xander1 hat geschrieben:Die Rolle von Liebe und Verliebtheit in der Evolution würde mich doch mal brennend interessieren. Könnte es nicht sein, dass sich 2 Menschen ineinander verlieben, ohne dass sie sich vorher gefallen wollen und dann ein Kind zeugen, ohne dass sie sich bemüht haben sich zu gefallen? Das gleiche gilt für sexuelle Anziehung. Müsste es nicht ein Gefallen sein, anstelle einem Gefallen-Wollen? Das Wollen impliziert ja eine Absicht, die dahinter ist, und man nur erspekulieren kann.
Nein. Mit dem Wort Gefallen-wollen wird die Art und Weise der Ressourcenerlangung verstanden. Bezieht man es auf die Fortpflanzung, dann ist die Frau aus männlicher Sicht eine Ressource, die man befruchten kann, dann aber die Fortpflanzungsarbeit mehr oder weniger autonom erledigt.
Vergewaltigt der Mann die Frau (er nimmt keine Rücksicht auf ihre „Selektionsinteressen“), dann ist das gemäß Mersch eine dominante Kommunikation. Sie ist in der Natur bei der Nahrungserlangung üblich: Der Löwe fragt das Zebra vorher nicht, ob er es fressen darf.
Wartet der Mann dagegen ihre explizite Zustimmung ab (egal ob er ihr gefallen ‚wollte’ oder von vornherein bereits ‚gefiel’), dann ist das Gefallen-wollen-Kommunikation. In diesem Fall ‚selektiert’ der Ressourceninhaber, nämlich die Frau.
In menschlichen Gesellschaften kommt es speziell bei langfristigen Bindungen meist zu einer beiderseitigen Selektion, speziell wenn es um Kinder gehen könnte, da in diesem Fall auch der Mann eine Ressource darstellt, nämlich einmal durch seine Gene (die Frau wäre also z. B. an besonders fitten Genen interessiert, weil die gut für ihre Kinder sein können), das andere Mal durch sein Geld (die Fähigkeit, sie fortlaufend mit Ressourcen zu beliefern, während sie das Kind austrägt).
Thomas Junker diskutiert z.B. in seinem Buch „Der Darwin-Code“ die Frage, warum Frauen schön sind bzw. sich schön machen, weil das in der Natur eher ungewöhnlich ist, da es dort meist ausschließlich die Männchen sind, die den Sexualschmuck tragen. Die einzige sinnvolle Erklärung scheint zu sein, dass es praktisch von Anbeginn der Menschheit zu festen Paarbindungen kam, und dabei auch die Männer sehr wählerisch wurden (wie das noch heute feststellbar ist). Die Frauen versuchten ihnen dann zu gefallen. Es kam also zu einer beiderseitigen Gefallen-wollen-Kommunikation.
xander1 hat geschrieben:Und dann würde ich noch gerne wissen, was hinter dem Gefallen steckt. Wieso um alles in der Welt soll sich die Evolution um Gefallen drehen, sozusagen. Mag ja so sein, aber das scheint dann so als sei Gefallen ein Großes Prinzip, und dieses müsste einen Zweck haben und nach Mustern ablaufen, quasi nach Algorithmen und man müsste viel ergründen können über das Gefallen. Das wirft die Frage nach der Beurteilung nach sich und ob denn alles Urteil nach Gefallen ist.
Hinter dem Gefallen stecken die beiden Grundkräfte der Evolution, nämlich Selbsterhalt und Reproduktion. Lebewesen (bzw. gemäß Mersch alle evolutionsfähigen Akteure, zu denen er auch Unternehmen zählt) sind darum bestrebt, sich zu reproduzieren. Sagen wir es einfach: sie sind so programmiert, dies ganz häufig, ggf. auch nur zu bestimmten Jahreszeiten oder in einem bestimmten Lebensalter, anzustreben. Wenn also z. B. die Brunftzeit ist, dann versuchen sie sich fortzupflanzen: sie streben danach, sie „wollen“ es. Mersch sagt dazu: Die Individuen besitzen ein Reproduktionsinteresse, worunter er aber bei sehr einfachen Lebewesen auch Automatismen subsummiert. Der Begriff ist nicht psychologisch zu verstehen.
Bei der getrenntgeschlechtlichen Fortpflanzung drückt sich dieses Reproduktionsinteresse zunächst in einem Paarungsinteresse aus: Die Individuen streben nach Paarung, sie möchten Sex haben. Dank Pille ist dem Menschen die Trennung von Paarungs- und Reproduktionsinteresse gelungen, und nun sieht man, dass das Reproduktionsinteresse allein wohl zu schwach ist, um eine ausreichende Fortpflanzung zu bewirken. Nun müssen möglicherweise weitere ökonomische Anreize hinzu kommen.
Bevor es zur Paarung kommt, müssen sich die potenziellen Partner einig werden. Das kann durch Dominanz geschehen (Vergewaltigung oder Haremsbildung – in diesem Fall besitzt das Männchen das Weibchen und letzteres hat keine Wahl), oder aber die beiden Partner einigen sich durch beiderseitige Zustimmung. Das nennt Mersch die Gefallen-wollen-Kommunikation, weil sich hier eine oder beide Seiten darum bemühen, das Gefallen (die freiwillige Zustimmung) der anderen Seite zu finden.
Tatsächlich läuft das Gefallen in der Natur sogar nach Mustern ab. Da ist das Balzverhalten, die Brunft, und dann gibt es noch den Sexualschmuck, an dem die Weibchen vieler Arten die Fitness etwaiger Interessenten ablesen. Findet der Gesang eines Vogelmännchens etwa das Gefallen mehrerer Weibchen (die Weibchen erkennen an der Art und Stärke seines Gesangs, wie fit es ist), dann kann es sich möglicherweise besonders häufig fortpflanzen, da es besonders oft gefallen hat.
Mersch betont in seiner Begrifflichkeit jedoch auch stets das „wollen“. Er macht damit deutlich, dass sich die Männchen bei den Weibchen ungefragt melden, um sie zu bezirzen. Das Vogelmännchen, was die tollste Melodie aller Zeiten singen kann und in diesem Sinne also super-fit ist, wird sich nicht fortpflanzen können, wenn es damit nicht auch gefallen „will“, sondern eher die Einstellung hat: „Diese ganzen Weiber sind es nicht wert, meine Melodien zu hören. Ich singe ausschließlich für die Hirsche des Waldes.“ Mit anderen Worten: Evolution ist tatsächlich ein akteursbasierter Prozess. Evolution ist aktiv. Sie würde ohne Eigeninteressen verfolgende Individuen nicht in die Gänge kommen, weswegen es gemäß ihm beispielsweise keine Memetik geben kann.
Mersch wies bei einer Diskussion auf Amazon unlängst selbst noch einmal auf die üblichen Darstellungen der Selektionsmechanismen hin, z. B. wie man sie auf
Wikipedia: Selektionnachlesen kann. Das ist im Vergleich zu seiner Darstellung eigentlich schon fast wirres Zeug. Es ist wirklich unglaublich, wie dort mit den Begriffen hantiert wird. Bei der künstlichen Selektion existiert ein externer Schöpfer. In dem Sinne ist das also gar keine eigendynamische Evolution. Als IDler könnte man die ganze natürliche Selektion so auffassen: Hin und wieder kommt es zu einer Selektion durch Gott.
Dann die Unterscheidung zwischen natürlicher und sexueller Selektion: Bei der sexuellen Selektion geht es um die Erlangung einer Ressource, und zwar per Gefallen-wollen. Die Weibchen selektieren dabei denjenigen, der die Ressource bekommen soll. Dies beschreibt einen einmaligen Selektionsvorgang, der etwas ganz anderes ist, als die natürliche Selektion, bei der es sich um den Lebenszeitfortpflanzungserfolg dreht.
Mersch reduziert den Begriff der Selektion zunächst auf die Selektion beim Zugriff auf Ressourcen, und damit bekommt die Evolutionstheorie m. E. endlich die Klarheit und Stringenz, die sie benötigt, um allgemein akzeptiert zu werden.