Dissidenkt hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Die Frage ist, ob eine solche Zivilisation überhaupt aus Individuen besteht. Es könnte sich auch um eine Netzwerk- bzw. Schwarmintelligenz handeln,
Du vermischt wieder munter Begriffe und Kategorien und konstruierst daraus vermeindliche Widersprüche, die tatsächlich so nicht bestehen. Zivilisation besteht per definition aus Individuen und Schwarmintelligenz ist ein Phänomen einer Gruppe von Individuen.
Das ist natürlich richtig, die Frage ist aber trotzdem, ob unser Begriff des Individuums als relativ autonomes Wesen passend ist. Im Grunde sind wir ja bereits jetzt einfach Knotenpunkte eines sozialen Informationssystems, je mehr sich diese aber verdichten, desto schwieriger wird das eine Individuum vom anderen abgrenzbar (so ein bisschen wie Elektronen in Metall, die auch keinem Atomrumpf genau zuordnungsbar sind).
Da du auch von meiner cineastischen Fantasie sprichst (ja die habe ich, finde ich auch nicht schlimm), ich hatte tatsächlich auch ein System wie im Roman "Der Schwarm" im Kopf, das adhoc ein denkendes Gebilde mit Bewusstsein schaffen und wieder zerstören kann, ohne neuhinzugewonnenes Wissen zwangsläufig zu verlieren. Egal, ob nun dieses spezielle Konzept in sich stimmig ist, ist die Idee, dass ein temporärer Verband von Individuen als eine Art Rechencluster arbeiten, zeitweise ein höheres Bewusstsein gewinnen und sich dann nach Speicherung der Ergebnisse wieder auflösen kann, nicht so blöd. Die Frage, die sich daraus für mich aufwirft, ist, inwiefern ein Individuum abgesehen von seiner partiellen körperlichen Autonomie tatsächlich individuell sein kann, wenn es die Möglichkeit besitzt, sich vollkommen im Schwarm aufzulösen.
In unserer Zivilisation bauen wesentliche Faktoren auf der Autonomie des Individuums auf, auf seiner sehr abgegrenzten Art, zu denken, zu handeln und zu fühlen. Wir reden aber über Zivilisationen, die schon viel weiter technisch entwickelt sind, was sich vor allem in der Fähigkeit Informationen zwischen Knotenpunkten ("Individuen") auszutauschen und zu verarbeiten wiederspiegeln sollte. Kein Mensch kann heute wissen, was passiert, wenn man derartige Kapazitäten zusammenschaltet, deshalb wäre ich äußerst vorsichtig, die Begriffe unserer Zivilisation auf die anderer Zivilisationen zu erweitern. Das ist ein bisschen so, als würde eine Ameise von der inneren Verfasstheit ihres Ameisenstaates auf die innere Verfasstheit einer menschlichen Gesellschaft schließen. Da mag es Parallelen geben, aber die sind weit davon entfernt, eine Art Kongruenz zu bilden.
Dissidenkt hat geschrieben:Nanna hat geschrieben: z.B. um eine Maschinenzivilisation, die zwar individuelle Körper kennt, diese aber nach belieben umbaut, verbindet, und intelligente autonome Einheiten je nach Bedarf in den Verband ein und ausgliedert (quasi "Individuen" auf Körper, z.B. Raumschiffe hinauf- und herunterlädt).
Deine cineastische Fantasie in allen Ehren, aber Maschinen sind Produkte von Lebewesen. Um Maschinen zu bauen bedarf es eines Bewusstseins, einer hochentwickelten Intelligenz und höchstdifferenzierter sozialer Kooperation. All das entsteht ausschliesslich im Laufe einer Evolution und nicht ad hoc aus dem Nirvana.
"Maschine" ist tatsächlich ein problematischer Begriff, die meisten Leute scheinen dabei irgendwie an Dampfmaschinen zu denken.
Mir geht es aber eigentlich nur um eine artifizielle Zivilisation, die sich technisch derart hoch entwickelt hat, dass sie sich materiell beliebig selbst manipulieren kann.
Aus der Fusion von evolutionär entwickeltem Verstand und artifiziell entwickelter Fähigkeit der beliebiger materieller Manipulation würde eine Art entstehen, die so ziemlich jedes physikalisch lösbare Problem tatsächlich lösen könnte und beinahe unbegrenzte Möglichkeiten der Datenverarbeitung hätte. Netzwerke sind etwas, was wir erst seit ein paar Jahrzehnten erforschen, wir wissen de facto so gut wie nichts darüber und haben deshalb auch keine - und zwar absolut keine - Ahnung, wie eine solche Zivilisation denken und handeln würde.
Natürlich wäre auch diese Zivilisation ein Verband von Lebewesen, nur glaube ich nicht, dass diese Lebwesen noch in derselben Weise an Körper gebunden wären, wie wir, sondern stattdessen mehr Insassen eines riesigen neuronalen Netzwerksystems wären (vielleicht vom Prinzip und Lebensgefühl darin eher der buddistischen Weltseele als einem Verband von autonom denkenden Individuen ähnlich), das seine materiellen Bedürfnisse wie Rohstoffabbau und Energieversorgung durch Roboter befriedigt, die autonom denken, aber kein Bewusstsein haben - oder sie kriegen temporär ein neuronales System mit Bewusstsein verpasst, das nach Verschrottung aber wieder in das Mutternetzwerk eingeht und dort aufgrund der extremen Vernetzung schnell seine Grenzen und seine Individualität verliert.
Kann sein, dass das alles cineastische Spinnerei ist, aber das waren Flugzeuge vor 200 Jahren nunmal auch. Was sicher ist, ist, dass wir keine Ahnung haben, wie eine höchstentwickelte denkende Zivilisation funktioniert.
Dissidenkt hat geschrieben:Das Phänomen Bewusstsein zB ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine Lebensform, die die Entscheidung trifft ins All reisen zu wollen. Bewusstsein geht zwangsläufig einher mit Religion und Selbstreflexion, da Bewusstsein die Frage nach dem "Woher komme Ich" aufwirft. Alle ethischen Fragen leiten sich letzlich davon ab. Da aber auch eine ausserirdische Lebensform keine alleingültige Antwort auf die Frage nach dem Woher haben kann, wird es auch dort zwangsläufig zu einer Konkurrenz religiöser Ansichten kommen. Es ist anzunehmen, dass sich auch dort eine sozial verträgliche "Religion" mehrheitlich durchsetzt, da nur unter solchen Verhältnissen zivilisatorische Höchstleistungen möglich sind.
Ich bin der Meinung, dass wir sozial noch ziemlich unterentwickelt sind. Unsere Individuen haben noch viele Verhaltensweisen an sich, die sich an das Zusammenleben von Jäger-und-Sammler-Gruppen von 70 Leuten anlehnen und nicht an das Leben in einer technisierten Globalzivilisation. Viele Zukunftsvisionen gehen trotz anderer Erfahrungen einfach davon aus, dass alles, was wir jetzt haben, einfach nur besser und schneller wird, auch unser Gehirn, aber sich nicht grundsätzlich verändert. Die wenigsten Leute scheinen zu bedenken, dass es fundamentale strukturelle Veränderungen geben könnte oder dass wir zu einer komplett neuen Spezies, vielleicht sogar eine neue Klasse bilden könnten. Insbesondere die rasant ansteigende Fähigkeit der bewussten Datenverarbeitung wird radikale Änderungen nach sich ziehen und ich gehe eben davon aus, dass die Grenzen des Individuums verschwimmen werden und daher die soziale Ordnung eine komplett andere sein wird; welche, kann ich auch nicht sagen, nur wird sie nicht mehr das sein, was wir kennen.
Ethik, um darauf noch zu kommen, ist eine Form fairen Interessensausgleichs. Die Frage ist, wer in einer Zivilisation, die "unser" Individuum vielleicht nicht mehr wirklich kennt, dann ein ethisches Subjekt sein wird und an welchen Kriterien man seine Wertigkeit festmacht. Es kann ja auch sein, dass es in einer solchen Zivilisation verschiedene intelligente Spezies, vielleicht sogar mit fließenden Übergängen, gibt, oder Verbände von individuellen Intelligenzen, die wiederum zusammengeschaltet ein Individuum höherer Ordnung ergeben (quasi wie Zentren in unserem Gehirn auch teilautonome Unterabteilungen bilden). Wie auch immer Ethik da aussieht, das Regelwerk wird weitaus komplizierter und komplexer sein als unseres und ich würde nicht von unserem auf deren schließen (s.o. Ameisenlogik).
Dissidenkt hat geschrieben:Die Vorstellung, dass Ausserirdische nichts anderes im Sinn haben, als eine solche - ihnen vergleichbare - Lebensform zu unterjochen und - was auch immer - auszubeuten, ist einigermaßen abwegig.
Hier nun stimmen wir überein. Um nochmal die Cineastic zu bemühen, im Film Contac wird ein außerirdischer Angriff auf die Erde damit verglichen, dass die USA Soldaten in die afrikanische Steppe schicken um dort ein paar Ameisen zu töten.