was etwas bedeutet, statt es nur als nebulöse Idee zu akzeptieren wie das bei Bullshittern der Fall ist.
Im Kontrast dazu z.B. Pinker der sich Gedanken dazu macht, was konkret Schamgefühl, Ehre und so weiter
bedeuten. Hier kann man auch Richard Feynman anführen, der sehr klar Wissen und Benennen unterscheidet und dem man es anhört, dass er jemand ist, der trotz hochabstrakter Systeme letztlich ein genauen Kompass dafür hat, was er vor sich hat und was er davon konkret weiss. Er wusste das seine Diagramme letztlich Spiele sind, die aber, wenn sie nach den Regeln durchgeführt werden, zu Ergebnissen führen, die nachprüfbar sind, obwohl er selbst angab, dass er nicht wisse, was das genau bedeutet.
Da ich kürzlich Harry Frankfurt gelesen habe, möchte ich das hier auch noch anfügen: Harry Frankfurt's
On Bullshit. Darin behauptet er, dass es neben der Wahrheit und der Lüge noch die Kategorie Bullshit gibt, die sich dadurch auszeichnet, dass der Behaupter kein Interesse daran hat, auf die Welt zu rekurrieren, sondern seine “eigene Wahrheit” entfalten möchte. Wobei am Ende natürlich nichts letztendlich wahr ist, weil das Universum keine Glocke läutet, wenn jemand die richtige Lösung formuliert hat.
Ein paar Quotes zu Bullshit.
“The contemporary proliferation of bullshit also has deeper sources, in various forms of skepticism which deny that we can have any reliable access to an objective reality and which therefore reject the possibility of knowing how things truly are. These "anti-realist" doctrines undermine confidence in the value of disinterested efforts to determine what is true and what is false, and even in the intelligibility of the notion of objective inquiry. One response to this loss of confidence has been a retreat from the discipline required by dedication to the ideal of correctness to a quite different sort of discipline, which is imposed by pursuit of an alternative ideal of sincerity. Rather than seeking primarily to arrive at accurate representations of a common world, the individual turns toward trying to provide honest representations of himself. Convinced that reality has no inherent nature, which he might hope to identify as the truth about things, he devotes himself to being true to his own nature. It is as though he decides that since it makes no sense to try to be true to the facts, he must therefore try instead to be true to himself.”
Wobei hier statt "himself", eine identitätsstiftende Religion stehen kann.
“It is impossible for someone to lie unless he thinks he knows the truth. Producing bullshit requires no such conviction.”
Und auch das grenzt die andere Seite treffend ein:
“After all, every use of language without exception has some, if not all, of the characteristic features of lies.”