smalonius hat geschrieben:Mein Argument ist: man sollte Hausunterricht nicht verbieten, nur weil es Mißbrauchen geben könnte, geben würde, und natürlich bereits gibt. Damit würde man auch die Gerechten mit den Übeltäter hängen. Nochmal zu meinem Ami-Zitat: wenn die beiden sagen, sie wollen selbst unterrichten - und es sind beides vernünftige, verständige, und gemäßigte Menschen - dann weiß ich nicht, mit welchem Recht es man ihnen verbieten kann.
Das Problem dabei ist, dass es kaum definierbar ist, wer nun "vernünftig, verständig und gemäßigt" ist und wer nicht. Eine solche Regelung öffnet der staatlichen Willkür eigentlich erst recht Tür und Tor, weil das Jugendamt letztlichnach Gutdünken entscheiden kann, wer zum Heimunterricht geeignet ist und wer nicht. Von einer öffentlich überwachten Ausbildung und Unterrichtsausübung der Lehrenden: keine Spur. Von den horrenden Kosten für Kontrollen und Gutachter wollen wir an der Stelle auch erst gar nicht mal anfangen. Bei einem Kind, das in den Kindergarten und die öffentliche Schule geht, wird physische und psychische Misshandlung statistisch wohl häufiger auffallen, als wenn es daheim abgeschottet wird und nur zu zwei bis vier zentralen Prüfungen pro Jahr antreten muss.
Zudem gibt es andere Gründe: Ein Kind braucht mehr als zwei Bezugspersonen, es lernt nicht, über seinen Tellerrand hinauszublicken und dabei möglicherweise eine alternative Zukunft zu finden, die für den eigenen Charakter besser geeignet ist, als das, was die Eltern vorgesehen haben, wenn es immer im Saft der eigenen Familie schwimmt. Es braucht, als Mitglied einer demokratischen Gesellschaft, außerdem auch Kontakt mit Menschen, die andere kulturelle, ökonomische und soziale Lebenshintergründe haben.
Ich kann mir gut vorstellen, dass das extreme Auseinanderdriften der Gesellschaft und die zunehmende Hysterisierung und Radikalisierung der öffentlichen Debatten, die wir in den USA beobachten, auch davon herrührt, dass manche Milieus es völlig verlernt oder nie gelernt haben, mit Menschen zu kommunizieren, die andere Kulturen pflegen. Das psychologische Paradox, dass Menschen am meisten vor dem Angst haben, was sie nicht kennen, ist ja hinlänglich bekannt. Heimunterricht dürfte ein guter Nährboden dafür sein, solche Komplexe an die nächste Generation zu vererben. Ich denke, wenn es öffentliche Schule UND private Erziehung gibt, dann ist das eine gute Machtteilung und auch ein guter Wettbewerb um die schlüssigeren Lebensentwürfe. Komisch, dass gerade die Liberalen so gerne ein Monopol in der Erziehung für die Eltern haben wollen, obwohl die doch sonst nichts von Monopolen halten.

smalonius hat geschrieben:Ein Kommentator meinte, Obamas Erlass sei ok, denn auch für Soldaten gelten die Bürgerrechte. Bei uns heißt es, für den Eingezogenen sind die Bürgerrechte vorübergehend aufgehoben.
Das Schwierige ist, dass Kinder eine gewisse Bevormundung brauchen. Das geht bei substantiellen Sachen wie "Iss die Tollkirsche nicht!" los bei denen wir uns alle einig sind, aber es wird schwierig, wenn wir in einen Bereich kommen, wo es letztlich darum geht, welche Art von Prägung wir dem Kind angedeihen lassen wollen und wem wir das Recht geben, darüber zu entscheiden.
Meiner Meinung nach ist es eben gerade ein Bürgerrecht, dass einem Kind die Freiheit gegeben wird, über seinen Lebensentwurf selbst zu entscheiden und ihn dann auch gezielt zu verfolgen. Dazu muss es aber mit solchen Lebensentwürfen in Berührung kommen. Mir ist klar, dass sich das schwer in einem Lehrplan festschreiben lässt, aber Eltern das als Aufgabe für den Heimunterricht zu übertragen spottet jedem Realismus. Wenn 40% der Eltern religiöse Gründe für Heimunterricht angeben (zweitgenannter Grund), dann dient Heimunterricht fast primär der Weitergabe geschlossener (totalitärer?) Weltbilder und das kann nicht das sein, was wir beide wollen.
Die Schulpflicht ist daher nötig, weil man nicht darauf bauen kann, dass Eltern die Bürgerrechte ihrer Kinder achten. Und der Knackpunkt ist und bleibt, dass öffentliche Schulen öffentlich kontrollierbar sind, während das mit privatem Heimunterricht einfach partout nicht geht.
smalonius hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Wenn der Lehrer in der Schule Mist baut gibt es Eltern von 25 Kindern, die sofort auf die Barrikaden gehen, wenn Eltern Mist bauen, werden Kinder indoktriniert und keiner merkt was.
Da habe ich noch andere Erfahrungen gemacht. Eine unserer Lehrerinnen hatte noch einen Stock, und sie hat ihn auch benutzt. Da ist niemand von den Eltern auf die Barrikaden gegangen. Einmal hat sie den Stock durch's Klassenzimmer geworfen, weil zwei nicht Ruhe geben wollten. "Lehrerin wirft Schüler das Auge aus" - das wäre eine Schlagzeile gewesen.

Ich habe an meiner Schule andere Erfahrungen gemacht, auch wenn ich der Meinung bin, dass man Lehrer immer noch viel zu schwer feuern kann, sie aber auch zu wenig Unterstützung bei Überforderung erhalten und generell besser ausgebildet werden sollten (auch von Anfang an stärker nach pädagogischen Fähigkeiten und Belastungsfähigkeit selektiert, dann aber auch gern besser bezahlt, gerade Haupt- und Realschullehrer, für manche von denen der Grundwehrdienst ja vollkommen gereicht hätte). Ich verteidige nicht das derzeitige staatliche System, sondern fordere nur prinzipiell ein öffentlich überwachtes System und auch eines, das die sozialen Milieus etwas durcheinanderwirbelt, um der Fragmentierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.
smalonius hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:smalonius hat geschrieben:Das Grundgesetz ist für'n Arsch. Viele Staatsmänner haben es ignoriert.
Es ist neben der amerikanischen Verfassung der beste Verfassungstext der Welt. Was besseres haben wir nicht.
Leider hilfts manchmal nicht viel.
Schäuble hat damals verhindert, daß CIA-Beamte angeklagt werden, weil sie einen deutschen entführt hatten. Die Italiener haben das übrigens durchgezogen.
Ja, das bestreite ich gar nicht. Aber stell dir, wie es vielleicht ohne regelmäßige Warnschüsse aus Karlsruhe hierzulande zugehen würde.
Dissidenkt hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Indoktrination funktioniert in gleichgeschalteten Gesellschaften, nicht aber in einer offenen und pluralen Gesellschaft. Dass Deutschland nicht das Nonplusultra dafür ist, behaupte ich gar nicht, aber die Situation halte ich längst nicht für derart katastrophal, wie du sie darstellst.
Indoktrination funktioniert in Deutschland wunderbar. Wie wenig offen und plural wir sind, zeigt u.a. die Vertreibung der harmlosen Jesusfreaks, die ihre Kinder vor Alkohol, Pornographie, Gewalt und bestimmten Lehrinhalten schützen wollen.
Wieso haben die Amish oder andere Kapitalismus/Fortschrittsverweigerer kein Recht ihr Leben so zu gestalten wie sie es wollen? Das schliesst die Erziehung ihrer Kinder ein.
Der Zwang zu schulischer Erziehung und einer bestimmten wissenschaftlichen Weltsicht für alle ist Totalitarismus.
Niemand wird in einer Schule zu einer wissenschaftlichen Weltsicht gezwungen.
Wer als Kind religiöser Eltern in eine staatliche Schule geht, wird SOWOHL mit den Ansichten der Wissenschaft ALS AUCH mit den religiösen der Eltern konfrontiert.
Wer als Kind religiöser Eltern Heimunterricht hat, wird NUR mit den religiösen Ansichten konfrontiert und das ist in meinen Augen viel eher Zwang. Zwang durch Alternativlosigkeit.
Die Amish können IHR Leben ja gestalten wie sie wollen, aber eben nicht das ihrer Kinder, zumindest nicht in totalem Ausmaß. Die Kinder haben das Menschenrecht (!) auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, das geht aber nicht, wenn sie nie Alternativen kennenlernen. Wenn das Leben der Amish so viel besser ist, als das andere, dann kriegen sie das den Kindern auch so beigebracht und dagegen sagt keiner was.
Und mal im Ernst: Eine Religion, die beim geringsten Kontakt mit der Realität vor der Haustür nicht mehr funktioniert, hat den Praxistest nicht bestanden. epic fail.
Dissidenkt hat geschrieben:Indoktrination ist eine Frage der Medien. Was meinst du, warum bei uns allenthalben freundliche Homestories des netten Herrn Obama, seiner eleganten Frau und der süssen Kinder veröffentlicht werden, während der Mann weltweit Menschen töten, verschleppen und foltern lässt
Hier kommen wir schon eher zusammen.
Nun nehmen wir aber mal an, dass Heimschul-Eltern jeden Mist glauben, der in den Medien erzählt wird, dann lernen auch die Kinder keinerlei Kompetenz, damit umzugehen. Selbst in einer mittelmäßigen Schule sollte es möglich sein, soetwas wie eine Diskussion über verschiedene Meinungen zu führen und grundlegende Medienkompetenz zu erlernen. Ich sage nicht, dass das überall geschieht, aber es ist wesentlich leichter realisierbar, als dasselbe Ergebnis beim Heimunterricht zu erzielen. Dem fehlt es ja schon an der kritischen Masse der Diskussionspartner.
Dissidenkt hat geschrieben:Es geht im Schulunterricht nicht um die freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern um die genormte Produktion systemkompatibler Arbeitskräfte und Konsumenten. Ein religiös-fundamentalistisch erzogenes Kind kann durchaus ein glückliches und erfülltes Leben führen, wenn es die Chance hat dieses Leben in einer Gemeinschaft zu führen, die seine Weltsicht teilt und respektiert.
Ja, das ist der Idealfall - was, wenn es mit dieser Gemeinschaft nicht klarkommt und kein bisschen fit ist für das Leben außerhalb dieses Kokons?
Und dass es im Schulunterricht ausschließlich um die Reproduktion von Arbeitskräften geht, ist so auch nicht richtig, denn ein Mindestmaß an eigenem Denken muss eine Wissensgesellschaft den Kindern einimpfen, sonst gibt es keine kreativen Köpfe und Konsumenten, die nur den letzten chinesischen Billigschrott kaufen, sich von Fastfood ernähren und das Gesundheitssystem killen. Systemkompatibel bedeutet in einer wettbewerbsbasierten Wirtschaftsumgebung nicht unbedingt Gleichschaltung. Dass es nur um die Entfaltung der Persönlichkeit geht, so weit lehne ich mich natürlich nicht aus dem Fenster, an dem, was du sagst, ist schon was wahres dran.
Dissidenkt hat geschrieben:Da werden dir die Christen entgegenhalten, dass ein Staat, der Kinder in Schulen mit Alkohol, Pornographie und Gewalt in Berührung bringt, kein Recht auf Erziehung hat. Ein großer Teil der gesellschaftlichen Misstände, die wir derzeit sehen, kommt aus schulischen Brutstätten. Diese Religiösen haben ein Recht ihre Kinder davor zu schützen. Und wenn jemand kommt und sagt, so ist aber doch die Realität auf die man die Kinder vorbereiten muss, dann ist das ein Zirkelschluss und kein vernünftiger Grund.
Ich kann die Aussage, dass der Staat die Kinder damit in Berührung bringt, nicht so stehenlassen, denn es ist weder Intention des Staates, das zu tun, noch steht er dem tatenlos gegenüber. Ferner frage ich mich, ob "die Christen" wirklich ein so signifikant geringeres Problem mit Alkohol, Pornografie und Gewalt haben, oder ob dort einfach alles effizienter totgeschwiegen wird (ich glaube einfachmal
folgendem Artikel, der eine Studie der Harvard Business School zitiert, die belegt, dass der Pornokonsum in den konservativsten Gegenden der USA am höchsten ist). Und ist es nicht eine christliche Schule, an der geradeeben einer der größten Misshandlungsskandale seit langem aufgedeckt wurde? Und haben wir dort nicht die größten Probleme mit Sexualität, wo sie maximal tabuisiert wird, belegt beispielsweise durch die hohe Rate an Teenagerschwangerschaften in religiös-konservativ dominierten Regionen? Probleme wie Sucht und Gewalt verschwinden nicht, indem man sich einbildet, man könne sie ausschließen und die Kinder davor "schützen", man muss den Kindern beibringen, mit ihnen umzugehen.
Nein, sorry, aber hier geht es nicht um Schutz gegen "Verwerfliches", sondern um den Schutz gegen das Andere, das Fremde, letztlich um Machtinteressen über das noch formbare Kind. Die Macht über die Erziehung eines Kindes darf nicht in den Händen weniger Personen gebündelt werden, sondern muss ausbalanciert sein zwischen Staat, Eltern und kritischer Öffentlichkeit. Gewaltenteilung ist ein altes Erfolgsrezept aus der Politie und sollte überall angewendet werden, wo es um Machtausübung geht.
Dissidenkt hat geschrieben:Kontroversen zwischen Eltern und Kindern gibt es überall, auch bei religiösen Fundamentalisten und eine staatliche Schule ist kein Garant für die Erziehung unabhängiger Individuen. Im Gegenteil, sie ist ein prima Instrument zur Verbreitung einer genormten Weltsicht. Wie gesagt bin ich nicht grundsätzlich gegen staatliche Schulen, ich bin aber gegen den ZWANG zu staatlichen Schulen und gegen das kaputte Schulsystem wie wir es hier haben.
Gegen das Schulsystem in seiner jetzigen Form gehe ich mit dir auf die Barrikaden, aber den Schulzwang befürworte ich aus o.g. Gründen vehement.
Dissidenkt hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Der Staat - zumindest ein Staat wie die BRD muss diesen Anspruch haben - muss außerdem sicherstellen, dass seine Mitglieder sich im Rahmen der Möglichkeiten, die innerhalb des gesetzlichen Rahmens geboten werden können, frei und nach individueller Vorliebe entwickeln können. Nach eigener Vorliebe bedeutet nicht nach Vorliebe der Eltern!
"Freie" Entwicklung gibt es nicht und was du mit "eigener Vorliebe" bezeichnest ist die Vorliebe, die der Staat den Bürgern zugesteht. Wer z.B. mit Vorliebe bis 10 Uhr schlafen möchte, wird sehr schnell an die Grenzen seiner "Freiheit" stoßen.
Wenn du als Kind religiöser Eltern am Sonntag statt Kirchgang ausschlafen willst, dürfte dir auch so eine Grenze blühen. Solche Grenzen sind natürlich, wenn verschiedene Interessen aufeinanderstoßen, aber man muss darauf achten, dass alle Beteiligten angemessen repräsentiert werden. Dazu müssen sie erstmal an einen Tisch, deshalb mein Plädoyer für das Kind als (so gut es eben geht) freien Staatsbürger und nicht als Prägewachs für den Stempel der Eltern.
Dissidenkt hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Die Kinder sind nämlich als individuelle Menschen und nicht als halbmenschliche Anhängsel ihrer Erzeuger in erster Linie Staatsbürger und in zweiter Linie die Kinder ihrer Eltern, nicht andersherum!
Hallooooooo? Bist du in der DDR aufgewachsen? Du predigst ja reinen Totalitarismus!
Mir scheint die Indoktrination hat bei dir gut funktioniert
Diese Antwort kann nur bedeuten, dass du nicht verstanden hast, was ich sagen wollte. Es geht um die Freiheit des Individuums ZUR Partizipation, um das Recht, Mitsprache im Kollektiv zu üben, in dem man nunmal aufgrund gewisser physikalischer und biologischer Notwendigkeiten gezwungenermaßen lebt.
Und nein, ich bin nicht in der DDR aufgewachsen...
Dissidenkt hat geschrieben:Kinder gehören zweifellos ihren Eltern und der Staat muss schon SEHR gute Gründe haben, wenn er sich in Familienangelegenheiten einmischt.
Na, das ist ja entlarvend. Was das für das individuelle Kind bedeutet, muss nicht weiter ausgeführt werden, keine weiteren Kommentare hierzu.
Dissidenkt hat geschrieben:Der Staat hat mehr Recht seine Bürger zu prägen, als die Eltern? Wie kommst du auf diese abstruse Idee? Der Staat darf ein Angebot machen, aber wenn er seine Schergen schicken würde, um meine Kinder zu holen, würde ich ganz amerikansich die Flinte aus dem Schuppen holen, wenn ich eine hätte
Wer bringt die Kinder nun mit Gewalt in Berührung? Die staatliche Schule oder der Papa mit der Schrotflinte?
Natürlich hat der Rechtsstaat als demokratisch kontrollierte Institution, als Gesetzgeber und als Inhaber des Gewaltmonopols das Recht, dafür zu sorgen, dass das Individuum mit den Kompetenzen ausgestattet wird, an der demokratischen Gesellschaft teilzunehmen und sich dagegen zu verwahren, dass einzelne Teile der Gesellschaft sich hermetisch abschotten. Niemand schreibt dem Kind in der Schule vor, dass es sozialistischer Atheist werden soll, lediglich, dass es sich mit seiner Meinung in die Gesellschaft einbringen soll - und wenn die Meinung dämlich ist, dann ist es legitim, dass es mit überlegeneren Meinungen anderer Schüler konfrontiert wird. Das kann durchaus auch mal bedeuten, dass der religiöse Schüler dem areligiösen die Meinung geigt.
Wenn du das Gewehr der politischen Einigung vorziehst, dann bin ich nicht derjenige, der hier die abstrusen Ideen äußert.