Teh Asphyx hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Auf die Inhalte wird doch hier im Forum insofern eingegangen, dass andere dir darlegen, warum sie deine Kritik nicht teilen.
Ja, nur nicht argumentativ, sondern in der Form: „Ich will das aber so und Du bist dazu verpflichtet es freiwillig auch so zu wollen.“
Ist das so? Ich habe das so noch nicht wahrgenommen (was nicht heißt, dass deine Diskussionspartner grundsätzlich alles richtig machen).
Teh Asphyx hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Staatlicherseits müsste überhaupt erstmal geklärt werden, wer denn Adressat der Kritik ist. […] Äußer mal Systemkritik in Nordkorea, dann kriegst du einen schlagenden Vergleich, im wahrsten Sinne.
Ich lebe nicht in Nordkorea, es geht doch darum, wie die Verhältnisse mich betreffen und welche Möglichkeiten ich da habe.
Trotzdem muss man sich klarmachen, dass unser System im Vergleich eines der kritikfähigsten ist. Daraus kann man verschiedene Schlüsse ziehen: Entweder den, dass alle weltweiten politischen Systeme in ihrer Kritikfähigkeit stark unterentwickelt sind (ich nehme an, das wäre eher deine Schlussfolgerung) oder den, dass politische Systeme insgesamt sehr kritikresistent sind (weil das, jetzt etwas mit Anleihen an die Systemtheorie gesprochen, nicht der Modus ist, in dem sie operieren (nach Luhmann wäre die binäre Codierung des politischen Systems "Macht - Nicht-Macht", während die "Wahr - Falsch"-Codierung, in deren Rahmen wohl auch deine Kritik anzusiedeln wäre, diejenige des Wissenschaftssystems ist, wo du mit einer fundierten Kritik sicher auch viel mehr Resonanz erwarten könntest). Das wäre übrigens meine Schlussfolgerung).
Teh Asphyx hat geschrieben:Und da habe ich nur die Möglichkeit, mich unterzuordnen, allein schon deswegen, weil ich, um hier zu existieren auf Geld angewiesen bin. Das gepaart mit dem staatlichen Schutz des Privateigentums macht es mir unmöglich, irgendwas anderes zu tun. Und natürlich darf ich dann kritisieren, so viel ich will, weil es nichts ändert, auch dann nicht, wenn ich mit vielen Mitstreitern zusammen kritisiere, mal abgesehen davon, dass auch wunderbar verhindert wird, dass es überhaupt dazu kommt.
Wäre die Stelle hier nichtmal ein Punkt, an dem du vorsichtig überlegen könntest, was du anstatt dessen gerne hättest? Denn die Frage, wie du es dir denn vorstellst, halte ich schon für legitim. Es gibt ja durchaus gewichtige Argumente für ein Geldsystem, für Privateigentum. Kein Geld und Eigentum ist ja erstmal auch keine Lösung. Ich weiß, dass du solche funktionalen Argumente nicht magst, aber wir kommen um den Punkt nicht herum, weil ein gewichtiger Teil der Legitimation der herrschenden Ordnung auf der Annahme fußt, dass es das beste ist, was wir derzeit kriegen können. Da wir irgendeine Art gesellschaftlicher Organisation brauchen, ist das Argument sogar ziemlich zentral. Wenn du einen neuen PC brauchst, gehst du ja auch in den Laden und kaufst den besten, den du kriegen kannst, selbst wenn der nicht exakt der ist, den du gerne hättest.
Zum Punkt der Mitstreiter: Du kannst als soziales Kollektiv schon einiges erreichen. Im Bereich der Bürgerrechte in den USA (Ende der Segregation), der Frauenrechte (rechtliche Gleichstellung der Frau, stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit), der Rechte Homosexueller (Abschaffung strafrechtlicher Verfolgung, zunehmende gesellschaftliche Integration), der Nuklearfrage (Ende der Kernenergie in Deutschland steht vor der Tür), den ostdeutschen Diktaturen (wurden bis auf eine alle friedlich beseitigt), der Umweltbewegung (Umweltschutz ist heute prominent in der Politik, sogar mit einer eigenen Partei) oder aktuell den Aufständen in der arabischen Welt, da hat sich schon einiges getan.
Natürlich braucht man da Frustrationstoleranz, sonst hat man einfach keine Chance. In einem Aufsatz zu ebenjener
political opportunity structure, die ich erwähnt habe, schreiben William A. Gamson und David S. Meyer: "It is not merely a matter of seeing the glass half-full rather than halt-empty but seeing it as half-full when it is often 90 percent empty. [...] 'Unrealistic' perceptions of the possible can actually alter what is possible." Allerdings muss man sich klarmachen, dass die o.g. sozialen Bewegungen sich gegen Missstände richte(te)n, die analytisch Folge von Faktoren waren, die als
volatile gelten und dass Alternativen (In Minderheitenfragen: Integration; bei der Kernenergie: erneuerbare Energien; bei den Diktaturen: westliche Demokratie; beim Umweltschutz: Ökologische Produktion, downsizing, Forcierung technischer Maßnahmen wie Filtertechniken etc.) zur Verfügung standen, es also eine erreichbare Utopie gab, auf die die Anhänger eingeschworen werden konnten.
In deinem Fall dagegen richtest du deine Kritik fundamental gegen Dinge, die analytisch als
stable gelten, also nur mit extrem viel Aufwand geändert werden können, auch, aber nicht nur, weil sie gewohnheitsmäßig wenig hinterfragt werde, und für die keine Alternative in Sicht ist, die motivierend für Veränderung wirken könnte. Da wird "Frustrationstoleranz" natürlich zu einem echten Euphemismus.
Teh Asphyx hat geschrieben:Dein Vergleich ist ohnehin argumentativ ungültig. Wenn ich die Verhältnisse hier kritisiere, dann bezieht sich meine Kritik auf die Verhältnisse hier und die Verhältnisse hier müssen dann der Kritik standhalten, nicht die in Nordkorea, denn auf die beziehe ich mich gar nicht. Der Unterschied zwischen Dir und Vollbreit ist aber der, dass Du wenigstens trotzdem auch inhaltliches bietest.
Ich verteidige die Verhältnisse hier auch nicht durch Nordkorea, ich merke nur an, dass wir in der Reihe der verfügbaren Systeme weit außen auf der liberalen Seite sitzen. Natürlich müssen die Verhältnisse der Kritik unabhängig davon standhalten, aber das ist eine theoretische Frage. Stellt sich theoretisch heraus, dass das System der Kritik nicht standhält, folgt alleine daraus keine praktische Handlungsanleitung. Die Frage ist, ob sich dann eine solche formulieren lässt oder ob das nicht möglich ist. Wenn es nicht möglich ist und unser System nicht nur praktisch (auf die Auswahl der gegenwärtig bestehenden Systeme bezogen), sondern auch theoretisch das beste umsetzbare ist, dann ist deine Kritik tatsächlich sinn-, weil folgenlos.
Teh Asphyx hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Ein anderes zentrales Problem deiner Kritik ist, das habe ich dir schon öfter gesagt, dass du keine Alternativen aufzeigen kannst.
Und ich habe gute Gründe genannt, warum ich das nicht tue.
Noch mal zur Wiederholung: Ich maße mich nicht an, irgendein theoretisches System erfinden zu können, das behauptet, alles gut zu machen, sondern über die Kritik der herrschenden Verhältnisse kann sich überhaupt erst in der Praxis etwas brauchbares entwickeln. Alles andere wäre Schwachsinn. Dann würde ich mich ja doch nur wieder in dem Idealismus befinden, den ich kritisiere.
Das ist ja auch lobenswert - und gleichzeitig, wie ich eben darlege, ein Faktor, der dazu beiträgt, dass deine Kritik als theoretische Selbstbeschäftigung im luftleeren Raum wahrgenommen wird (und ich meine das rein beobachtend, nicht wertend). Dabei würde doch nichts daran hindern, beispielsweise eine Liste an Dingen aufzustellen, die in deiner Wunschwelt garantiert sein müssten und dann zu überlegen, welche Formen gesellschaftlicher Organisation dafür überhaupt in Frage kommen könnten. Das würde zumindest eingrenzen, über welche potentiellen Alternativen wir hier überhaupt reden.
Teh Asphyx hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Alternativen sind aber unabdingbar, um Menschen zu mobilisieren.
Nein, warum?
Wer keine Alternativen kennt, wird apathisch und sagt sich "Wozu sich erheben, es ändert sich ja eh nichts."
Alternativen sind auch vor allem dann unabdingbar, wenn du willst, dass Menschen
für etwas kämpfen. Solange sie nur
gegen etwas kämpfen, stehen sie im Erfolgsfall da und wissen mit ihrem Sieg nichts anzufangen, mit dem Ergebnis, dass andere Leute in das Machtvakuum vorstoßen und sich als neue Elite etablieren - und sich tatsächlich strukturell nichts geändert hat.
Teh Asphyx hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Es versteht einfach keiner, warum er sich mit deiner Kritik beschäftigen sollte, wenn er davon nichts hat außer am Ende noch Unzufriedenheit darüber, in welcher Umgebung er lebt.
Und was ist an dieser Unzufriedenheit falsch? Es geht doch gerade darum, sich nicht jeden Mist einfach schönzureden, da ist es unerlässlich, dass man unzufrieden ist. Wie kann das denn der Maßstab sein?
Es ging mir nicht darum, diese Unzufriedenheit zu bewerten, nur darum, zu beschreiben, warum keiner Lust auf Kritik hat, die ihn hinterher mit einem Gefühl der Unzufriedenheit stehenlässt. Wir hatten ja schonmal das Thema, dass ich gesagt habe, dass auch relevant ist, wie man etwas rüberbringt. Du hast dich auf die Position zurückgezogen, dass die Wahrheit sagen ausreiche und die Form unwichtig sei. Theoretisch ist das korrekt, praktisch ist es Unsinn. Weder die menschliche Psyche noch natürliche Systeme (um jetzt mal superkonsequent auf der ganz naturalistischen Schiene zu bleiben, dann ist ja auch jedes politische System pure Natur) interessieren sich dafür, was theoretisch korrekt wäre, sondern nur dafür, was praktisch funktioniert. Unzufriedenheit zu verdrängen oder sich ein System schöner reden, als es ist, funktioniert sowohl für die Psyche als auch für das System besser, als sich eine theoretische Diskrepanz einzugestehen, die man aber nicht schließen kann. Menschen sind da wie alle anderen Spezies auf der Welt auch: Sie passen sich an ihren Lebensraum an. Wenn da jetzt einer kommt und sagt "Hey, euer Lebensraum ist scheiße!", dann stehen alle einfach nur da und fragen sich "So schlimm ist es doch nicht, oder? Früher war es sogar noch schlimmer und überhaupt, wohin sollen wir denn seiner Meinung nach gehen? Das weiß der ja auch nicht, also können wir eh nur hier bleiben." Deshalb findet deine Kritik so schlechte Resonanz, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist. Sie ist, so wie sie ist, unproduktiv in dem Sinne, als dass sie keine praktisch umsetzbaren Ergebnisse erzeugen kann - und das verwirrt andere Menschen, weil sie dann die Relevanz der Kritik nicht erkennen können.
Teh Asphyx hat geschrieben:Im Übrigen reagieren hier zum Großteil nur die Nicht-Naturalisten so extrem widerborstig auf meine Kritik und Du fängst dann immer an, die auch noch zu verteidigen. Ich möchte mich in einem Naturalistenforum aber nicht ständig vor Nicht-Naturalisten dafür rechtfertigen müssen, dass ich aus meiner naturalistischen Sicht heraus die Verhältnisse kritisiere. Genau das muss hier aber anscheinend die ganze Zeit sein.
Ich denke, das hat mehr mit dem zu tun, was ich oben über diesem Zitat geschrieben habe. In meinem Fall ist es übrigens wirklich eher die Sorge um das Diskussionsklima (und gerade bei extrem kontroversen Themen ist es, da bitte ich zumindest um ein wenig Verständnis, nicht immer einfach, zu erkennen, wer noch sachlich argumentiert und wer schon nicht mehr). Ich würde mir häufig wünschen, dass Diskussionen um Sachfragen mit etwas mehr Distanz zum Gegenstand und mehr Gelassenheit geführt würden, und zwar möglichst von allen Beteiligten. Vielleicht triffst du auch einfach noch nicht die richtige Darstellungsweise deiner Anliegen. Ich habe häufig das Gefühl, dass du mehr Konsens über bestimmte Dinge mit den Leuten hier voraussetzt, als tatsächlich besteht. Wenn man aber schon nicht die Prämissen teilt, dann ist vorprogrammiert, dass sich recht schnell irgendwer unfair behandelt fühlt - zumal ja auch die anderen sich einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlen, da behält einfach nicht jeder immer einen kühlen Kopf. Leider.
Teh Asphyx hat geschrieben:Schlägt man einen Lebenshilfe-Bereich vor, dann kommen gleich alle an, die sich eigentlich eh nicht als Brights sehen und fangen an zu erklären, warum wir das nicht brauchen. Schlägt man vor, den Sinn von Strafe aus naturalistischer Sicht zu hinterfragen, dann kommen sie an und sagen, dass ginge aber nicht. Schlägt man vor, ethische Handlungen auf naturalistische Realitäten zu begründen, wollen sie einem erklären, dass das nicht ginge, sondern irgendein Hirngespinnst von abstrakter höherer Ordnung dafür notwendig sein soll. Ich weiß nicht, warum ich da ständig Verständnis und Toleranz walten lassen soll, wenn doch der naturalistische Standpunkt mit Unverständnis und Intoleranz begegnet wird und das auch noch da, wo es eigentlich darum geht, von diesem Standpunkt aus zu diskutieren. Wer naturalistische inhaltliche Einwände gegen meine Kritiken und Analysen hat, mit dem diskutiere ich auch gerne.
Lass uns über den Sinn und Zweck des Forums nochmal an anderer Stelle reden. Das ist ein altbekanntes Thema/Problem, mit dem auch meine Vorgänger sich schon rumgeschlagen haben und darauf jetzt in aller Vollständigkeit einzugehen, würde mehr Platz und Zeit erfordern, als ich jetzt zur Verfügung habe.
Teh Asphyx hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Du hast da, glaube ich, eine andere Motivation: Dir passt das System schon von vornherein nicht und jetzt versuchst du rauszufinden, warum. Das ist völlig ok, nur solltest du nicht die Erwartung haben, dass andere dieselbe Motivation empfinden, das System auf den Kopf zu stellen.
Was meinst Du mit „von Vornherein“? Mir passt es nicht, weil es sich real auf mein Leben und das vieler anderer nicht gerade zum Positiven auswirkt. Mit diesem Standpunkt bin ich hier auch gar nicht so alleine, ich äußere mich vielleicht nur etwas radikaler.
Ich meine das so: Manchen Leuten passen bestimmte Dinge nicht und sie führen das auf Fehlentwicklungen innerhalb des Systems zurück, die es zu reparieren gilt. Das sind Systemkritiker, aber keine Systemgegner. Dich sehe ich eher als zweiteren, du entdeckst derart viele Missstände, dass du das ganze System in Bausch und Bogen verdammst. Deine Beobachtung, dass viele hier solche Fehlentwicklungen ebenfalls wahrnehmen, teile ich, aber ich bin nicht sicher, wo die Linie zwischen Systemkritikern und Systemgegnern verläuft. Ich denke, dass es mehr von der ersteren Sorte hier gibt. Das heißt nicht, dass deshalb keine Verständigung möglich ist, aber man sollte diesen Unterschied vielleicht im Kopf behalten. Gerade, wenn du besser verstanden werden willst, wirst du einfach nicht darum herumkommen, dir zu überlegen, wie du Leute dazu bringst, deine Sichtweise zu teilen. Ich weiß nicht, ob ich es schonmal vorgeschlagen habe: Lass uns doch mal einen Thread eröffnen, in dem wir konstruktiv eine Skizze eines Gesellschaftssystems entwerfen, das deiner Kritik standhalten würde. Das muss ja deshalb kein heilsgeschichtliches Versprechen sein, ich fände es einfach als theoretische Spielerei interessant und es würde vielleicht auch bei anderen das Verständnis für die Kernpunkte deiner Kritik verbessern, ohne dass du gleich das Image als Dauermotzer abkriegst.