Dissidenkt hat geschrieben:Vergegenwärtige dir bitte mal die jüngere deutsche Geschichte und die massenhafte Indoktrination in der NS-, DDR und auch der BRD-Gesellschaft! Es gab und gibt in Deutschland Berufsverbote gegen politisch unliebsame Lehrer. Erst vor wenigen Monaten musste sich ein Hesse mit herausragenden Zensuren in den Schuldienst klagen, weil man ihn wegen seines antifaschistischen Engagements dort nicht haben wollte. ich habe persönlich während meiner Zivi-Zeit höchstengagierte Jugendarbeiter kennen gelernt, die Berufsverbote hatten und sich mit Jobs durchschlagen mussten und das waren keine Taliban oder Kinderschänder, wie man sie bevorzugt an staatlich-kirchlichen Schulen findet.
Godwin's Law?
Zuerstmal: Ich kenne die Einzelfälle nicht, aber immerhin besteht ja hier die Möglichkeit, diese öffentlich zu thematisieren und dadurch möglicherweise eine Änderung herbeizuführen. Prinzipiell befürworte ich auch, dass Menschen mit radikalen politischen Meinungen aus bestimmten Berufen ferngehalten werden, wobei ich damit nicht sage, dass das auf o.g. Fälle zutrifft.
Indoktrination funktioniert in gleichgeschalteten Gesellschaften, nicht aber in einer offenen und pluralen Gesellschaft. Dass Deutschland nicht das Nonplusultra dafür ist, behaupte ich gar nicht, aber die Situation halte ich längst nicht für derart katastrophal, wie du sie darstellst.
Du kannst zwar sehr schön Einzelfälle zitieren, die demonstrieren, dass es Fehlentwicklungen gibt, aber worauf ich warte, ist, dass du mir prinzipiell aufzeigst, warum Heimunterricht dem Ziel, dass JEDES Kind sich frei entfalten kann, dienlicher ist, als staatlicher Unterricht, der im Gegensatz zu ersterer Unterrichtsform öffentlich überwacht werden kann. Es heißt NICHT, dass jeder staatliche Unterricht dazu geeignet ist.
Ich behaupte lediglich, dass bestimmte Formen des staatlichen Unterrichts dazu geeignet sind, aber keinerlei Formen des Heimunterrichts. Daher müssen sich die Bemühungen auf eine Verbesserung des staatlichen Systems stützen und nicht unkontrollierbare Parallelsysteme etablieren.
Dissidenkt hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Heimunterricht, wie ihn die angesprochenen Eltern praktizieren, kommt einfach aus prinzipiellen Gründen nicht in Frage. Vielleicht sind wir da im Prinzip ja sogar einer Meinung?
Absolut nicht! Selbstverständlich müssen Eltern das Recht haben ihre Kinder selber zu unterrichten. Mit welchem Recht bildet sich ein Staat überhaupt ein, Kinder für viele Jahre zwangsweise in Erziehungslager zu stecken?
Der Staat muss ein Angebot machen Schüler zu unterrichten, ZWINGEN darf er nicht.
Wir sind doch nicht in Nordkorea!
Empörung ersetzt keine Argumente.
Wir könnten jetzt sehr viel über Staatstheorie, Gesellschaftsverträge usw. reden, aber kurz gesagt: Der Staat hat dieses Recht, weil es seine Grundaufgabe ist, ein geregeltes Zusammenleben zu sichern und zwar sinnvollerweise gewichtet nach der Maslowschen Bedürfnispyramide. Dazu müssen seine Mitglieder gewisse soziale Kompetenzen erwerben, sonst wird das System instabil. Jede soziale Gemeinschaft strebt nach einer gewissen inneren Konformität, nach geregelten sozialen Normen. Solche Normen sind immer ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen des Individuums und des Kollektivs.
Heimunterricht ist da aber die wesentlich schlechtere Alternative, denn, mal ehrlich, Eltern haben ein viel größeres Interesse, Kindern ihre ganz bestimmte Weltsicht aufzudrücken, als ein freiheitlich-demokratischer Staat bzw. seine Manifestation in einem Lehrerkollegium von 50 und mehr Personen. Eine demokratische Meinungsbildung lebt ja auch vom Streit und dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Lebensrealitäten, der kann aber erst gar nicht entstehen, wenn alle sich abschotten und schon als Kinder nicht mit Kindern aus Elternhäusern mit anderer Meinung zusammenkommen. Die staatliche Schule hat also prinzipiell die viel besseren Möglichkeiten, Individuen mit eigenständiger Meinung heranzuziehen, weil beim Heimunterricht Kontroversen gar nicht die ausreichende Grundlage haben, um überhaupt zu entstehen.
Der Staat - zumindest ein Staat wie die BRD muss diesen Anspruch haben - muss außerdem sicherstellen, dass seine Mitglieder sich im Rahmen der Möglichkeiten, die innerhalb des gesetzlichen Rahmens geboten werden können, frei und nach individueller Vorliebe entwickeln können. Nach eigener Vorliebe bedeutet nicht nach Vorliebe der Eltern!
Die Kinder sind nämlich als individuelle Menschen und nicht als halbmenschliche Anhängsel ihrer Erzeuger in erster Linie Staatsbürger und in zweiter Linie die Kinder ihrer Eltern, nicht andersherum! Der Staat als Insititution, die keinerlei persönliche Vorlieben für Einzelpersonen haben darf und alle seine Staatsbürger gleichermaßen schützen muss - zur Not auch vor den eigenen Eltern - hat daher das Recht, verbindliche Erziehungsstandards nach seinen Regeln in einem demokratischen Prozess und flankiert von Grundgesetz und Menschenrechten festzulegen. Das individuelle Entfaltungsrecht des Kindes wiegt viel höher als das Interesse der Eltern ihre Meinung auf die nächste Generation zu prägen.
Dies bedeutet, um jetzt konkret auf das Thema Schule zu kommen, dass ein Lehrkörper seinen Schülern keine Meinung aufzwingen darf, außer ein paar recht grundsätzlichen wie sozialen Spielregeln zu tolerantem Umgang miteinander, gewaltloser Konfliktlösung und Achtung der Freiheit der Anderen. Fang jetzt bitte nicht wieder an, mir zu erzählen, dass das an vielen deutschen Schulen nicht ausreichend praktiziert wird, ich hab's verstanden, aber ein Argument wird es dadurch immer noch nicht, weil es nicht das staatliche Unterrichtssystem, sondern nur bestimmte derzeit praktizierte Formen davon widerlegt, die ich nicht automatisch dadurch gutheiße, dass ich ein staatliches Schulsystem möchte. Das Heimschulsystem scheitert dagegen prinzipiell, weil es nicht öffentlich auf die Einhaltung dieser Zielvorstellungen zu überprüfen ist. Im staatlichen System muss das auch nicht passieren, aber es KANN und das ist der Knackpunkt.
Ich hätte auch noch ein paar Fragen:
- Woher kommt der Glaube, einmal "erfolgreich" Geschlechtsverkehr zu haben und ein Kind auf die Welt zu bringen, befähige dazu, selbiges auch erfolgreich zu erziehen?
- Woher kommt es, dass fast 40% der Homeschooler in den USA religiöse Gründe für den Heimunterricht angeben - und was bedeutet das letztlich für die Zukunft einer offenen, pluralen Gesellschaft? http://en.wikipedia.org/wiki/Homeschooling#Motivations
- Gibt es gerade in den USA eventuell einen Zusammenhang zwischen latentem Rassismus, religiösem Wahn und der Unfähigkeit weiter Teile der Öffentlichkeit, v.a. im Bible Belt, wo Homeschooling besonders verbreitet sein dürfte, wissenschaftliche Argumente in einer öffentlichen Debatte anzuerkennen?
- Hat eventuell die haarsträubende Ungebildetheit, gut illustrierbar an den Mehrheitsmeinungen in den USA zu Evolution oder kosmologischen Fragen, eventuell etwas damit zu tun, dass ungebildete Religiöse ihre Ideologie filterlos an die nächste Generation weitergeben können, was zusammengenommen mit der höheren Fertilität der Religiösen die Gefahr der Etablierung eines religiösen Meinungstotalitarismus auf Dauer ziemlich real erscheinen lässt?
- Wo dürfte die Gefahr eines solchen Meinungstotalitarismus größer sein: Im eher etatistischen und ziemlich bunten Berlin mit seinem verpflichtenden Ethikunterricht oder im eher religiösen, staatsfeindlichen Bible Belt mit Homeschooling? Wo wird man ein Kind eher seinen eigenen Weg gehen lassen bzw. wo wird das Kind überhaupt erst eher auf die Idee kommen, dass das möglich ist?
Und weil du auch was von Ständesystem erzählt hast: Heimunterricht lädt erst so richtig dazu ein, dass Milieus ihre eigenen privaten Schulsysteme entwickeln. Die Durchlässigkeit und soziale Mobilität in einer Gesellschaft wird ganz sicher nicht dadurch gefördert, dass man den Milieus, die es sich leisten können, Tür und Tor öffnet, sich durch eklusive Programme vom Rest der Gesellschaft abzuschotten. Es würde bedeuten, dass die Kinder aus ungebildeten Familien noch weniger mit anderen Gesellschaftsschichten in Berührung kommen. Wozu solche Parallelgesellschaften führen kann man beinahe jährlich z.B. in den Pariser Banlieus sehen (ja, Frankreich ist sehr etatistisch, was eben zeigt, dass staatliche Systeme nicht per se gut sind). (Flächendeckender) Heimunterricht wirkt nicht einem ständischen, feudalen System entgegen, sondern es etabliert sie.