Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativismus

Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativismus

Beitragvon gavagai » Di 1. Mai 2007, 22:32

Servus,
in einem anderen Thread driftete ein Thema in den Werterelativismus und gleichzeitig diskutierten welche über Postmoderne u.a. Der Thread wurde zurecht geschlossen.
Ich stelle hier nochmals meine These zur Diskussion:
Es gibt keine Tatsachen in der Welt, die ethische Urteile wahr machen. Oder anders: Wertvorstellungen lassen sich nicht aus der Natur her begründen. (Naturalistischer Fehlschluss droht!)
Eigentlich widerspricht damit ein Wertefundamentalismus auch der naturalistischen Position:
Alle Vorgänge in der Natur, auch die Ursprünge sind durch ausschließlich natürliche Vorgänge erklärbar.
IMO haben daher die Religionen (die ja meist (oder alle?) einen Wertefundamentalismus vertreten) so grosse Schwierigkeiten mit der wertfreien Natur.
Universale Werte sind in der Welt nicht "vorhanden": Wo wären sie auch?
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Re: Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativis

Beitragvon Nox » Di 1. Mai 2007, 22:48

gavagai hat geschrieben:Universale Werte sind in der Welt nicht "vorhanden"
Ist wohl im wesentlichen richtig...

Aber es ist schon vernünftig überall mit demselben Maß zu messen. Bei zu bewertenden Handlungen nicht erst zu fragen: "Wer hat es denn gemacht?"
Damit und der (teilweise evolutionär bedingten) Tatsache, dass wir einiges so gar nicht lustig finden bekommt ma ja schon einiges zusammen.

Aber ja: Es bleibt einiges offen wo verschieden Konventionen funktionieren würden - und keine offensichtlich ausgezeichnet ist.
Nox
 
Beiträge: 347
Registriert: Di 19. Dez 2006, 19:51

Re: Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativis

Beitragvon gavagai » Di 1. Mai 2007, 23:25

Nox hat geschrieben:Aber es ist schon vernünftig überall mit demselben Maß zu messen.

IMO nein. Schon wir tun das nicht. Noch krasser ist es aber bei verschiedenen Kulturen. Wir essen kaum Pferdefleisch, kaum Hundefleisch, kaum Katzenfleisch. In Frankreich essen sie Pferdefleisch. In China (so sagt man): Katzen und Hunde. Und alle haben für ihre Kultur "recht".
Nox hat geschrieben:
Damit und der (teilweise evolutionär bedingten) Tatsache, dass wir einiges so gar nicht lustig finden bekommt ma ja schon einiges zusammen.

Die Evolution begründet ethisch nix. Wäre auch schlimm, da in der Evolution das Artensterben vorherrscht. D.h. ein Genozoid unterstützt die Evolution !?! Und ist daher ethisch geboten !?! Die Evolution hat IMO auch kein Ziel. D. h. man kann auch nicht von einem Ziel her Handlungen als universal geboten begründen. (Wieder sehen das viele Religionen völlig anders. Aber IMO begründet das auch nix).

Auch die Religion hatte evolutiv offensichtlich Vorteile. Man hatte mythische Angst vor Donner und Blitz und überlebte dadurch besser. Usw. D.h. aber nicht, dass man diese mythisch-religiösen Vorstellungen - trotz Vernunfteinsatzes - immer beibehalten sollte.

Was wir nicht lustig finden, gilt eben für uns. Die meisten Menschen meiden Menschenfleisch. (Das war nicht immer und überall so). Aber Bärenfleisch essen viele. So what. Ich bin Vegetarier. Ich bin aber nicht der Ansicht, das muss jetzt Dogma für alle werden.

Für viele ist IMO die wertneutrale Natur so schwer einsehbar, weil für dieselben leute meist nicht einsehbar ist, dass wir "nur" eine Molekülanhäufung sind. "Da muss doch mehr sein" IMO: da ist nicht mehr. Mir reicht's.
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Re: Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativis

Beitragvon Kurt » Mi 2. Mai 2007, 00:06

gavagai hat geschrieben:Wertvorstellungen lassen sich nicht aus der Natur her begründen. (Naturalistischer Fehlschluss droht!)
[...]
Universale Werte sind in der Welt nicht "vorhanden": Wo wären sie auch?


Servus Herbert,

kurze Frage: Woher nimmst du deine Werte bzw. wie begründest du sie?
Kurt
 
Beiträge: 704
Registriert: Fr 19. Jan 2007, 16:55
Wohnort: Bayern

Beitragvon [C]Arrowman » Mi 2. Mai 2007, 06:47

Bei mir ist es so dass ich Werte aus der Notwendigkeit heraus bilde. Beispiel, ich möchte ein möglichst angenehmes Leben haben, dazu gehört mE Konflikte zu vermeiden und mit Mitmenschen zu kooperieren, d.h nicht stehlen nicht morden etc., da wenn ich die Gesetze der Gemeinschaft, der ich ebenfalls aus Notwendigkeit angehöre, verletze, wird es für mich negative folgen haben. Was moderne Technologien wie Genetik angeht, so halte ich es da mit dem klassischen Utilitarismus, gut ist was dem Menschen schützt ( mit meinem Zusatz "und möglichst keinem anderen schadet").
Benutzeravatar
[C]Arrowman
 
Beiträge: 961
Registriert: Mo 1. Jan 2007, 16:18
Wohnort: Fuldabrück

Beitragvon Sisyphos » Mi 2. Mai 2007, 08:07

gavagai hat geschrieben:
Sisyphos hat geschrieben:
gavagai hat geschrieben:
Klaus hat geschrieben:Eben, sieh es mal aus der Sicht der Frau, die gesteinigt wird.
Genau. Dann haben wir 2 Ansichten. die der Frau und des Steinigers. Jetzt sage ich: sieh es mal aus der Sicht vom ABC in XY. Dann haben wir eventuell 3 Ansichten. Was ist gut oder böse per se wurde damit nicht geklärt sondern eher verwischt.

Hälst du persönlich (als Mensch, der zu Empathie und Mitleid in der Lage ist) diese beiden Ansichten, die der leidenden Frau und die des folternden Steinigers tatsächlich für gleichwertig?


Nein; nicht aus meiner Sicht der Dinge.

Sisyphos hat geschrieben:Es geht mir bei dieser Frage nicht um philosophische Spitzfindigkeiten, sondern um deine Stellungsnahme als lebendes, fühlendes Wesen.


Das mag sein, ist aber ein völlig anderes Thema.




Das ist kein anderes Thema. Ich habe diese Frage ganz bewusst gestellt, weil ich der Meinung bin, dass sich die einfachste Ethik bereits auf Grundlage von menschlichen Empfindungen entwickeln lässt. Die Fähigkeit zu leiden und mitzuleiden, haben wir in der Evolution entwickelt. Es war ein Selektionsvorteil. Die Empathiefähigsten und am meisten zur Kooperation Bereiten waren zugleich die Fittesten. Auf diesem Fundament generierten Menschen Werte, die es ermöglichten, in größeren Gruppen dauerhaft zusammen zu leben. Die verschiedensten Kulturen experimentierten mit Regeln und stellten fest, dass es sinnvoll und praktisch für alle ist, sich darauf zu einigen, einander keinen Schaden zuzufügen und einander zu helfen.

Erst wenn solche Regeln des Zusammenlebens, die in ganz bestimmten kulturellen und ökonomischen Kontexten entstehen (etwa die 10 Gebote), zusätzlich in einen religiösen Kontext gestellt werden, besteht die Gefahr des Dogmatismus. Um Regeln durchzusetzen, kann es freilich sehr vorteilhaft sein, auf ein höheres Wesen zu verweisen, das darüber wacht und richtet. Aber solche Ethiken sind starr und können sich nicht mehr evolutionär weiterentwickeln. Heute stellen wir fest, dass die 10 Gebote überholt sind und schmunzeln über alle, die dogmatisch daran festhalten.

Werterelativismus und Dogmatismus sind nicht die einzigen Möglichkeiten. Ich wehre mich gegen beides.


gavagai hat geschrieben:Hier hatte jemand etwas gegen den Werterelativismus geschrieben. Das ist halt eine philosophische These. Und ich habe die Gegenthese aufgestellt: Werte lassen sich nicht ohne Festlegung (Dogmatismus etc.) begründen. Oder anders ausgedrückt: es gibt keine Fakten in der Welt, die ein ethisches Werturteil wahr machen.


Ich behaupte (s.o.), es gibt natürliche Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften, die die Entwicklung einer bestimmten Ethik nahelegen.
Sisyphos
 
Beiträge: 692
Registriert: So 4. Mär 2007, 09:50

Re: Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativis

Beitragvon gavagai » Mi 2. Mai 2007, 08:25

Kurt hat geschrieben:
gavagai hat geschrieben:Wertvorstellungen lassen sich nicht aus der Natur her begründen. (Naturalistischer Fehlschluss droht!)
[...]Universale Werte sind in der Welt nicht "vorhanden": Wo wären sie auch?

Servus Herbert,
kurze Frage: Woher nimmst du deine Werte bzw. wie begründest du sie?
Servus Kurt,
ich mache es selber. Nach Kants bekannter Aufforderung:
“Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.”
Die Begründung habe ich mir noch nicht explizit überlegt. Aber in etwa (aus der Hüfte, wie man so sagt):

(1) Damit die Menschen in Frieden und Ruhe mir anderen zusammenleben können und ihre Fähigkeiten entfalten können, müssen sie XYZ und sie sollten ABC.
(2) Ich will in Frieden und Ruhe mir anderen zusammenleben.
(3) Ich bin ein Mensch.
Folgerung: Ich muß XYZ einhalten und sollte ABC befolgen. Und trachte danach, andere argumentativ zu überzeugen, dass sie das ähnlich sehen.
In dieser Begründung ist (2) eine reine Willenserklärung von mir. Sie läßt sich nicht sinnvoll weiter begründen.
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Beitragvon gavagai » Mi 2. Mai 2007, 08:27

Servus Kurt,
ich lese immer Beitrag für Beitrag. Deshalb der Nachtrag: Wenn ich arrowman richtig interpretiere, macht er es ziemlich ähnlich wie ich. Er erkennt die Bedingung (1) als notwendig. Will es auch (Bedingung 2); Bedingung 3 ist eh klar. Also kommt er zu ähnlichen Folgerungen wie ich. Passt.
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Re: Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativis

Beitragvon Sisyphos » Mi 2. Mai 2007, 08:29

gavagai hat geschrieben:
(1) Damit die Menschen in Frieden und Ruhe mir anderen zusammenleben können und ihre Fähigkeiten entfalten können, müssen sie XYZ und sie sollten ABC.
(2) Ich will in Frieden und Ruhe mir anderen zusammenleben.
(3) Ich bin ein Mensch.
Folgerung: Ich muß XYZ einhalten und sollte ABC befolgen. Und trachte danach, andere argumentativ zu überzeugen, dass sie das ähnlich sehen.
In dieser Begründung ist (2) eine reine Willenserklärung von mir. Sie läßt sich nicht sinnvoll weiter begründen.



Wir sind uns in etwa einig. =) Die Begründung für (1) und (2) liegt in (3), und die für (3) siehe mein Beitrag.
Sisyphos
 
Beiträge: 692
Registriert: So 4. Mär 2007, 09:50

Beitragvon HF******* » Mi 2. Mai 2007, 08:36

Nox schrieb:
Wertvorstellungen lassen sich nicht aus der Natur her begründen. (Naturalistischer Fehlschluss droht!)


Das sehe ich ebenso. Naturalismus betrachtet die Frage, wie wir Erkenntnis über die Welt beziehen bzw. was wir als wahr anerkennen. Die Ethik bzw. Moral ist ein Akt der menschlichen Wertung.

@Sisyphos: Verhaltensformen des Menschen können nicht deshalb als "gut" angenommen werden, weil sie genetisch bedingt sind - auch wenn sie insofern eine nachvollziehbar begründbare Grundlage haben.

Was wäre dann nämlich, wenn sich heraus stellt, dass etwa Rassenhass eine genetische Ursache hat? Kann man eine Ethik aufbauen wollen auf angeborenen Verhaltensweisen wie Egoismus, Blutrünstigkeit u. s. w.? Ich unterstelle, dass diese "Werte" ebenso genetisch bedingt im Menschen angelegt sind. Insofern muss immer ein Akt der Wertung hinzutreten, der keine Ursache in der Natur hat.

Das bedeutet nicht, dass Werte nicht auch rational begründbar sein können: Wenn ich z. B. das Ziel einer insich friedlichen Gesellschaft aufstelle, weil diese der Gesellschaft selbst nützlich ist, kann ich etwa mit rationaler Begründung ein Wertesystem aufbauen. Umgekehrt kann ich dann ganz klar sagen, welche "Werte" diesem Ziel nicht dienlich sind. (Ich schließe mich insofern der Argumentation von gavagai an).

Bezüglich naturalistisch begründeter Werte sehe ich allenfalls ein negatives Ausschlusskriterium, dass nämlich religiös begründete Werte nicht deshalb gut oder schlecht sind, weil sie religiös begründet werden können.

P.S.: Habe gar nicht gemerkt, dass ein Fred geschlossen wurde.
HF*******
 
Beiträge: 2651
Registriert: Do 19. Okt 2006, 11:59

Beitragvon gavagai » Mi 2. Mai 2007, 08:45

Sisyphos hat geschrieben:Es geht mir bei dieser Frage nicht um philosophische Spitzfindigkeiten, sondern um deine Stellungsnahme als lebendes, fühlendes Wesen.

gavagai hat geschrieben:Das mag sein, ist aber ein völlig anderes Thema.


Sisyphos hat geschrieben:Das ist kein anderes Thema.
Einverstanden. Dann verstehe ich deinen Einwurf nicht. Ich las das so: ihr redet um eine philosophische Grundfrage, ich aber will deine Stellungsnahme als lebendes, fühlendes Wesen.
Aber umso besser: Wenn für dich das kein anderes Thema ist, dann liegst du ja völlig richtig hier im Diskurs.
Sisyphos hat geschrieben:Ich habe diese Frage ganz bewusst gestellt, weil ich der Meinung bin, dass sich die einfachste Ethik bereits auf Grundlage von menschlichen Empfindungen entwickeln lässt. Die Fähigkeit zu leiden und mitzuleiden, haben wir in der Evolution entwickelt. Es war ein Selektionsvorteil.

Richtig. Doch dagegen ist mehreres einzuwenden:
1) ehemalige Evolutionsvorteile müssen heute nicht mehr gelten. Muskelkraft war mal ein Selektionsvorteil.
2) Evolutionsvorteile, d.h. was ist, begründen nicht was sein soll. Es war mal ein Evolutionsvorteil andere Männer zu töten und mit deren frauen eine Mehrfrauenverbindung zu pflegen. Die eigenen Gene lachten. D. h. nach meiner Empfindung aber nicht, dass das gut war (ausser vielleicht für diesen 1 Mann).
Sisyphos hat geschrieben:Die Empathiefähigsten und am meisten zur Kooperation Bereiten waren zugleich die Fittesten. Auf diesem Fundament generierten Menschen Werte, die es ermöglichten, in größeren Gruppen dauerhaft zusammen zu leben.

Einverstanden. Aber das passt nur für die, die in größeren Gruppen dauerhaft zusammen zu leben wollen. Wo steht dass das gut ist?
Sisyphos hat geschrieben: Die verschiedensten Kulturen experimentierten mit Regeln und stellten fest, dass es sinnvoll und praktisch für alle ist, sich darauf zu einigen, einander keinen Schaden zuzufügen und einander zu helfen.

Nein. Wenn beispielsweise mein Ziel ist, die Goten auszurotten, ist es sinnvoll und praktisch den Goten einen Schaden zuzufügen und zu schaden.
Sisyphos hat geschrieben:Ich behaupte (s.o.), es gibt natürliche Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften, die die Entwicklung einer bestimmten Ethik nahelegen.
Sehe ich nicht so. Damit begehst du den berühmten naturalistischen Fehlschluss, den schon David Hume geisselte: du sagst doch:
Es gibt bestimmte natürliche Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften (wie Zusammenarbeit bei Affen und Menschen; Gattenmord bei Spinnen; töten der beute bei Löwen, usw.).
Diese sind gut; so soll es sein.
IMO grenzt das an Sozialdarwinismus.
Warum sollen die natürliche Verhaltensweisen gut und erstrebenswert sein? Durch Vernunft haben wir es gerade in der Hand zu erkennen, dass Gattenmord zwar bei einigen Arten natürlich ist, aber daraus folgt nicht: ist gut.
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Beitragvon Klaus » Mi 2. Mai 2007, 08:55

@Holger, der Thread wurde nicht geschlossen, er ist nach wie vor im Forum und offen, die Diskussion hatte aber mit dem Topic nichts mehr zu tun. Auf meinen Vorschlag den Thread zu teilen, meinte der Autor nicht nötig, wir beenden den Exkurs.
Benutzeravatar
Klaus
 
Beiträge: 4704
Registriert: Mo 11. Sep 2006, 21:43
Wohnort: get off the Net, I´ll meet you in the Streets

Beitragvon gavagai » Mi 2. Mai 2007, 09:16

Sisyphos hat geschrieben:Die Fähigkeit zu leiden und mitzuleiden, haben wir in der Evolution entwickelt. Es war ein Selektionsvorteil. Die Empathiefähigsten und am meisten zur Kooperation Bereiten waren zugleich die Fittesten. Auf diesem Fundament generierten Menschen Werte, die es ermöglichten, in größeren Gruppen dauerhaft zusammen zu leben

Servus Sisyphos,
mir fiel später noch ein: mit: "Es war ein Selektionsvorteil" schmuggelst du ja schon das Gute ein (Vorteil ist wohl irgendwie mit gut definiert bzw. vice versa). Es ist nur ein Selektionsvorteil (und üblicherweise bezeichnet man ihn ja als solchen) in Bezug auf die Prämisse des Überlebens und der Weiterverbreitung von X (ich will jetzt nicht in die Diskussion eintreten, was selektiert wird: X ist Gen, Individuum, Art, Population oder was immer). Doch die Evolution hat kein Ziel, auch nicht das des Überlebens und der Weiterverbreitung von X.
Wenn überhaupt (das Folgende ist nicht meine Meinung), dann wäre das sehr viel häufigere Artensterben der "natürliche" Vorgang. Jeder "Selektionsvorteil" wäre in diesem Sinne ein "Artensterben-Nachteil", da er es das Artensterben hinauszögert. Mord und Totschlag als "Artensterben-Vorteil" wäre also die Devise!
Jetzt wieder meine Ansicht (und bezüglich des Naturalistischen Fehlschlusses habe ich so ziemlich alle Denker - ausser Herbert Spencer und seine stocktumben Nachfolger bis zum Gröfaz - hinter mir; (kleine "Unebenheit": man kann streiten, ob der Gröfaz und seine Horde Denker waren)):
Es bleibt dabei: das wie es ist (oder in der Evolution war) sagt nix über das, wie es sein soll. Wie es sein soll, bestimmen wir.
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Beitragvon Sisyphos » Mi 2. Mai 2007, 09:22

gavagai hat geschrieben:1) ehemalige Evolutionsvorteile müssen heute nicht mehr gelten. Muskelkraft war mal ein Selektionsvorteil.
2) Evolutionsvorteile, d.h. was ist, begründen nicht was sein soll.


Zu (1): Richtig, deswegen sollte Ethik immer auch evolutionär, nicht statisch gedacht werden. Die Frau als Besitztum des Mannes zu betrachten, ist heute nicht mehr sehr vorteilhaft für den Mann, weil Frauen auch wirtschaftlich selbständig leben können und nicht mehr abhängig sind. Unter anderem deshalb sind die 10 Gebote überholt.

Zu (2): Aber was ist, kann zu einer Ethik beitragen. Zumindest ist es nicht zweckmäßig, wenn es ihr im Wege steht. Wenn eine Ethik gegen die Natur des Menschen verstößt (katholische Sexualmoral), lässt sie sich nicht durchsetzen. Die Praxis beweist es.

gavagai hat geschrieben:Nein. Wenn beispielsweise mein Ziel ist, die Goten auszurotten, ist es sinnvoll und praktisch den Goten einen Schaden zuzufügen und zu schaden.


Ich rede noch nicht von Inter-Gruppenbeziehungen. Meine Ausführungen bezogen sich auf Intra-Gruppenbeziehungen. Hier gewinnt die Entwicklung einer Ethik eine neue Qualität. Auch Menschengruppen (Nationen, Völker) haben historisch betrachtet die Erfahrung gemacht, dass es in den meisten Fällen von beiderseitigem Vorteil sein kann, nicht übereinander herzufallen. Das moderne Völkerrecht spiegelt diese praktischen Erfahrungen wider, genauso wie die individuellen Menschenrechte ein Konzentrat praktischen Experimentierens mit Regeln sind.

gavagai hat geschrieben:
Sisyphos hat geschrieben:Ich behaupte (s.o.), es gibt natürliche Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften, die die Entwicklung einer bestimmten Ethik nahelegen.
Sehe ich nicht so. Damit begehst du den berühmten naturalistischen Fehlschluss, den schon David Hume geisselte: du sagst doch:
Es gibt bestimmte natürliche Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften (wie Zusammenarbeit bei Affen und Menschen; Gattenmord bei Spinnen; töten der beute bei Löwen, usw.).
Diese sind gut; so soll es sein.
IMO grenzt das an Sozialdarwinismus.
Warum sollen die natürliche Verhaltensweisen gut und erstrebenswert sein? Durch Vernunft haben wir es gerade in der Hand zu erkennen, dass Gattenmord zwar bei einigen Arten natürlich ist, aber daraus folgt nicht: ist gut.


Wenn du mich richtig liest, wirst du erkennen, dass ich nicht zwangsläufig vom Sein zum Sollen ableite, sondern das Kann betone ("nahelegen"). Im übrigen halte ich ("du begehst den naturalistischen Fehlschluss") für ein inzwischen ausgeleiertes Totschlagargument, mit dem schon im FGH inzwischen jeder Zweite triumphierend einen Thread beenden kann.

Selbstverständlich können wir ethische Regeln nicht in der Natur vorfinden. Deshalb können wir aber nicht schlussfolgern, naturwissenschaftliche Erkenntnisse hätten keinerlei Relevanz bei der Entwicklung einer modernen Ethik. Eine Ethik kann die natürlichen Grundbedürfnisse der Menschen nicht ignorieren. Sie ist der Versuch, die unter Menschen auftretenden Interessenskonflikte so zu lösen, dass alle Beteiligten das Ergebniss als möglichst fair erachten (also selbst einen Nutzen daraus ziehen).

Dass es Menschen gibt, die gerne Gewalt ausüben, heißt nicht, dass sich davon eine für alle Beteiligten tragbare Ethik ableiten lässt.

Im Übrigen wissen wir mittlerweile auch, wie dazu kommt, dass Menschen zu Aggression neigen (nämlich, wenn sie von Kooperation ausgeschlossen sind und deshalb ihre körpereigenen Motivationssysteme - Hormonhaushalt - umschalten) oder dass ihre Empathiefähigkeit deaktiviert ist (wenn z.B. Soldaten eingebläut wird, ihre Gegner hätten nicht den Status von Menschen).
Sisyphos
 
Beiträge: 692
Registriert: So 4. Mär 2007, 09:50

Beitragvon HF******* » Mi 2. Mai 2007, 09:31

Wenn ich zwischen zwei gleichwertigen Normen auswählen müsste, würde ich mich möglicherweise für diejenige entscheiden, die dem menschlichen Wesen am ehesten entspricht. Das ist aber ansich kein Argument auf der Ebene der Ethik selbst.
HF*******
 
Beiträge: 2651
Registriert: Do 19. Okt 2006, 11:59

Beitragvon Sisyphos » Mi 2. Mai 2007, 09:34

HFRudolph hat geschrieben:Wenn ich zwischen zwei gleichwertigen Normen auswählen müsste, würde ich mich möglicherweise für diejenige entscheiden, die dem menschlichen Wesen am ehesten entspricht. Das ist aber ansich kein Argument auf der Ebene der Ethik selbst.


Warum nicht? Wo beginnt die Ebene der Ethik? Und was liegt darunter?
Sisyphos
 
Beiträge: 692
Registriert: So 4. Mär 2007, 09:50

Beitragvon HF******* » Mi 2. Mai 2007, 09:41

Ich sehe das so: Die Frage der vereinbarkeit mit der genetischen Veranlagung, also der praktischen Durchsetzbarkeit, ist keine Frage von Richtig oder Falsch, von Gut oder Böse, sondern eine Frage des praktischen Erfolgs.

Vielleicht ist meine Definition der Ethik nicht ganz wissenschaftlich.
HF*******
 
Beiträge: 2651
Registriert: Do 19. Okt 2006, 11:59

Beitragvon Sisyphos » Mi 2. Mai 2007, 09:56

Ich denke, dass jede Wahl zwischen Normen eine ethische Wahl ist, gleichgültig, welche Argumente wir dabei heranziehen: naturalistische oder religiöse oder sonstwelche.

Ethik ist m.E. nicht nur die zugespitzte Frage nach Gut oder Böse, nach Richtig oder Falsch. Wir bewegen uns auch dazwischen, das macht es schwer. Eine Wahl beispielsweise in einem Dilemma führt zu einer zugleich richtig und falschen Entscheidung.

Eine wissenschaftliche Definition von Ethik habe ich aber auch nicht. :ka:
Sisyphos
 
Beiträge: 692
Registriert: So 4. Mär 2007, 09:50

Beitragvon Kurt » Mi 2. Mai 2007, 10:31

@ Herbert, Sisyphos und Arrowman: Wie es scheint, definieren wir unsere Ethik doch auf Grundlage des eigenen Nutzens (Egoismus) und auf Grundlage der menschlichen Natur. Wir übernehmen einfach die Verhaltensweisen, die sich im Laufe der Evolution als die "besten" herausgestellt haben und nennen das Ethik. Zwischen "rational" (selbst gedacht) und naturalistisch ist da gar kein Unterschied, wenn man genau hinschaut.

Für mich war das eine der größten Erkenntnisse der letzten Jahre, dass man Ethik vollkommen auf Basis der Natur (Evolution) und Verstand begründen kann, ohne Religion usw. Der Hauptvorwurf gegen den Atheismus ist ja, wir hätten keine richtige Moral.

Ich kann euch übrigens das Büchlein "Evolutionäre Psychologie" von David Buss empfehlen. Das betrifft genau das Thema und ist das beste Psychologiebuch, das ich bisher in die Finger gekriegt hab.
http://www.amazon.de/Evolution%C3%A4re- ... 3827370949

Der einzige Haken, den Ethik auf Basis der Evolution hat, sind (Verhaltens-)Rudimente, die heute keine Berechtigung mehr haben. Die Umwelt des Menschen hat sich schneller geändert, als der Mensch selbst. Töten eines Feindes war sicherlich mal überlebensnotwendig oder vorteilhaft, heute ist es ein Verbrechen. Als "workaround" haben wir unsere eigene Umwelt in Form von Gesetzen so angepasst, dass Mord streng bestraft wird und deshalb als Handlungsalternative noch unattraktiver wird.

--Kurt
Kurt
 
Beiträge: 704
Registriert: Fr 19. Jan 2007, 16:55
Wohnort: Bayern

Re: Wertefundamentalismus - Wertebegründung - Werterelativis

Beitragvon gavagai » Mi 2. Mai 2007, 12:34

Sisyphos hat geschrieben:
gavagai hat geschrieben:
(1) Damit die Menschen in Frieden und Ruhe mir anderen zusammenleben können und ihre Fähigkeiten entfalten können, müssen sie XYZ und sie sollten ABC.
(2) Ich will in Frieden und Ruhe mir anderen zusammenleben.
(3) Ich bin ein Mensch.
Folgerung: Ich muß XYZ einhalten und sollte ABC befolgen. Und trachte danach, andere argumentativ zu überzeugen, dass sie das ähnlich sehen.
In dieser Begründung ist (2) eine reine Willenserklärung von mir. Sie läßt sich nicht sinnvoll weiter begründen.

Wir sind uns in etwa einig.
OK
Sisyphos hat geschrieben:Die Begründung für (1) und (2) liegt in (3),
Das mutet mich komisch an. (1) ist eine Feststellung, die sehr gut ohne (3) auskommt. Es wäre selbstverständlich auch gemäss (1), wenn es mich nicht gäbe. Damit fällt (3) als Begründung für (1) flach.
Und (2) ist ebenfalls nicht von (3) abhängig.
1) Es gilt vielleicht auch für andere Arten. 2) Viele Menschen wollen nicht in Frieden und Ruhe mit anderen zusammenleben. Für sie gibt es keinen Bezug von (3) zu (2).
Sisyphos hat geschrieben:und die für (3) siehe mein Beitrag.

Für (3) gibt es empirische befunde. Das braucht IMO keine weitere Begründung. Die DNA Analyse zeigt bei dir und mir, dass (3) für uns beide zutrifft.
Aber wie dem auch sei: du stimmst dem obigen Argument zu. Damit haben wir einen wichtigen Wert per eigener Entscheidung (2) begründet. Aber eben nicht durch alleinigen Blick in die Natur (empirisch). genau das sagt meine These.
gavagai
 
Beiträge: 344
Registriert: So 29. Okt 2006, 21:17
Wohnort: Wasserburg am Inn

Nächste

Zurück zu Philosophie

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste

cron