Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Zappa » Di 5. Aug 2014, 20:47

Grade im FazNet folgenden Artikel gefunden: "Wer an Gott glaubt, glaubt auch an Aschenputtel". http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/familie/studie-wer-an-gott-glaubt-glaubt-auch-an-aschenputtel-13082492.html. Da wird über eine Studie berichtet, die zeigt, dass religiös erzogene Kinder schlechter zwischen realen und fiktionalen Geschichten unterscheiden können. Den Abstract der Studie gibt es hier: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1 ... 8/abstract

Ich bin natürlich auch fest davon überzeugt, dass z.B. links orientiert erzogene Kinder eine schlechtere Wahrnehmung, traditioneller Werte und ein initial deformiertes Geschlechterverständnis aufweisen; will sagen: Jede Erziehung verändert notwendig die Wahrnehmung.

Aber trotzdem wäre ich an Euren Gedanken zu dieser Erhebung interessiert. Habt ihr Beispiele, die diese These erhellen könnten? Oder Kritik an der Studie (leider nicht im Original einsehbar)?
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Vollbreit » Di 5. Aug 2014, 23:42

Im Grunde kennst Du die Antwort selbst sehr gut.
Statistische Untersuchungen auf der Basis von 66 Personen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon ujmp » Mi 6. Aug 2014, 06:38

Ich kann die Anekdote beisteuern, dass ich mal einem christlichen Freund gegenüber argumentiert habe, dass er eben so gut Schneewittchen für real halten könne und er geantwortet hat: "Ja, das tue ich auch"... da war er grad schwer in der Bredouille.

Es ist jedenfalls keine falsche Einschätzung, dass in der Religion Realität keine übergeordnete Rolle spielt, es ist nahezu durchweg Norm- und Wunschdenken. Prinzipiell find ich dagegen nichts einzuwenden, nur sind halt die Versuche, so was als "Suche nach Wahrheit" oder "Erkenntnis" hinzustellen, nervig. Die Sprachverwirrung, die Religionen und Ideologien auf diese Weise anrichten, sind vielleicht der größte Schaden.
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon xander1 » Mi 6. Aug 2014, 10:48

zu monotheistischer Religion gehören auch noch so weiterer Glauben der indirekt mit einem Gott oder mit Schicksal zu tun hat, wie z.B. der Glaube an ausgleichende Gerechtigkeit.

Das heiß wenn einer böse war und der andere lieb, dann wird dem bösen durch das schicksal irgendwas zustoßen und dem lieben wird irgendwann was gutes widerfahren.

Ich selbst erwische mich manchmal noch so einen Unsinn zu glauben oder vermuten im Schicksal. Aber das wird auf meine Kindliche Prägung zurückzuführen sein, wo ich wenige Jahre zur Christenlehre gegangen bin.

Monotheisten sind i.d.R. gegen Esoterik, aber solche Art der Esoterik wie ich gerade beschrieben habe gibts da.
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Vollbreit » Mi 6. Aug 2014, 13:47

@ Zappa:

Unabhängig davon, dass die Studie keine Aussagekraft hat, ist das Klischee natürlich denkbar. Man muss nur aufpassen, nicht alle Vorurteile treffen immer zu.
Leute mit vielen Kontakten in sozialen Medien sind keine vereinsamten Stubenhocker und so weiter.

Man kann das Thema aber m.E. dennoch fruchtbar machen, indem man fragt, ob es denn schlecht wäre, wenn die These stimmte.
Klar, auf den ersten Blick ist die Sache eindeutig: Den Tisch, den Baum, den Stuhl gibt es, Schneewittchen, Schutzengel und das Paradies gibt es nicht.

Die Diskussion ist in der Welt und wird gerade an vielen Ecken geführt. Ob Thomas Nagel (Philosoph, was ich gehört habe, hat mich nicht umgehauen), Markus Gabriel (Philosoph, kenne ich nur in Auszügen, etwas wirr, aber mit einigen brauchbaren Argumenten), Daniel Kahneman (Kognitionspsychologe, „Schnelles Denken, langsames Denken“, super Ding, unbedingt zu empfehlen, gerade auch für Wirtschaftsinteressierte) oder Douglas Hofstadter und Emmauel Sander (Kognitionspsychologen, „Die Analogie“, bin ich bei, bisher sehr gut.)
Was ist Realität oder deren richtige Wahrnehmung?
Geht das überhaupt?
Gibt es präzise Welt-Begriff Entsprechungen?
Was ist Existenz (wie breit oder eng darf man sie definieren)?

Könnte ergiebig sein und mein Argument geht in die Richtung, dasss man längst nicht bei so vielen Aspekten, wie man meint sagen kann, was nun „der Fall ist“ = Tatsache = Fakt, wie man es meint.

Wenn Du Lust hast, kannst Du ja irgendwo anbeißen.
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Zappa » Mi 6. Aug 2014, 18:13

Vollbreit hat geschrieben:Statistische Untersuchungen auf der Basis von 66 Personen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.

Naja, ich würde sagen sie sind allenfalls mit einer ähnlich gut designten Studie ab n = 67 widerlegbar :mg:
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Zappa » Mi 6. Aug 2014, 18:36

Vollbreit hat geschrieben: Wenn Du Lust hast, kannst Du ja irgendwo anbeißen.

OK. Nagel, Gabriel und Kahneman hab ich gelesen (Zweiteren* und Letzteren kann auch ich sehr empfehlen) - nur leider begreif ich nicht immer alles und vergesse auch viel, deswegen machen Diskussionen über das Thema immer auch für mich Sinn. Die Frage ist, ob damit die Diskussion nicht etwas zu hoch aufgehängt wird? Natürlich kann man darüber diskutieren, was DIE REALITÄT, DIE WELT, DIE WAHRNEHMUNG ist. Meine Antwort auf die Frage ist, dass die Begriffe mit den großen Anfangsbuchstaben weder gültig definierbar, noch besonders nützlich sind.

Die Studie untersucht doch eigentlich ein anderes Setting: Kinder mit welchem Erziehungshintergrund sind in der Lage nach allgemeinem Wissensstand offensichtlich fiktive Geschichten (Aschenputtel, Weihnachtsmann etc.) auch als solche zu erkennen? Nun sind die Probandenzahlen nicht besonders hoch, für psychologische Studien aber gar nicht mal so schlecht, gell? Aber es bringt doch nun wirklich nichts, die Studie mit dem Ansatz "was wäre, wenn diese Entitäten wirklich existierten oder theoretisch existieren könnten" zu kritisieren; das macht für mich wenig Sinn.

Das Ergebnis, dass religiös erzogene Kinder damit größere Probleme haben ist für mich interessant - mehr erst mal nicht. Ich will das weder moralisch noch sonst wie irgendwie (über)bewerten und was Ursache und was Wirkung ist, ist ja längst nicht klar. Vielleicht sind Kinder mit mehr Phantasie tendenziell eher bereit übernatürliche und/oder ungewöhnliche Erklärungsmuster zu akzeptieren? Vielleicht ist das sogar gut für die kindliche Entwicklung (ich erinnere mich selber an eine Phase wüster Phantasiegeschichte, die immer wieder in meine Realität einbrachen bis ich hemmungslos flunkerte und phantasierte)?

Allerdings machen mich Erwachsene mit solch einer Phantasie immer etwas nervös (Chemtrails, Lichtwesen, Handystrahlung - you name it) und ich halte dieses Verhalten durchaus ab einem gewissen Grad für (psycho)pathologisch. Ich denke, irgendwann muss man sich ein Repertoire an einigermaßen begründbare Fakten und an anerkannte Methoden der Erkenntnisgewinnung zulegen. Dazu gehört die Eindämmung der Phantasie auf ihr Refugium und ansonsten möglichst reduktionistisch-rationelle Ansätze (ich weiß wir sind da im Dissens).

*Kann man das so sagen?
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Vollbreit » Mi 6. Aug 2014, 20:23

@ Zappa:

Zappa hat geschrieben:Nagel, Gabriel und Kahneman hab ich gelesen...

:gott:

Zappa hat geschrieben:Die Frage ist, ob damit die Diskussion nicht etwas zu hoch aufgehängt wird? Natürlich kann man darüber diskutieren, was DIE REALITÄT, DIE WELT, DIE WAHRNEHMUNG ist. Meine Antwort auf die Frage ist, dass die Begriffe mit den großen Anfangsbuchstaben weder gültig definierbar, noch besonders nützlich sind.

Das wäre dann das Thema des letzten Buches, die Antwort der Autoren stimmt mir Deiner überein.
Selbst scheinbar klare Begriffe sind alles andere als klar und eindeutig. Nicht nur "Wahrheit" oder "Sinn" auch "Tisch" oder "Vogel".

Das wirft natürlich auch Fragen bezüglich „der Realität“ auf.

Zappa hat geschrieben:Die Studie untersucht doch eigentlich ein anderes Setting: Kinder mit welchem Erziehungshintergrund sind in der Lage nach allgemeinem Wissensstand offensichtlich fiktive Geschichten (Aschenputtel, Weihnachtsmann etc.) auch als solche zu erkennen?

Naja, wenn Du Kahneman kennst: Der war es ja, der gesagt hat, dass man alles, was nicht repräsentativ ist in der Pfeife rauchen kann.
Die Nachfolgeuntersuchung bringt eine Regression zum Mittelwert und Du hast also eine Aussage wie: 9 von 10 Hausfrauen würden dieses Produkt ihrer Freundin empfehlen.

Zappa hat geschrieben:Nun sind die Probandenzahlen nicht besonders hoch, für psychologische Studien aber gar nicht mal so schlecht, gell?
Kahneman ist ja Psychologe und sagt: In die Tonne.

Zappa hat geschrieben:Aber es bringt doch nun wirklich nichts, die Studie mit dem Ansatz "was wäre, wenn diese Entitäten wirklich existierten oder theoretisch existieren könnten" zu kritisieren; das macht für mich wenig Sinn.
Das soll doch keine Kritik sein, nur ein Spiel, eine Überlegung.
Kann durchaus sein, dass der Befund stimmt, man kann es nur einfach auf der Basis nicht sagen. Kleine Mengen sagen nichts aus.
Dass bei einem Würfel fünf mal hintereinander die 6 kommt ist nicht unwahrscheinlicher als die Folge 1, 4, 5, 5, 2 auch wenn es intuitiv so scheint. So ist das hier auch.
Das Buch ist ja voll mit der Illustration gerade solcher und anderer Fehler, sogar bei Statistikexperten, so dass der Blick auf Studiendesign hier schon völlig nachrangig ist.

Zappa hat geschrieben:Das Ergebnis, dass religiös erzogene Kinder damit größere Probleme haben ist für mich interessant - mehr erst mal nicht.
Ja, nur stimmt die Aussage einfach nicht. Bei einer Gruppe von 66 haben Evangelen auch mehr Zahnbelag und Maschienenschlosser mehr karrierte Hemden und Rollstuhlfahrer mehr rote Schnürsenkel.... ist nur halt nichts wert.
Mein privater Tipp ist aber: Könnte durchaus sein.

Zappa hat geschrieben:Ich will das weder moralisch noch sonst wie irgendwie (über)bewerten und was Ursache und was Wirkung ist, ist ja längst nicht klar.

Die Frage nach Ursache und Wirkung stellt sich hier noch gar nicht, weil es nichts gibt, wonach man suhen müsste. Das ist es, was ich sagen will, mit Kahneman.

Zappa hat geschrieben:Vielleicht sind Kinder mit mehr Phantasie tendenziell eher bereit übernatürliche und/oder ungewöhnliche Erklärungsmuster zu akzeptieren? Vielleicht ist das sogar gut für die kindliche Entwicklung (ich erinnere mich selber an eine Phase wüster Phantasiegeschichte, die immer wieder in meine Realität einbrachen bis ich hemmungslos flunkerte und phantasierte)?
Ja, das ist es was ich anregen wollte.
Weniger Phantasie = (oder ist das gar nicht gleich?) mehr in der Realität verhaftet, ist nicht zwingend ein Vorteil.
Das ist im Grunde ein altes Dogma von Freud, dass alle nachahmen, auch die, die Freud offiziell gar nicht mögen (dürfen).

Zappa hat geschrieben:Allerdings machen mich Erwachsene mit solch einer Phantasie immer etwas nervös (Chemtrails, Lichtwesen, Handystrahlung - you name it) und ich halte dieses Verhalten durchaus ab einem gewissen Grad für (psycho)pathologisch.
Jaaeein. Ist sicher etwas paranoid, aber bestimmte Rituale der Gesundheit dienen schon dazu Spannungen abzubauen, auch wenn sie inhaltlich Quatsch sind. Grober oder vom Mainstream abseitiger Quatsch fällt halt auf, aber wenn Du heute sagst, dass Du ab 18:00 Uhr keine Kohlenhydrate mehr isst, schlägt sich auch keiner vor Lachen auf die Schenkel.

Zappa hat geschrieben:Ich denke, irgendwann muss man sich ein Repertoire an einigermaßen begründbare Fakten und an anerkannte Methoden der Erkenntnisgewinnung zulegen. Dazu gehört die Eindämmung der Phantasie auf ihr Refugium und ansonsten möglichst reduktionistisch-rationelle Ansätze (ich weiß wir sind da im Dissens).

NIicht total. Ich denke, dass es halbwegs nachgewiesen ist, dass ein etwas eigener Weg und ein Selbstbild was nicht ganz der Realität entspricht – und wenn Du Kahneman erinnerst: Den Optimisten, auch den unbegründeten, haut im Grunde nichts um – eher ein Vorteil ist, aber es gibt auch in meinen Augen eine Grenze, die ich sogar halbwegs scharf definieren kann. Wenn das Selbstbild zu sehr von der sozialen Realität abweicht, muss man, um sein Selbstbild aufrecht zu erhalten, sich immer mehr erhöhen und die Kluft zwischen Selbstbild und Wirklichkeit wird immer größer, die Konflikte immer chronsicher und weitreichender und das hat so einen Teufelskreiseffekt.

Alle Berufenen, seien es Wissenschaftler, Dichter, Theaterdarsteller, Philosophen aus Leidenschaft... Künstler, Exzentriker und Mystiker sind die, zu denen wir diesbezüglich aufschauen können. (Theaterregisseur Neuenfels sagte mal, er würde sofort abtreten, wenn ihm sein Blutdruck wichtiger sei als ein Vers von Kleist.) Ich glaube brennen ist besser als spötteln, so als charakterliche Grundkonstitution. Brennen kann durchaus still geschehen. Von Eberhard Trumler, einem großen Ethologen und Lorenzschüler ist überliefert, dass er stundenlang im Winter still vor einem Terrarium saß und weder merkte, dass es dunkel wurde, noch die Heizung ausging. Der brannte in aller Stille, wenn man das so sagen kann, auch wenn der Mut eines Alexander von Humboldt eine ebenfalls leuchtende Seite ist, der hat ja bei schwächlicher Konstitution so nebenbei sportliche Höchstleistungen im Namen der Wissenschaft vollbracht.

Zappa hat geschrieben:*Kann man das so sagen?
Glaub ja.
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Jounk33 » Di 26. Aug 2014, 19:31

Also ich bin ja nicht so belesen. Wenn ich aber jemanden zu dem Thema mit in die Waagschale legen will, dann ist es Fromm.
Mich hat an Fromm immer so fasziniert wie der seine Thesen teilweise mit spirituellen Denkanstösse untermauerte ohne dabei in eine Religion abzudriften.

Was ich damit sagen will. Wir Menschen leben in der Realität die wir uns durch spirituelle Kräfte erdenken.
Also ich denke, wir Menschen können das Sein aus dem Nichtsein holen, es ist aber in eine Frage des Glaubens, an was wir glauben und wie und was wir damit erreichen wollen.
Damit meine ich jetzt nicht den Einzelgeist, den Individualisten, der sich seine Welt zusammen spinnt. nein, damit ist das gemeint was die Individuen verbindet, das was ein Zusammenleben möglich macht und am Ende das wie dieses Zusammenleben auf den ganzen Kosmos sich auswirkt.

Die Pyramiden stehen zum Beispiel nur deshalb weil jeder das Wohl des Pharaoh im Dies und Jenseits mit seinem eigenen Schicksal verknüpfte. sprich, weil jeder an etwas glaubte war es möglich diesen Glauben zu einer Wahrheit zu manifestieren und dadurch sogar die Geographie zu verändern.

Wenn wir es so sehen so haben wir heute mit dem Geldsystem etwas was nur funktioniert weil jeder an den Wert von bedruckten Papier glaubt und nur anhand dessen unglaubliche Projekte real werden. Also Architekuren z.B. die sich vorher ein geist erdacht hat, wird anhand des Glaubens an Buchgeld erst real.

Von daher frage ich mich weshalb es z.B. so schlecht sein soll an Aschenputtel zu glauben.
Wenn die Mehrheit an Aschenputtel glauben würde, dann wäre eventuell die Welt deswegen sogar besser.
Ich stelle mir eine Welt ohne Glauben sehr problematisch vor, sehr wahrscheinlich wurde auch dann die Enthumanisierung bereits vollzogen, also die Vorstellung der Mensch-Maschine wurde Realität und somit auch das Ende aller Träume, Vorstellungen, Phantasie, Wünsche, Hoffnung und das Ende jeden Glaubens. Ein gutes wird es haben, es wird auch das Ende aller Lügen sein.
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Re: Stört religiöse Erziehung die Realitätswahrnehmung?

Beitragvon Lumen » Di 26. Aug 2014, 21:35

Zappa hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben: Wenn Du Lust hast, kannst Du ja irgendwo anbeißen.

OK. Nagel, Gabriel und Kahneman hab ich gelesen (Zweiteren* und Letzteren kann auch ich sehr empfehlen) - nur leider begreif ich nicht immer alles und vergesse auch viel, deswegen machen Diskussionen über das Thema immer auch für mich Sinn. Die Frage ist, ob damit die Diskussion nicht etwas zu hoch aufgehängt wird? Natürlich kann man darüber diskutieren, was DIE REALITÄT, DIE WELT, DIE WAHRNEHMUNG ist. Meine Antwort auf die Frage ist, dass die Begriffe mit den großen Anfangsbuchstaben weder gültig definierbar, noch besonders nützlich sind.


Diese Fragen sind fast nie nützlich, außer in wenigen Spezialfällen und selbst da ist es mittlerweile möglich praktikable wie fundierte Antworten zu geben. In der Philosophie oder bei Ken Wilber, Deepak Chopra und wie die Woo-Meister alle heißen, wird man aber nicht fündig. Linguisten, Kognitionswissenschaft, und nahestehende Psychologen sind ein deutlich besserer Ansprechpartner. Kahnemann zum Beispiel fällt unüberaschenderweise in diesen Bereich. Ich würde natürlich immer Steven Pinker empfehlen, dessen Bücher trotz Woo-anfälliger Themen (Denken, Sprache, Bewusstsein, Gefühle...) sehr schön geerdet sind. Das ist eben kein Bullshitter, der sich in nebulösen Wolken verliert, sondern jemand der in seinem nächsten Pflichtbuch gerade dazu anleitet, möglichst klar und zugänglich zu schreiben.

Zappa hat geschrieben:Die Studie untersucht doch eigentlich ein anderes Setting: Kinder mit welchem Erziehungshintergrund sind in der Lage nach allgemeinem Wissensstand offensichtlich fiktive Geschichten (Aschenputtel, Weihnachtsmann etc.) auch als solche zu erkennen? Nun sind die Probandenzahlen nicht besonders hoch, für psychologische Studien aber gar nicht mal so schlecht, gell? Aber es bringt doch nun wirklich nichts, die Studie mit dem Ansatz "was wäre, wenn diese Entitäten wirklich existierten oder theoretisch existieren könnten" zu kritisieren; das macht für mich wenig Sinn.


Die Realitätswahrnehmung selbst ist wahrscheinlich nicht beeinträchtigt, gleichwohl entwickeln wir Intuitionen, die es möglich machen, etwas “realistisch” einzuschätzen. Manchmal tauchen Begriffe wie “Volkspsychologie” oder “naïve Physik” auf, die meinen, dass jeder ein gewisses Grundverständnis entwickelt wie die Welt funktioniert. Wenn Kinder mit der Idee aufwachsen, dass z.B. Wunder ein regulärer Bestandteil der Welt sind, dann wird es ihnen schwer fallen, bestimmte Fiktionen auszusieben, weil ihnen eine vernünftige Einschätzung fehlt, was “plausibel” ist.

Zappa hat geschrieben:Das Ergebnis, dass religiös erzogene Kinder damit größere Probleme haben ist für mich interessant - mehr erst mal nicht. Ich will das weder moralisch noch sonst wie irgendwie (über)bewerten und was Ursache und was Wirkung ist, ist ja längst nicht klar. Vielleicht sind Kinder mit mehr Phantasie tendenziell eher bereit übernatürliche und/oder ungewöhnliche Erklärungsmuster zu akzeptieren? Vielleicht ist das sogar gut für die kindliche Entwicklung (ich erinnere mich selber an eine Phase wüster Phantasiegeschichte, die immer wieder in meine Realität einbrachen bis ich hemmungslos flunkerte und phantasierte)?

Allerdings machen mich Erwachsene mit solch einer Phantasie immer etwas nervös (Chemtrails, Lichtwesen, Handystrahlung - you name it) und ich halte dieses Verhalten durchaus ab einem gewissen Grad für (psycho)pathologisch. Ich denke, irgendwann muss man sich ein Repertoire an einigermaßen begründbare Fakten und an anerkannte Methoden der Erkenntnisgewinnung zulegen. Dazu gehört die Eindämmung der Phantasie auf ihr Refugium und ansonsten möglichst reduktionistisch-rationelle Ansätze (ich weiß wir sind da im Dissens).

*Kann man das so sagen?


Ein großer Teil des Problems ist am Ende die Fähigkeit kritisch zu denken, die neben den richtigen Eingangsdaten (z.B. der Intuitionen) noch voraussetzt, dass derjenige Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeiten halbwegs realistisch einschätzen kann. Auch das wird, nehme ich an, von dem Wissen von der Welt feinjustiert. Gerade gestern kamen Dokumentationen zu verschiedenen Verschwörungstheorien, unter anderem 9/11. Es wurde daran schon recht deutlich, dass es einerseits bestimmte Denkmuster gibt, die alle gemeinsam haben, aber ein weiterer Teil durch (mangelndes) Wissen gespeist wird. Es fällt auch auf, dass vielleicht der Wert, quasi naturgemäß eine elegante Lösung finden zu wollen (d.h. Ockham's Rasiermesser) teils nicht vorhanden ist. Auch das kann davon herrühren, wenn reich ornamentierte Märchengeschichten als wahr angenommen werden. Sie sind einerseits zentral und wichtig, dann aber verletzten sie eine Grundregel nach sonst anscheinend fast alles sonst funktioniert.

Die 9/11 Truther glauben zum Beispiel in Verschwörungen, die es erfordern, dass Tausende eingeweiht wurden, die dann auch noch alle irgendwie bereit waren mitzumachen. Wenn ich z.B. die Prämisse akzeptiere, dass die US Regierung den Anschlag selbst verübt hat, dann wäre die einfachste Lösung die, wonach die Attentäter Agenten waren. Dann wäre der nächste Schritt, anzunehmen, die Regierung hätte die Attentäter unter falschem Vorschein angeworben (d.h. deep cover als arabische Fürsten ausgeben usw), gefolgt von sie habe die Umstände beeinflusst, sodass die Attentäter sich gründen konnten und haben deren Bestreben heimlich befördert usw. oder in der Minimalvariante davon gewusst und die Attentate nicht behindert. Verschwörungstheoretikern arbeiten genau andersherum: Wenn eine Behauptung unplausibel wird, dann wird nicht die Behauptung fallen gelassen, sondern neuer Krempel als Stützgerüst drumherumgebaut. Auffällig ist auch, dass diese Theorien häufig nicht einmal in sich selbst stimmig sind, was das Resultat ist, wenn sehr viel Krempel zum stützen eingebaut wird, was seinerseits begründet werden will.

Hier wird vielleicht deutlich, dass den Leuten ein Gefühl dafür fehlt, dass alles mit allem zusammenhängt. Sie denken, man kann einfach irgendwo was einbauen und das habe dann keine Auswirkungen. Weit gefehlt, natürlich. Manchen Religiösen kann man neben der Einzelkritik oft auch vorhalten, dass sie kein Gespür dafür haben, dass man z.B. nicht einfach das Alter der Erde mir-nichts-dir-nichts um ein paar Milliarden kürzen kann, damit ihre heilige Schrift irgendwie noch hinkommt. Die denken, man kann manche Sachen selektiv ablehnen und das habe dann keine Auswirkungen, was wieder einerseits mangelndes Wissen anzeigt, zum anderen das Verständnis für die Integrität und Konsistenz der Welt. Und da könnte der Glaube an Mirakel schon eine große Rolle spielen, den damit lassen sich die entstehenden Löcher im Kontinuum dann stopfen.

Letztlich gibt es Gemeinsamkeiten mit religiösem Glauben in der Hinsicht, dass diese Sichtweisen oft inkonsistent sind und quasi wie ein Necker-Würfel funktionieren. Es gibt zwei oder mehr in sich verschränkte Sichtweisen oder Interpretationen, und der Betreffende schaltet unbewusst zwischen ihnen hin- und her. Dadurch entsteht ein Eindruck eines Sachverhalts der in einer Schwebe gehalten wird, mit dem sich der Verstand ewig befassen kann, wie eine Endlosschleife in einem Computerprogramm, die man nur durch externe Unterbrechung stoppen kann. Sie ist aber nie wirklich kohärent greifbar. Hat man früh eine gewisse geistige Hygiene gelernt, wird man automatisch “joosten” wie Dan Dennett den Vorgang nennt, aus einem System auszubrechen und sozusagen von der übergeordneten Ebene reinzugucken. Das sind dann Fragen wie “was bedeutet das eigentlich konkret?” (verhindert, dass man sich an sinnlosen Wortspielen aufhängt), oder “woher kann man das wissen?” (verhindert, dass beliebiger Bullshit geglaubt wird). Als Beispiel bei den Religionen finden wir sowas wie die Dreifaltigkeit, oder z.B. das Jesus in den Himmel aufgefahren ist. Jemand mit einem wachen Verstand möchte wissen, was das konkret meint. Meint das, das Jesus in den Himmel geflogen ist, quasi wie ein Vogel? Oder meint das, dass Jesus sich dematerialisiert hat, und etwa wie Obi Wan Kenobi sich in Luft aufgelöst hat? D.h. es muss einen Hang dazu geben, konkret verstehen zu wollen, was etwas bedeutet, statt es nur als nebulöse Idee zu akzeptieren wie das bei Bullshittern der Fall ist.

Im Kontrast dazu z.B. Pinker der sich Gedanken dazu macht, was konkret Schamgefühl, Ehre und so weiter bedeuten. Hier kann man auch Richard Feynman anführen, der sehr klar Wissen und Benennen unterscheidet und dem man es anhört, dass er jemand ist, der trotz hochabstrakter Systeme letztlich ein genauen Kompass dafür hat, was er vor sich hat und was er davon konkret weiss. Er wusste das seine Diagramme letztlich Spiele sind, die aber, wenn sie nach den Regeln durchgeführt werden, zu Ergebnissen führen, die nachprüfbar sind, obwohl er selbst angab, dass er nicht wisse, was das genau bedeutet.

Da ich kürzlich Harry Frankfurt gelesen habe, möchte ich das hier auch noch anfügen: Harry Frankfurt's On Bullshit. Darin behauptet er, dass es neben der Wahrheit und der Lüge noch die Kategorie Bullshit gibt, die sich dadurch auszeichnet, dass der Behaupter kein Interesse daran hat, auf die Welt zu rekurrieren, sondern seine “eigene Wahrheit” entfalten möchte. Wobei am Ende natürlich nichts letztendlich wahr ist, weil das Universum keine Glocke läutet, wenn jemand die richtige Lösung formuliert hat.

Ein paar Quotes zu Bullshit.

“The contemporary proliferation of bullshit also has deeper sources, in various forms of skepticism which deny that we can have any reliable access to an objective reality and which therefore reject the possibility of knowing how things truly are. These "anti-realist" doctrines undermine confidence in the value of disinterested efforts to determine what is true and what is false, and even in the intelligibility of the notion of objective inquiry. One response to this loss of confidence has been a retreat from the discipline required by dedication to the ideal of correctness to a quite different sort of discipline, which is imposed by pursuit of an alternative ideal of sincerity. Rather than seeking primarily to arrive at accurate representations of a common world, the individual turns toward trying to provide honest representations of himself. Convinced that reality has no inherent nature, which he might hope to identify as the truth about things, he devotes himself to being true to his own nature. It is as though he decides that since it makes no sense to try to be true to the facts, he must therefore try instead to be true to himself.”


Wobei hier statt "himself", eine identitätsstiftende Religion stehen kann.

“It is impossible for someone to lie unless he thinks he knows the truth. Producing bullshit requires no such conviction.”


Und auch das grenzt die andere Seite treffend ein:
“After all, every use of language without exception has some, if not all, of the characteristic features of lies.”
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