Illusionen

Illusionen

Beitragvon Darth Nefarius » So 24. Jun 2012, 14:23

In einem anderen Thema fand ich eine interessante Frage: Wann beginnt Religion? Ich denke, sie ist mit der Frage nach dem, was wir ablehnen, nahe verwandt. Ich persönlich störe mich an Illusionen oder Konstrukten der Sprache und Metaphysik. Als Atheisten (wenn das ein Minimalkonsens ist) lehnen wir zumindest die Gottesvorstellung für uns ab. Aber warum nur diese Illusion/dieses Konstrukt? Zumindest ich halte auch vieles andere für eine Illusion (oder ein falsches Ideal, das offensichtlich erstrebenswert scheint): allgemeine Moral, allgemeine Ethik, Freiheit, Altruismus, Grenzen. Irgendwann kommt man da zu einem solipsistischen Standpunkt (ich bin noch nicht so weit, aber was könnte nicht alles sonst noch eine Illusion sein?). Zumindest scheint mir ein gewisser Nihilismus eine Konsequenz der Ablehnung von Metaphysik zu sein. Ich merke, dass ich mit so einer radikalen Ansicht im Forum relativ allein bin, würde aber noch gerne genauere Erklärungen für den Glauben an andere Illusionen hören (die für viele keine sind, aber de facto nicht nachweisbar, eher widerlegbar sind). Warum also stört ihr euch gerademal an einem Gottesgedanken, aber nicht an der Moral oder eurer Freiheit? Letztlich spricht für diese so selbstverständlichen Dinge in der Gesellschaft genauso viel wie für einen Gott. Gehen die Begründungen über irgendwelche Erklärungen bezüglich der Praxis hinaus? Oder anders formuliert: kann man mir einen Grund für diesen Glauben erklären, der über die vermeindliche praktische Nützlichkeit im Alltag hinausgeht? Ich wollte das mal in einem einzelnen Forum diskutieren, weil das schon oft ein Streitpunkt war, aber irgendwie an ursprüunglichen Themen vorbeiging.
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Re: Illusionen

Beitragvon Nanna » So 24. Jun 2012, 14:50

Der Witz an der Sache ist doch, dass wir nur in Bildern über die Welt denken können (und ich meine "Bild" nicht visuell, eher im Sinne von Vorstellung). In recht interessanten psychologischen Experimenten hat man herausgefunden, dass die Einschätzung der Länge einer Wegstrecke mit der persönlichen körperlichen Konstution zusammenhängt. Sportliche und/oder große Menschen schätzen Entfernungen eher zu kurz gebrechliche und/oder kleine Menschen tendentiell eher zu lang ein. Offenbar haben beide kein exaktes Abbild des Weges im Kopf, sondern ein subjektives Konstrukt dessen, was der Weg für sie in ihrem persönlichen Kontext bedeutet. Die Vermutung liegt nahe, dass das eigentlich bei allen Kontexten so ist, also dass wir auf einer konstruierten Metaebene über die Welt nachdenken, die zwar mit der physischen Realität korrespondiert, aber in einem letztlich nicht konkret bestimmbaren Maß.

Ich halte es deshalb für äußerst töricht, Konstrukte und Modellvorstellungen abzulehnen, weil sie in letzter Konsequenz das einzige sind, was wir haben und worüber wir uns verständigen können. Selbst Sprache als Mittel dieser Verständigung ist ein Konstrukt. Was ist denn beispielsweise dieses Forum anderes als ein gedankliches Konstrukt? Es existiert ja nichtmal irgendwo physisch. Klar, da sind Daten in einer Datenbank irgendwo in einem kleinen Kästchen in Deutschland, aber was heißt das schon? Letztlich sind das nur ein paar Brocken Plastik und Silizium. Das Forum entsteht erst als soziales, gedankliches Konstrukt, genauso wie ein Teppichmuster nicht ausschließlich physisch existiert.

Der Fehler besteht meiner Meinung nach darin, Metaphysik pauschal mit Transzendenz gleichzusetzen. Ich lehne transzendente, also außerweltliche Vorstellungen ab, aber keine diesseitigen Gedankenkonstrukte, die vielleicht metaphysisch sind, aber doch klar mit der physischen Welt korrespondieren. Auch Moral als "Software" einer Gesellschaft, die bestimmte soziale Funktionen ermöglicht, ist so eine metaphysische, aber dennoch potentiell immanente Konstruktion (wenn sie nicht transzendent begründet wird). Ich würde aber auch nicht von "nur" einer Nützlichkeit im Alltag sprechen. Bestimmte Konstruktionen sind inhärente Voraussetzungen dafür, dass bestimmte soziale Prozesse überhaupt geschehen können. Das ist wie bei einem Computer, der ohne das Konstrukt des Betriebssystems mit konstruierten Verhaltensregeln für Benutzer und Hardware auch kein Brightsforum anzeigen kann.
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Re: Illusionen

Beitragvon ujmp » So 24. Jun 2012, 15:52

Nanna hat geschrieben: In recht interessanten psychologischen Experimenten hat man herausgefunden, dass die Einschätzung der Länge einer Wegstrecke mit der persönlichen körperlichen Konstution zusammenhängt. Sportliche und/oder große Menschen schätzen Entfernungen eher zu kurz gebrechliche und/oder kleine Menschen tendentiell eher zu lang ein.

Ganz so schlimm ist es nicht. Viele Wahrnehmungen mögen zwar nicht stimmen, sie liegen aber berechenbar daneben, d.h. die Wahrnehmung ist eine Funktion des Wahrgenommenen. Längen, z.B. von Strichen werden linear beurteilt, d.h. ein doppelt so langer Strich wird auch als doppelt so lang wahrgenommen. Bei anderen Wahrnehmungen wie .B. Temperatur oder Farben ist das zwar nicht linear, aber trotzdem gut vorhersehbar (siehe Stevens' Law). Dein Beispiel zeigt m.E. erstmal nur, dass unsere Wahrnehmung irritierbar ist. Man kann sehr leicht Fehleinschätzungen durch optische Täuschungen provozieren. Diese Täuschungen sind aber so gut reproduzierbar, dass man m.E. zuversichtlich sein darf, dass unser Gehirn sich von identischen Umweltbedingungen auch ein identisches Bild macht.
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Re: Illusionen

Beitragvon Nanna » So 24. Jun 2012, 16:00

Natürlich sind diese Fehlwahrnehmungen nicht willkürlich, sie korrespondieren ja, wie gesagt, mit der Umwelt. Genauso sind aber auch Konstruktionen wie Moral oder persönliche Freiheit nicht willkürliche Gedankenspiele, sondern sind Voraussetzung dafür, dass bestimmte soziale Systeme, die ja auch in einem physischen Kontext stattfinden, funktionieren können.
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Re: Illusionen

Beitragvon ujmp » So 24. Jun 2012, 17:39

Das sehe ich auch so.
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Re: Illusionen

Beitragvon ujmp » So 24. Jun 2012, 18:06

Darth Nefarius hat geschrieben: Aber warum nur diese Illusion/dieses Konstrukt?

Ich denke, wie Nanna, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als uns ein Bild von der Welt zu machen, so gut es eben geht. Prinzipiell ist es jede Idee wert, geprüft zu werden. Als eine Illusion wird eine Idee erkannt, wenn sie der Prüfung nicht standhält. "Religion" oder auch "Moral" sind zu komplexe Bergriffe, um daraus Tests abzuleiten. Man kann aber einzelne Verhaltensweisen, die man als "religiös" oder "moralisch" betrachtet, testen. Z.B. kann man testen, ob Gebet hilft oder ob Menschen, die behaupten sie würden Telepathie beherrschen, das wirklich können. Oder man kann testen, ob Menschen in einer Gruppe um so zufriedener sind, je gleichmäßiger die Güter verteilt sind. Ob sie zu Hilfsbereitschaft um so mehr neigen, je größer der Verwandschaftsgrad zu den Geholfenen ist. usw. Jedenfalls muss man schon ein paar Anstrengungen auf sich nehmen, wenn man etwas von der Welt verstehen will.
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Re: Illusionen

Beitragvon stine » So 24. Jun 2012, 19:18

Liebe ist auch eine Illusion. Nichts anderes als Hormonschübe. Wir leben in der Illusion einen ganz bestimmten Menschen zu lieben, von seiner Gegenliebe abhängig zu sein, obwohl jeder von uns ein eigenständiges Lebewesen ist und eigentlich niemanden braucht, körperlich gesehen.
Wir leben in der Illusion an der Achtung und Anerkennung anderer zu wachsen, obwohl es sich am besten lebt, wenn der Ruf erst ruiniert ist, oder wie ist das bei dir, @Darth Nefarius?

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Re: Illusionen

Beitragvon Lumen » So 24. Jun 2012, 20:09

Entschuldigung schon mal für den (zu) langen Beitrag. :ops:

Ein gutes Beispiel ist die "Menschenrasse". Im deutschen Sprachraum haben wir nachvollziehbarer Weise ein Problem mit der Vorstellung und dem Konzept. In englischen Sprachraum wird es allgemein genutzt. Gibt es Menschenrassen? Daran wird recht deutlich wie wir unsere Welt konstruieren, aber diese Konstruktion trotzdem mit der Wirklichkeit korrespondiert.

Die Wahrnehmung bietet bereits eine sauber sortierte Welt an, die in diskrete Bröckchen zerhackt ist. Was bis dahin passiert, war bis vor kurzem noch die Grenze zwischen maschineller "Wahrnehmung"und menschlicher Wahrnehmung. Um sich das vor Augen zu führen, muss man sich vorstellen, wir würden ein komplett verschwommenes Bild sehen auf dem wir nichts erkennen können, alles fließt ineinander, wir können keine Objekte ausmachen sondern nur Farbflächen und Verläufe. Unser Wahrnehmungsapparat und nunmehr nun auch Programme können aus den Flächen, der räumlichen Information, wiederkehrende Muster, Oberflächenbeschaffenheiten, gleichlaufende Bewegungsrichtung und so weiter einzelne Objekte mit Eigenschaften erkennen. Die Eigenschaften ergeben sich implizit, da wir ohne die Eigenschaften nichts wahrnehmen können (vielleicht ist es tatsächlich umgekehrt, zählen von Eigenschaften und Zusammenfassen ergeben mentale Muster).

Was wir wahrnehmen können wird offenbar unterteilen oder in größere Kategorien einsortieren. Unterhalb der Fläche die wir "Himmel" nennen, erkannt durch ein spezifisches Muster an blauen und weißen Flecken, erkennen wir ein anderes aus Grün und Brauntönen, dass wir dann meinetwegen "Wald" nennen, in dem Wald erkennen wir wiederkehrende Elemente, die wir dann als modulare Einzelobjekte sehen können.

Aber wie viele Bäume sind notwendig, damit es ein Wald wird? Ich glaube, dass wir intern die Welt eher wie eine "Heatmap" sehen, wo die hellen Flächen unsere "definitiorischen Zentren" sind, also etwas dass wir als eindeutig "Tisch", "Baum", "Wald" sehen (ähnlich dem, was Platon mit seinen Eidos meint, aber eben nicht "perfekt" und nicht objektiv). Wenn wir ein neues Objekt sehen, dann nutzen wir die "nähe" zu einem solchen Zentrum um dann darüber zu befinden, ob das erkannte Objekt in unser Welt noch ein Baum ist, oder ob wir es als Strauch erkennen. Oder ob wie die Menge an Bäumen schon als Wald sehen, oder vielleicht als Savanne. Ich glaube, je mehr Leute "wissen", also erkennen können, umso dichter ist diese "Heatmap" mit Zentren übersät, so dass es kaum weite Strecken zwischen zwei Punkten gibt. Haben Leute nur wenig wissen von der Welt, dann werden neue Wahrnehmungen eventuell vorschnell einem bekannten Zentrum zugeordnet und das Zentrum um die neuen Beobachtungen erweitert. Ich denke, dass somit die "Heatmaps" verschiedener Menschen individuell unterschiedlich aussehen. Würde man aber alle Heatmaps von Menschen übereinander legen, hätten sie ein ähnliches aussehen. Die Ähnlichkeit wäre wahrscheinlich bei Menschen im gleichen Sprachraum oder gleichen Kultur immer noch ähnlicher, als zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen.

Um zum anfänglichen Beispiel zurückzukommen, glaube ich, dass das Erkennen eines "anderen" Menschen, der zunächst intuitiv anders genug aussah um eine neue Kategorie aufzumachen dazu führt, dass ein neuer Punkt ("schwarzer Mensch") auf dieser Heatmap entsteht. Nun wird der Wahrnehmende, zum Beispiel als reisender in Afrika, darin bestärkt, dass es sich um eine eigene Kategorie handelt, womit dann der Kleks auf der Heatmap um verschiedene Beobachtungen erweitert wird. Danach reist der Wahrnehmende nach New York. Plötzlich entstehen zwischen den Beiden getrennten Heatmap Inselchen viele weitere Punkte, bis die ganze Strecke zwischen "weißer Mensch" und "schwarzer Mensch" mit weiteren Inselchen übersät ist. In anderen Dimensionen (Augenform, Haarfarben etc.) passiert das gleiche, bis die ursprünglichen Zentren keine klare Grenzen mehr haben. Damit bildet sich die Wirklichkeit mental ab, aber die Begriffe (willkürliche Kringel um bestimmte Zentren) bleiben zunächst erhalten.

Gibt es nun Menschenrassen, objektiv? Das Individuum kann an den vormals gebildeten Kategorien festhalten, oder sie auflösen, wenn sie keinen Nutzen mehr haben. Wir können sie wenigstens über Begriffe (und Definitionen) festhalten. Die Kategorien mit denen wir denken beeinflusst aber auch wie wir wahrnehmen, denn wenn wir einen Kleks auf dieser mentalen Heatmap haben, und wir etwas wahrnehmen, was wir aufgrund der Eigenschaften in der Nähe verorten würden, dann werden wir eher dazu neigen, (eventuell voreilig) die Wahrnehmung der bekannten Heatmap-Kleks zuzuschlagen. Zum Beispiel, wenn es die Kategorie "schwarzer Mensch" gibt, und der Wahrnehmende sieht jemanden der einfach nur dunklere Haut hat, dann kann er die neue Wahrnehmung dieser Kategorie zuschlagen.

Wenn wir uns etwas merken, so gehe ich davon aus, dass jede Einzelwahrnehmung dem nächsten Zentrum zugewiesen wird und das dieses Zentrum das Konzept darstellt. Wir können nicht den ganzen Kleks in allen Dimensionen kommunizieren (der eher aussieht wie eine amorphe Wolke mit helleren und dunkleren Bereichen), sondern nur ein paar Dimensionen (hellere Bereiche innerhalb dieser Heatmap-Kleks-Wolke). Die Wolke selbst würde der Denotation entsprechen, also einer relativ akkuraten real-weltlichen mentalen Entsprechung der Wirklichkeit (mit einer Abbildung durch Begriffe).

In der Semiotik wird das wirkliche Objekt auch "Referent" genannt. Das reine Konzept, ausgedrückt als "Denotat" (Hauptbedeutung) würde nach meiner aktuellen Einschätzung einer Heatmap-Kleps-Wolke entsprechen. Damit Menschen aber verarbeiten können, was jemand mitteilen möchte, können wir die Facetten, die uns wichtig sind in sogenannten Konnotationen mitliefern. Das sind im Prinzip Adjektive, aber wenn bestimmte Eigenschaften und Hauptbedeutungen sehr oft gebraucht werden, haben sie auch feststehende Begriffe. Das semiotische Paradebeispiel für den Sachverhalt sieht so aus:


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        Begriff
                   /\
                  /  \
                 /    \
                /      \
               /        \
         Zeichen ...... Gegenstand
         (Wort)           (Ding)



  • Venus (Ding/Referent) ↦ Morgenstern "Venus/Stern am morgens " (Signifikat), je nach Wissen: Venus (Denotation), am Morgen (Konnotation) ↦ M-o-r-g-e-n-s-t-e-r-n (Wort / Signifikant)
  • Venus (Ding/Referent)↦ Abendstern "Venus/Stern abends am Himmel", je nach Wissen: Venus (Denotation), am Abend (Konnotation) ↦ A-b-e-n-d-s-t-e-r-n (Wort / Signifikant).

Der Planet selbst, das "Ding" in der Wirklichkeit ist der Referent, der Begriff wird Signifikat gennant. Das Zeichen, Wort, die Laute zum Kommunizieren ist der Signifikant.

Aber Lumen! Der Planet Venus existiert ja gar nicht. Tatsächlich könnte man sich auf die Vor-Wahrnehmungs-Haltung zurückziehen und meinen, dass Venus als "Ding" garnicht existiert. Würden wir einen 1-Atom großen Inspekteur losschicken, der dorthin fliegen soll um exakt festzustellen, wo Venus anfängt wo somit auch die Eigenschaften anfangen die "Venusheit" ausmachen, würde er keinen genauen Punkt finden. Zwei Inspektoren würden sogar streiten, wie groß die Dichte der Atome sein muss, um die Grenze zwischen Weltraum ("Venusheit aufhört") und Atmosphäre ("Venusheit beginnt") zu ziehen. Wir Menschen nutzen aber abrupte Wechsel einer Eigenschaft (zum Beispiel Farbe), also Kontrast, um Objekte zu unterscheiden und konnten damit überleben. Was unsere menschliche, inter-subjektive Welt angeht, gibt es also die Dinge wirklich und von weitem betrachtet, ist der Übergang nicht entscheidend, nur dass es einen Übergang an Eigenschaften gibt, die offenbar ihrerseits eigene "Konsistenzen" bilden, ist wichtig. Daraus können wir auch schließen, dass Naturgesetze in einer bestimmten Weise funktionieren (ich tippe darauf, dass die Naturgesetze sich bei nahem hinsehen auflösen, so wie der Anfang von "Venusheit" sich bei naher Betrachtung auflöst. AFAIK werden Naturkräfte auch als Felder gedacht).

Ist Religion jetzt eine Illusion? Jein. So wie auch "Venusheit" eine Abgrenzung braucht (Weltraum), um einen Kontrast herzustellen, und die Grenze nicht scharf verläuft, so ist auch ein Phänomen wie Religion als Sammlung von Eigenschaften tatsächlich vorhanden. Ob die Grenze, die wir um das Gebilde ziehen (siehe Denotation, Konnotation usw.) das Gebilde in bestmöglicher Weise beschreibt, bleibt offen oder ob z.B. zwei Begriffen die jeweils eine Hälfte des alten Religionsbegriffs bekommen, "besser" wäre, ist ebenfalls unbestimmt. Darüber werden Menschen fortwährend verhandeln, genauso wie man oder ob man Menschengruppen in Schubladen einteilen sollte, unter welchen Umständen dass sinnvoll ist usw. (wobei unbestritten bleibt, dass es Eigenschaften zum sortieren tatsächlich gibt).
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Re: Illusionen

Beitragvon Darth Nefarius » So 24. Jun 2012, 21:11

Nanna hat geschrieben:Ich halte es deshalb für äußerst töricht, Konstrukte und Modellvorstellungen abzulehnen, weil sie in letzter Konsequenz das einzige sind, was wir haben und worüber wir uns verständigen können. Selbst Sprache als Mittel dieser Verständigung ist ein Konstrukt. Was ist denn beispielsweise dieses Forum anderes als ein gedankliches Konstrukt? Es existiert ja nichtmal irgendwo physisch. Klar, da sind Daten in einer Datenbank irgendwo in einem kleinen Kästchen in Deutschland, aber was heißt das schon? Letztlich sind das nur ein paar Brocken Plastik und Silizium. Das Forum entsteht erst als soziales, gedankliches Konstrukt, genauso wie ein Teppichmuster nicht ausschließlich physisch existiert.

Aber wieso sollten wir eine Illusion oder Vorstellung ablehnen und die andere nicht? Ich habe schon verstanden, dass es einen gewissen praktischen Nutzen für den Alltag hat, aber genügt das unserem Verständnis von Logik?
Nanna hat geschrieben:Ich lehne transzendente, also außerweltliche Vorstellungen ab, aber keine diesseitigen Gedankenkonstrukte, die vielleicht metaphysisch sind, aber doch klar mit der physischen Welt korrespondieren.

Was soll "korrespondieren" bedeuten?
Nanna hat geschrieben: Auch Moral als "Software" einer Gesellschaft, die bestimmte soziale Funktionen ermöglicht, ist so eine metaphysische, aber dennoch potentiell immanente Konstruktion (wenn sie nicht transzendent begründet wird).

Der Religion könnte man den gleichen Nutzen zugestehen.
Nanna hat geschrieben: Ich würde aber auch nicht von "nur" einer Nützlichkeit im Alltag sprechen. Bestimmte Konstruktionen sind inhärente Voraussetzungen dafür, dass bestimmte soziale Prozesse überhaupt geschehen können. Das ist wie bei einem Computer, der ohne das Konstrukt des Betriebssystems mit konstruierten Verhaltensregeln für Benutzer und Hardware auch kein Brightsforum anzeigen kann.

Ja, aber du kannst eine falsche Gleichung nicht in den Computer programmieren. Die Gleichungen müssen seiner Logikwelt entsprechen und somit korrekt sein, das träfe auf die Moral und die Religion nicht in voller Konsequenz bei uns zu.
ujmp hat geschrieben:Als eine Illusion wird eine Idee erkannt, wenn sie der Prüfung nicht standhält. "Religion" oder auch "Moral" sind zu komplexe Bergriffe, um daraus Tests abzuleiten.

Die Religion und die Moral halten einem minimalistischen, wissenschaftlichen Denken nicht stand. Also: Was unnötig für die Gleichung ist, kann rausgestrichen werden. Was Unlogisch ist, muss raus. Können wir uns nicht auf ein Weltbild wie in der Wissenschaft einigen, dass möglichst beweisbar ohne metaphysische Konstrukte auskommen will, einigen?
stine hat geschrieben:Wir leben in der Illusion an der Achtung und Anerkennung anderer zu wachsen, obwohl es sich am besten lebt, wenn der Ruf erst ruiniert ist, oder wie ist das bei dir, @Darth Nefarius?

Mich hat mein Ruf nie interessiert, das hat mir sowohl Verachtung als auch Bewunderung eingebracht. Und ich würde Liebe nicht unbedingt als Illusion bezeichnen, es ist ein Gefühl und diese sind Sammelbegriffe für die Symptome von Hormonmischungen - also durchaus real.
Letztlich haben die Kommentare bis jetzt meine Einschätzung bestätigt, dass an Konstrukten und Illusionen festgehalten wird, solange sie einen Nutzen haben. Inwiefern könnt ihr, die euch lediglich eine Illusion nicht mehr nützlich erscheint, darauf ein Weltbild aufbauen? Ich versuche mit wesentlich weniger Illusionen auszukommen, zumindest ohne die, die mir als Illusionen bewusst sind. Klar, Kategorien, also "Grenzen", wie ich sie am Anfang zusammengefasst habe, sind etwas nützliches, sind Basis für unser Denken und unsere Sprache. Sie mögen zwar willkürlich sein, aber sie basieren direkter auf unserer Wahrnehmung. Bereits die Sinne kategorisieren Wahrnehmungen, insofern müssen nicht unbedingt alle Kategorien eine Illusion sein.
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Re: Illusionen

Beitragvon ujmp » So 24. Jun 2012, 21:20

Lumen hat geschrieben:Wir Menschen nutzen aber abrupte Wechsel einer Eigenschaft (zum Beispiel Farbe), also Kontrast, um Objekte zu unterscheiden und konnten damit überleben. Was unsere menschliche, inter-subjektive Welt angeht, gibt es also die Dinge wirklich und von weitem betrachtet, ist der Übergang nicht entscheidend, nur dass es einen Übergang an Eigenschaften gibt, die offenbar ihrerseits eigene "Konsistenzen" bilden, ist wichtig. Daraus können wir auch schließen, dass Naturgesetze in einer bestimmten Weise funktionieren (ich tippe darauf, dass die Naturgesetze sich bei nahem hinsehen auflösen, so wie der Anfang von "Venusheit" sich bei naher Betrachtung auflöst.

Das ist m.E. nicht so, wir nutzen nicht den Wechsel einer Eigenschaft um Objekte zu unterscheiden, sondern die Eigenschaften selbst. Du erkennst Rot nicht weil es von Blau wechselt, sondern weil es Rot ist. Du siehst es auch als Rot, wenn alles Rot ist. Einen Gegenstand erkennst du an seinen Eigenschaften und nicht an seinen Grenzen. Du nimmst z.B. auch eine Kreisform wahr, wo eigentlich kein Kreis ist:
Code: Alles auswählen
   -----
 ---------
-----+-----
 ---------
   -----


Oder was sollte z.B. die Grenze zwischen 3 und 7 sein? Es gibt keine, es sind schlicht zwei unterschiedliche Qualitäten.
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Re: Illusionen

Beitragvon Lumen » So 24. Jun 2012, 21:43

ujmp hat geschrieben:Das ist m.E. nicht so, wir nutzen nicht den Wechsel einer Eigenschaft um Objekte zu unterscheiden, sondern die Eigenschaften selbst. [...]


Das ist korrekt, wenn ich Rot und Blau (bereits) unterscheiden kann. Aber du wirst Schwierigkeiten haben, genau dieses Rot zu erkennen, wenn es in einem fließenden Verlauf vorhanden ist. Diese Dinge sind z.B. in der Gestalttheorie festgehalten. Es gibt diverse optische Täuschungen, wo sich Farben vom Umfeld abhängig anders darstellen. Ich glaube außerdem, dass Eigenschaften, die immer gleich sind und die sich durch keinen Kontrast zeigen für uns intuitiv unsichtbar sind. Im Beispiel oben, glaube ich nicht, dass Menschen die Eigenschaft Hautfarbe überhaupt näher bezeichnen (obwohl sie wahrnehmbar ist), solange es keine abrupten Wechsel oder Sprünge der Eigenschaften aufgereiht gibt. Mit andern Worten, jemand mag "hellere" Haut oder "dunklere" Haut haben (relative Bezeichnungen), aber solange die Hautfarbe aller Dorfbewohner entlang einer fließenden Kontinuität abläuft, würde man nicht an einer beliebigen Stelle einen Schnitt machen und das halbe Dorf "lila-weiß Häute" und die andere "gelb-weiss Häute" nennen.
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Re: Illusionen

Beitragvon ujmp » So 24. Jun 2012, 22:20

Lumen hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Das ist m.E. nicht so, wir nutzen nicht den Wechsel einer Eigenschaft um Objekte zu unterscheiden, sondern die Eigenschaften selbst. [...]


Das ist korrekt, wenn ich Rot und Blau (bereits) unterscheiden kann. Aber du wirst Schwierigkeiten haben, genau dieses Rot zu erkennen, wenn es in einem fließenden Verlauf vorhanden ist.

Das ist offensichlich falsch. Man kann in einem Verlauf eine Tendenz beschreiben, die zum Rötlichen hingeht oder wegführt, weil Rot eine Wahrnehmungsqualität ist, nicht weil man eine Grenze wahrnimmt. Man kann auch in einem Grau oder ein Blau danach beurteilen ob es rötlich ist. Wir können Rot und blau unterscheiden, weil unsere Retina Sensoren für bestimmte Wellenlängen hat, nicht weil es Grenzen zwischen Farbflächen gibt.
Lumen hat geschrieben:Diese Dinge sind z.B. in der Gestalttheorie festgehalten. Es gibt diverse optische Täuschungen, wo sich Farben vom Umfeld abhängig anders darstellen.

Dazu muss man erstmal klären, was man mit Farbe meint. Der objektiv gleiche Stimulus (Farbe1, z.B. 600nm) kann unerschiedliche Wahrnehmungen (Farbe2) hervorrufen und unterschiedliche Stimuli können die selbe Wahrnehmung hervorrufen, was man aber wahrnimmt ist eine Wahrnehmungsqualität, z.B. Rot. Wenn jemand etwas als Rot (Farbe2) beurteilt, nimmt er Rot wahr, es ist dabei unerheblich ob das eine Täuschung ist oder nicht.
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Re: Illusionen

Beitragvon Nanna » So 24. Jun 2012, 23:43

Darth Nefarius hat geschrieben:Aber wieso sollten wir eine Illusion oder Vorstellung ablehnen und die andere nicht?

Die Frage ist doch, da sind wir uns im Groben glaube ich auch einig, dass die Herleitung konsistent und mit den physischen Gegebenheiten übereinstimmend erfolgen muss. Das Problem bestimmter Konstruktionen ist, dass sie sich auf Entitäten beziehen, von denen wir Naturalisten ziemlich sicher sind, dass sie nicht existieren. Meistens ist das Gott, dessen Existenz wir ablehnen und den wir folglich auch nicht als Quelle moralischer Handlungsanweisungen akzeptieren können. Nun gibt es aber auch diesseitige Moralphilosophien, die den Rückgriff auf transzendente Entitäten vermeiden, z.B. die Habermas'sche Diskursethik.

Ich würde sagen, dass sämtliche Konstrukte, die sich auf transzendente Entitäten in einem ersten Arbeitsschritt ausgemustert werden können. In einem zweiten würden wir uns dann die immanenten Moralkonzepte ansehen und auf innere Konsistenz und gültige Prämissen prüfen. Von denen, die übrig blieben, könnten wir im Prinzip relativ frei wählen, so wie wir, um bei der Softwaremetapher zu bleiben, auch zwischen Betriebssystemen wählen können.

Darth Nefarius hat geschrieben:Ich habe schon verstanden, dass es einen gewissen praktischen Nutzen für den Alltag hat, aber genügt das unserem Verständnis von Logik?

Gegenfrage: Ist Logik nicht auch ein Konstrukt, das wir genau und im Prinzip ausschließlich wegen seines praktischen Nutzens verwenden? Deine Radikalablehnung von Konstrukten ist meiner Meinung nach auf tönernen Füßen gebaut, weil sie genau hier ein Selbstanwendungsproblem hat.
Daher nochmal ein Hinweis auf den zentralen Kern meines vorigen Beitrags: Ich bezweifle, dass wir überhaupt außerhalb von Konstrukten denken können. Die einzige Möglichkeit den Konstrukten zu entkommen wäre, das Denken einzustellen. Von daher läuft es meines Erachtens mehr auf einen Wettbewerb der Konstrukten hinaus und nicht auf eine Radikalverdammung sämtlicher Konstrukte.

Darth Nefarius hat geschrieben:Was soll "korrespondieren" bedeuten?

Mit korrespondieren meine ich, dass es eine kausale Verbindung zwischen beiden gibt, die aber möglicherweise unscharf sein kann. Ändert sich eine physische Eigenschaft, ändert sich auch etwas in der Wahrnehmung und das wird im Rahmen eines Konstrukts nach bestimmten Mustern bzw. Regeln interpretiert, wobei verschiedene Weltanschauungen bzw. konstruierte Kontexte unterschiedliche Interpretationen nach sich ziehen. Der Physiker und der Schamane reagieren beide auf einen Blitz, aber beide völlig anders. Unbestreitbar ist dabei allerdings, dass der Blitz in beiden Denksystemen bestimmte Interpretationen nach sich zieht, d.h. auch der Schamane, dessen Verständnis vom Blitz unserer Meinung nach weiter von der Wirklichkeit weg ist als das des Physikers, denkt und handelt nicht losgelöst in einer gedanklichen Parallelwelt, sondern ist genauso mit der physischen Realität verbunden wie der Physiker. Beide Interpretationen des Blitzes sind gleichermaßen vom Auftreten des Blitzes abhängig und korrespondieren, man könnte auch sagen: interagieren, sind verbunden, reagieren, auf/mit dem/den Blitz.

Im Grunde ist eine etwas schwammige Verbundenheit mit der physischen Realität damit gemeint. Auch der Physiker hat übrigens kein "wahres" Bild des Blitzes, sondern nur eine sehr präzise Modellvorstellung, die nichtsdestotrotz eine Konstruktion bleibt. Allerdings korrespondiert das Bild des Physikers eben detailreicher mit der Wirklichkeit.

Darth Nefarius hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Auch Moral als "Software" einer Gesellschaft, die bestimmte soziale Funktionen ermöglicht, ist so eine metaphysische, aber dennoch potentiell immanente Konstruktion (wenn sie nicht transzendent begründet wird).

Der Religion könnte man den gleichen Nutzen zugestehen.

Richtig, aber ich mache ja kein reines Nutzenargument. Religion bezieht sich auf transzendente Entitäten und damit auf Konstrukte, die nicht nur Konstrukte sind, sondern sich darüberhinaus auf Transzendenz berufen. Das tun aber eben nicht alle Gedankenkonstrukte, manche, wie der Naturalismus, kommen auch ohne transzendente Postulate aus. Der Nutzen allein reicht nicht, das Konstrukt muss auch plausibel und konsistent sein. Und da gibt es eben sehr wohl Konstrukte, wie z.B. die Mathematik, die solche Anforderungen problemlos erfüllt und trotzdem ein Konstrukt bleibt. Du setzt meiner Meinung nach voreilig "Konstrukt" mit "frei zusammenfantasiert" gleich, dabei gibt es eben sehr große qualitative Unterschiede zwischen verschiedenen Konstrukten.

Darth Nefarius hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Ich würde aber auch nicht von "nur" einer Nützlichkeit im Alltag sprechen. Bestimmte Konstruktionen sind inhärente Voraussetzungen dafür, dass bestimmte soziale Prozesse überhaupt geschehen können. Das ist wie bei einem Computer, der ohne das Konstrukt des Betriebssystems mit konstruierten Verhaltensregeln für Benutzer und Hardware auch kein Brightsforum anzeigen kann.

Ja, aber du kannst eine falsche Gleichung nicht in den Computer programmieren. Die Gleichungen müssen seiner Logikwelt entsprechen und somit korrekt sein, das träfe auf die Moral und die Religion nicht in voller Konsequenz bei uns zu.

Das hat im Prinzip damit zu tun, was ich mit "korrespondieren" meinte. Wenn Softwarebefehle und Elektronenflüsse auf der Leiterplatte konsistent miteinander korrespondieren, funktioniert der Prozess, andernfalls kommt es zu nichtinterpretierbaren Ergebnissen, Endlosschleifen etc.

Das Problem mit Konstruktionen wie der Moral ist, dass wir hier über wesentlich komplexere Gebilde sprechen als einen im Vergleich doch recht banalen Rechner. Um an der Stelle weiterzukommen, müsstest du vermutlich erst einmal präzisieren, worin du die logische Inkonsistenz sieht. Geht es um innere Inkonsistenz? Oder geht es darum, dass bestimmte Konstrukte zwar intern logisch sind, aber unmöglich zu erfüllende Anforderungen an die soziale Wirklichkeit formulieren? Dann wäre die zu erwartende Gegenfrage, warum eine Sollen-Aussage ("So wäre es besser") überhaupt sinnvollerweise mit dem status quo übereinstimmen müsste, weil man dann schnell in der Tautologie "Es ist richtig, wie es ist, weil ist, was richtig ist" gefangen wäre.

Bei Religionen sehe ich die logische Problematik im Rückbezug auf [unserer Meinung nach] nicht existente Entitäten, womit die Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit enorme Defizite hat und nicht klar ist, warum man ein derart defizitäres Konzept anwenden sollte. Bei immanenten Moralphilosophien wird es aber schon schwieriger. Natürlich kann man sagen, dass beispielsweise Habermas' Postulat, dass Kommunikation nur möglich ist, wenn ihr die gegenseitige Achtung der Gesprächspartner als Personen vorausgeht, kaum mit den Mitteln der Physik nachzuweisen sein wird, aber andererseits bringt Habermas verdammt schlagende Argumentionen, die dafür sprechen, dass er eine "Wahrheit" beschreibt und nicht nur ein willkürliches Konstrukt schmiedet. Wenn wir in Abwesenheit dieser Anerkennung tatsächlich nicht miteinander reden können, diese Anerkennung also für gelingende Kommunikation (damit ist etwas anderes gemeint, als lediglich Information oder Befehle auszutauschen, nämlich sich ergebnisoffen über Konzepte zu verständigen) notwendige Voraussetzung ist, dann kann ich schwer glauben, dass wir auf dieses Konstrukt verzichten können, wenn wir nicht bereit sind, auch auf Kommunikation zu verzichten. Und ich denke, dass es hier um weitaus mehr geht, als um reine Nützlichkeit. Wenn ein konstruierter Baustein bei seinem Wegnehmen einen ganzen sozialen Prozess versemmelt, dann muss er in irgendeiner Weise einem physischen Zustand entsprechen (= mit der physischen Wirklichkeit korrespondieren). Wie gesagt: Ohne Software keine Computernutzung, ohne gelingende Kommunikation übrigens auch kein wissenschaftlicher Fortschritt.

Darth Nefarius hat geschrieben:Was unnötig für die Gleichung ist, kann rausgestrichen werden. Was Unlogisch ist, muss raus. Können wir uns nicht auf ein Weltbild wie in der Wissenschaft einigen, dass möglichst beweisbar ohne metaphysische Konstrukte auskommen will, einigen?

Sorry, aber ich glaube: Nein, das können wir wirklich nicht, das lässt diese physische Welt, in der wir offenbar existieren, schlichtweg nicht zu. Der Einigungsprozess wäre ja bereits von Gedankenkonstrukten gepflastert. Das Weltbild der Wissenschaft, falls es so etwas überhaupt gibt, kommt ja selbst schon nicht ohne ontologische Grundannahmen und damit Metaphysik aus. Natürlich hast du vollkommen Recht mit deiner Forderungen nach dem Eliminieren unlogischer Faktoren, das Problem ist nur, dass das, was in einem Kontext unlogisch ist, in einem anderen Sinn machen kann. Vielleicht wäre Luhmann's Systemtheorie was für dich, die ist unheimlich funktionslastig und versucht Gesellschaft sehr nicht-normativ zu beschreiben. Auch da gibt es aber Konflikte zwischen den Logiken unterschiedlicher gesellschaftlicher Subsysteme, die nicht so einfach durch eine alles überwölbende "Großlogik" aufgelöst werden können. Mit gewissen Unstimmigkeiten und Ambiguitäten muss man meiner Meinung nach einfach leben und die Streichung präskriptiver Eigenschaften aus dem Denksystem ist, meine ich, weder sinnvoll noch überhaupt möglich. Schon die Aussage "Wir sollen die Sollens-Eigenschaften streichen" ist ja in sich höchst inkonsequent und inkohärent.

Darth Nefarius hat geschrieben:Mich hat mein Ruf nie interessiert, das hat mir sowohl Verachtung als auch Bewunderung eingebracht.

Schreib bitte noch "Bedauern" mit auf die Liste.

Darth Nefarius hat geschrieben:Ich versuche mit wesentlich weniger Illusionen auszukommen, zumindest ohne die, die mir als Illusionen bewusst sind

Ich habe das selbst über mittlerweile Jahre so gehandhabt, dass ich alles, was mir zwischen die Finger kam, dekonstruiert und in Einzelbestandteile zerlegt habe, bis ich irgendwann festgestellt habe, dass mich das weder glücklich macht noch auf Dauer herausfordert. Die wirklich harte Nuss ist es, Konzepte herzustellen, die tatsächlich sowohl praktisch wie auch theoretisch was aushalten und die auf eine Weise konstruiert sind, die sie transparent und dekonstruierbar macht, ohne dass sie sich als Betrug herausstellen und nicht wieder zusammensetzen lassen. Ein gutes Konstrukt ist wie eine Maschine, deren Funktionieren jeder einsehen und (vielleicht mit etwas Grips und Mühe) nachvollziehen kann und deren Funktionsweise er anschließend akzeptieren kann. Und es gibt nicht viele Konstrukte, die das mitmachen, das gebe ich zu, aber ich sehe weder Logik, noch Notwendigkeit, noch überhaupt die Fähigkeit (sofern man nicht in einem dadaistisch-nihilistischen Wahnsinn enden will, der seinerseits wiederum auch eine krasse Illusion wäre und man für den hohen Preis des Verstandesverlusts also nichtmal etwas gewonnen hätte) das gedankliche Konstrukt als solches zu verdammen und sich dessen zu entledigen. Weniger Illusionen, ja, das kann ich mitgehen, das finde ich sinnvoll, Entzauberung von Illusionen und Umwandlung in transparente, im wahrsten Sinne "sinnvolle" Konstrukte, das stelle ich mir dagegen als (sogar einzigen) gangbaren Weg vor.
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Re: Illusionen

Beitragvon Dr Fraggles » Mo 25. Jun 2012, 00:16

@Darth nefarius:

Du suchst einen Nihilisten...sei gegrüsst.
Allerdings erachte ich die Frage ob "Gott" existiert als die weniger interessante Frage als jene nach den möglichen Funktionen Gottes, genauer: ob solche Funktionen vernünftig begründet werden können (Wirklichkeitsbegründung, Welterklärung, Sinnstiftung etc.). Ob Gott existiert lasse ich offen (das kann man ja weder beweisen noch widerlegen). Mein Haupteinwand ist jener, dass Gott funktional (gemessen an letzten Fragen/Bedürfnissen des/gewisser Menschen) versagen muss (o.k., auch hier könnte Gott dermassen anders sein als alles Vorstellbare, aber SO anders???).
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Re: Illusionen

Beitragvon ujmp » Mo 25. Jun 2012, 06:45

Lumen hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Das ist m.E. nicht so, wir nutzen nicht den Wechsel einer Eigenschaft um Objekte zu unterscheiden, sondern die Eigenschaften selbst. [...]


Das ist korrekt, wenn ich Rot und Blau (bereits) unterscheiden kann. Aber du wirst Schwierigkeiten haben, genau dieses Rot zu erkennen, wenn es in einem fließenden Verlauf vorhanden ist.


Wenn ein Fleck auf einem grünen Hintergrund und ein zweiter Fleck der selben Farbe auf einem blauen Hintergrund gesehen wird, beseteht die Ähnlichkeit oder die Gleichheit der Farbe dieser beiden Flecken offensichtlich nicht in ihrer Begrenzung.

Farbe ist aber ein sehr gutes Besipiel, um über Wahrnehmung und Illusionen zu sprechen!
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Re: Illusionen

Beitragvon stine » Mo 25. Jun 2012, 07:08

Dr Fraggles hat geschrieben:@Darth nefarius:

Du suchst einen Nihilisten...sei gegrüsst.

Habt ihr Nihilisten euch eigentlich noch nie gefragt, ob die Menschheit ohne Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung überhaupt bis zum Status quo gekommen wäre?
Wie hätte sich das Tier Mensch eurer Meinung nach denn bis hierher entwickeln sollen?
Wo würden wir, wären wir allesamt Nihilisten, denn heute als Gesellschaft stehen und gäbe es denn dann überhaupt eine solche?
Mich würde mal interessieren, wie ihr den Nihilismus fiktiv zu Ende denkt.

LG stine
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Re: Illusionen

Beitragvon laie » Mo 25. Jun 2012, 08:22

@Stine

Im Grunde lebt in dieser Debatte der Universalienstreit weiter: gibt es Abstrakta? Ob man, wenn man Abstrakta leugnet, gleich jede Moral, Ethik, Glaube, Wissenschaft, kurz: alle höheren Kulturleistungen leugnen muss, wäre ein interessantes zusätzliches Thema. Darth Nefarius scheint diese Konsequenz zu ziehen.

Der Universalienstreit wird noch dadurch kompliziert, daß man sich angewöhnt hat, nicht zwischen Begriffen wie "Existenz" (bzw. "existieren"), "Sein", "Seiend", "Wesen" zu unterscheiden. Daher meint man, die realistische Position sei es, die Existenz von Abstrakta zu behaupten. Existenz kommt von "exsistere" und das kann man übersetzen mit "heraustreten". Dinge, die existieren, sind also aus etwas herausgetreten, und zwar aus dem Sein. Daher nennt eine bestimmte Denkrichtung die Dinge, die existieren, auch seiend. Das Sein ist jetzt freilich die grundlegende metaphysische Kategorie, ohne die nichts ist.

Wenn also überhaupt, dann wird in der realistischen Position nicht behauptet, daß Entitäten wie Güte, Gnade, Geist, Gott usw. existieren, sondern daß sie "seiend" sind bzw sind.
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Re: Illusionen

Beitragvon Lumen » Mo 25. Jun 2012, 10:00

ujmp hat geschrieben:Wenn ein Fleck auf einem grünen Hintergrund und ein zweiter Fleck der selben Farbe auf einem blauen Hintergrund gesehen wird, beseteht die Ähnlichkeit oder die Gleichheit der Farbe dieser beiden Flecken offensichtlich nicht in ihrer Begrenzung. Farbe ist aber ein sehr gutes Besipiel, um über Wahrnehmung und Illusionen zu sprechen!


Auch das ist korrekt. Mir ging es um die Bildung von Konzepten und ihrer Entsprechung zur Welt. Wenn wir bei Farben bleiben. Wir können Grundfarben und das Lernen ihrer Entsprechung und Begriffsbildung wohl nicht verlernen und auch nicht auf den Status des noch-nicht-gelernten zurückkommen. Evidenterweise hat aber nicht jedes Rot einen eigenen Namen und die meisten Menschen haben für verschiedene Rottöne keinen Begriff. Die Notwendigkeit verschiedene Rottöne überhaupt zu benennen steht mit der Nützlichkeit im Zusammenhang und auch hier ist die Grenzziehung (wie genau das Farbband aufgeteilt wird) letztlich (ultimativ) willkürlich. Wenn es auf der Welt nur einen Farbverlauf geben würde, dann würden Menschen entlang überlebens-nützlicher Kontraste die Begriffe bilden, die durch passende Wahrnehmungszellen erkennbar sind. Die Kategorienbildung unserer Farben wird sich, meine Annahme, entlang der Wahrnehmungsszellen (Stäbchen und Zapfen) im Auge gebildet haben. Es gibt drei verschiedene Sorten von Farbsehzellen, also wird das Aufteilen eines Farbspektrums in Begriffe etwa der Spezialiserung und Zusammenspiel der Zellen entsprechen, und das ist auch so wenn wir einfach mal Goethes Beispiel sehen die —meine Meinung— nicht zufällig so vorgenommen wurde.

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Re: Illusionen

Beitragvon Darth Nefarius » Mo 25. Jun 2012, 16:43

Nanna hat geschrieben:Die Frage ist doch, da sind wir uns im Groben glaube ich auch einig, dass die Herleitung konsistent und mit den physischen Gegebenheiten übereinstimmend erfolgen muss. Das Problem bestimmter Konstruktionen ist, dass sie sich auf Entitäten beziehen, von denen wir Naturalisten ziemlich sicher sind, dass sie nicht existieren. Meistens ist das Gott, dessen Existenz wir ablehnen und den wir folglich auch nicht als Quelle moralischer Handlungsanweisungen akzeptieren können. Nun gibt es aber auch diesseitige Moralphilosophien, die den Rückgriff auf transzendente Entitäten vermeiden, z.B. die Habermas'sche Diskursethik.

Nein, mir ist keine Moralphilosophie bekannt, die nicht auf bestimmten metaphysischen Konstrukten aufbaut (sei es "das Gute"/"Selbstlosigkeit"/"Die Pflicht"/"Die Tugend(en)"/"Freiheit"/"Der freie Wille",etc.), folglich sind Moral und Ethik als Konstrukte auch nicht konsistent. Du kannst mir gerne die Diskursethik nahebringen, ich bin mri sicher, dass irgendeiner dieser Punkte in Voraussetzungen oder in der Motivation auftreten soll.
Nanna hat geschrieben:Ich würde sagen, dass sämtliche Konstrukte, die sich auf transzendente Entitäten in einem ersten Arbeitsschritt ausgemustert werden können. In einem zweiten würden wir uns dann die immanenten Moralkonzepte ansehen und auf innere Konsistenz und gültige Prämissen prüfen. Von denen, die übrig blieben, könnten wir im Prinzip relativ frei wählen, so wie wir, um bei der Softwaremetapher zu bleiben, auch zwischen Betriebssystemen wählen können.

Inwiefern ist eine allgemeine Mora/Ethik nicht ein auf transzendente Entitäten basierendes Konstrukt? Ich halte sie für genauso ireell wie einen Gott, sie sind nutzlos, nicht begründbar, nicht notwendig oder auf den zweiten Blick erstrebenswert.
Nanna hat geschrieben:Gegenfrage: Ist Logik nicht auch ein Konstrukt, das wir genau und im Prinzip ausschließlich wegen seines praktischen Nutzens verwenden?

Hmm, gute Frage, allerdings basiert es nicht auf transzendenten Vorraussetzungen. Wir gehen ja aus praktischen Gründen von Gleichförmigkeit und Kausalität aus (auch wenn die Antizipation nach Hume formell nicht logisch ist, damit widerspricht er sich aber selbst, wenn er mit Logik argumentiert). kausalität können wir beobachten, Gleichförmigkeit auch, also ist die Logik ein höherwertigeres Konstrukt als die Moral/Ethik, die lediglich ihren vermeindlichen praktischen Nutzen vorzuweisen hat.
Nanna hat geschrieben:Deine Radikalablehnung von Konstrukten ist meiner Meinung nach auf tönernen Füßen gebaut, weil sie genau hier ein Selbstanwendungsproblem hat.
Daher nochmal ein Hinweis auf den zentralen Kern meines vorigen Beitrags: Ich bezweifle, dass wir überhaupt außerhalb von Konstrukten denken können. Die einzige Möglichkeit den Konstrukten zu entkommen wäre, das Denken einzustellen. Von daher läuft es meines Erachtens mehr auf einen Wettbewerb der Konstrukten hinaus und nicht auf eine Radikalverdammung sämtlicher Konstrukte.

Nun gut, dann benutze ich wieder den Begriff Illusion, um nicht die Diskussion auf die Sprache und das Denken auszuweiten. Konstrukte haben meist einen praktischen Nutzen, manche wie die Logik lassen sich auch durch Empirik begründen. Ich bezeichne mal die Konstrukte oder Illusionen als ablehnenswert, die nicht über ihren vermeindlichen praktischen Nutzen in der Begründung hinausgehen. Dazu gehört für mich die Ethik oder die Freiheit, der freie Wille, usw..
Nanna hat geschrieben:Mit korrespondieren meine ich, dass es eine kausale Verbindung zwischen beiden gibt, die aber möglicherweise unscharf sein kann.

Damit könntest du jedes Konstrukt als korrespondierend betrachten. Sie "korrespondieren" doch schon, wenn wir sie in unserem Denken anwenden.
Das reicht nicht als Begründung, um ein Konstrukt zu legitimieren.
Nanna hat geschrieben:[...]d.h. auch der Schamane, dessen Verständnis vom Blitz unserer Meinung nach weiter von der Wirklichkeit weg ist als das des Physikers, denkt und handelt nicht losgelöst in einer gedanklichen Parallelwelt, sondern ist genauso mit der physischen Realität verbunden wie der Physiker. Beide Interpretationen des Blitzes sind gleichermaßen vom Auftreten des Blitzes abhängig und korrespondieren, man könnte auch sagen: interagieren, sind verbunden, reagieren, auf/mit dem/den Blitz.

Genau das meine ich, mit "korrespondieren" hast du eine schlechte Wahl zur Begründung getroffen. Oder hälst du das Weltbild des Schamanen für ebenso berechtigt wie das des Physikers? Ich nicht, aus genannten Gründen.
Nanna hat geschrieben:Im Grunde ist eine etwas schwammige Verbundenheit mit der physischen Realität damit gemeint. Auch der Physiker hat übrigens kein "wahres" Bild des Blitzes, sondern nur eine sehr präzise Modellvorstellung, die nichtsdestotrotz eine Konstruktion bleibt. Allerdings korrespondiert das Bild des Physikers eben detailreicher mit der Wirklichkeit.

So, und fällt dir kein Problem auf? Nochmal zur Ursprungsfrage: Warum kann ein Bright die Existenz eines Gottes ablehnen, aber nicht die Existenz anderer Illusionen, die genauso stark mit der "Realität" "korrespondieren"?
Im Grunde hast du mir keine Antwort geliefert.
Nanna hat geschrieben:Richtig, aber ich mache ja kein reines Nutzenargument. Religion bezieht sich auf transzendente Entitäten und damit auf Konstrukte, die nicht nur Konstrukte sind, sondern sich darüberhinaus auf Transzendenz berufen. Das tun aber eben nicht alle Gedankenkonstrukte, manche, wie der Naturalismus, kommen auch ohne transzendente Postulate aus.

Doch, im Grunde war dies nur ein Nutzargument. Der Naturalismus und Logik mag ohne Transzendenz auch noch in 3. /4. Begründung auskommen, allerdings nicht die Ethik oder die Idee von Freiheit (wenn wir den vermeindlcihen Nutzen beiseite lassen).
Nanna hat geschrieben:Der Nutzen allein reicht nicht, das Konstrukt muss auch plausibel und konsistent sein. Und da gibt es eben sehr wohl Konstrukte, wie z.B. die Mathematik, die solche Anforderungen problemlos erfüllt und trotzdem ein Konstrukt bleibt. Du setzt meiner Meinung nach voreilig "Konstrukt" mit "frei zusammenfantasiert" gleich, dabei gibt es eben sehr große qualitative Unterschiede zwischen verschiedenen Konstrukten.

Ja, mir ist klar, dass der Nutzen nicht reicht, aber schon beim Schamanen hast du keine weitergehende Begründung für andere Kosntrukte geliefert. Die Mathematik entspricht in sehr präziser Art und Weise unserer Wahrnehmung, der Logik und lässt uns genauer antizipieren. Sie fußt nicht auf Transzendenz. Und man muss die Mathematik eigentlich nicht als Konstrukt bezeichnen, vielmehr eine Art Verhaltensformel zur Verarbeitung von numerischen Informationen, eine Methode. Methoden sind Methoden und keine Konstrukte. Die Ethik würde ich nicht als Methode betrachten, sie ist ein Dogma, das wesentlich unpräziser ist.
Nanna hat geschrieben:Das hat im Prinzip damit zu tun, was ich mit "korrespondieren" meinte. Wenn Softwarebefehle und Elektronenflüsse auf der Leiterplatte konsistent miteinander korrespondieren, funktioniert der Prozess, andernfalls kommt es zu nichtinterpretierbaren Ergebnissen, Endlosschleifen etc.

Diese Endlosschleifen treten auch bei der Moral auf. Vielleicht ist dein Vergleich mit dem PC nicht angebracht, es ist längst nicht jeder Mensch in der Lage, eine Endlosschleife zu erkennen, schließlich existiert die Vorstellung eines Gottes, obwohl wir uns hier einig sind, dass dies eines der unlogischsten Konstrukte ist. Genau das hast du leider mit "korrespondieren" gemeint. Wie gesagt, wenn du damit kommst, lässt sich auch der Gottesglaube erklären und begründen.
Nanna hat geschrieben:Das Problem mit Konstruktionen wie der Moral ist, dass wir hier über wesentlich komplexere Gebilde sprechen als einen im Vergleich doch recht banalen Rechner. Um an der Stelle weiterzukommen, müsstest du vermutlich erst einmal präzisieren, worin du die logische Inkonsistenz sieht.

Nö, die sind nicht komplexer als Religionen: 1. Die Form ist ein Imperativ. 2. Die Begründung so und so zu handeln entspringt transzendenten Konstrukten (die ich schon genannt habe).
Das war auch schon alles.
Die religion ist so betrachtet sogar komplexer als die Ethik.
Ich sehe logische Inkonsistenz in der Begründung durch vermeindlichen Nutzen und/oder durch Metaphysik.
Nanna hat geschrieben:Geht es um innere Inkonsistenz? Oder geht es darum, dass bestimmte Konstrukte zwar intern logisch sind, aber unmöglich zu erfüllende Anforderungen an die soziale Wirklichkeit formulieren? Dann wäre die zu erwartende Gegenfrage, warum eine Sollen-Aussage ("So wäre es besser") überhaupt sinnvollerweise mit dem status quo übereinstimmen müsste, weil man dann schnell in der Tautologie "Es ist richtig, wie es ist, weil ist, was richtig ist" gefangen wäre.

Was meinst du mit "innere" Inkonsistenz (Inkontinenz :lachtot: )??
Widersprüche? Die sehe ich auch in mir jeder bekannten Ethik oder Moralvorstellung. Die zweite Frage hängt in gewisser Weise mit der ersten zusammen. Es kann nichts intern logisch sein, wenn es nicht der Wirklichkeit enspricht oder sich auf sie bezieht. Tautologische begründungen sind auch intern nicht logisch.
Nanna hat geschrieben:Bei Religionen sehe ich die logische Problematik im Rückbezug auf [unserer Meinung nach] nicht existente Entitäten, womit die Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit enorme Defizite hat und nicht klar ist, warum man ein derart defizitäres Konzept anwenden sollte. Bei immanenten Moralphilosophien wird es aber schon schwieriger.

Ja, aber genauso sit es doch mit jeder Ethik! Ich betrachte die Religion als wesentlich komplexer als jede Moralphilosophie; Jede Religion beinhaltet schon selbst eine Moralphilosophie.
Nanna hat geschrieben:Natürlich kann man sagen, dass beispielsweise Habermas' Postulat, dass Kommunikation nur möglich ist, wenn ihr die gegenseitige Achtung der Gesprächspartner als Personen vorausgeht, kaum mit den Mitteln der Physik nachzuweisen sein wird, aber andererseits bringt Habermas verdammt schlagende Argumentionen, die dafür sprechen, dass er eine "Wahrheit" beschreibt und nicht nur ein willkürliches Konstrukt schmiedet.

Er drückt sich schlichtweg ungeschickt aus, mit "Wahrheit" verläufst du dich in deiner Begründung. Ich bin mir sicher, dass eher Aufmerksamkeit (ganz banal) gemeint ist. Allerdings ist das weit weg von Achtung. Ich kann jemanden zutiefst verachten und im trotzdem genau zuhören, seine Motive, seine Welt und seine Ziele kennen und so mit ihm kommunizieren. Wenn wir also gnädig mit ihm sein wollen, sollte man das so sehen.
Nanna hat geschrieben:Wenn wir in Abwesenheit dieser Anerkennung tatsächlich nicht miteinander reden können, diese Anerkennung also für gelingende Kommunikation (damit ist etwas anderes gemeint, als lediglich Information oder Befehle auszutauschen, nämlich sich ergebnisoffen über Konzepte zu verständigen) notwendige

Nein, Stalin und Churchill haben sich zutiefst verachtet und trotzdem gewisse Einigungen treffen können.
Nanna hat geschrieben:Voraussetzung ist, dann kann ich schwer glauben, dass wir auf dieses Konstrukt verzichten können, wenn wir nicht bereit sind, auch auf Kommunikation zu verzichten.

Wie gesagt, die Geschichte zeigt uns, dass Achtung nicht notwendig ist, um zu kommunizieren und Kompromisse zu schließen. Dieser Habermann scheint mir kein Politiker gewesen zu sein.
Nanna hat geschrieben:Und ich denke, dass es hier um weitaus mehr geht, als um reine Nützlichkeit. Wenn ein konstruierter Baustein bei seinem Wegnehmen einen ganzen sozialen Prozess versemmelt, dann muss er in irgendeiner Weise einem physischen Zustand entsprechen (= mit der physischen Wirklichkeit korrespondieren). Wie gesagt: Ohne Software keine Computernutzung, ohne gelingende Kommunikation übrigens auch kein wissenschaftlicher Fortschritt.

Und nochmal: Wenn du einen religiösen Ritus nicht korrekt ausführst, kannst du auch soziale Probleme bekommen (eine physische Korrespondenz).
Nanna hat geschrieben:Sorry, aber ich glaube: Nein, das können wir wirklich nicht, das lässt diese physische Welt, in der wir offenbar existieren, schlichtweg nicht zu. Der Einigungsprozess wäre ja bereits von Gedankenkonstrukten gepflastert. Das Weltbild der Wissenschaft, falls es so etwas überhaupt gibt, kommt ja selbst schon nicht ohne ontologische Grundannahmen und damit Metaphysik aus.

Einigung ist durchaus möglich, wir müssen nicht in letzter Konsequenz das gleiche unter dem Kompromiss verstehen (es gibt immer Interpretationsspielraum), aber zu sagen wir 95% einer Meinung in einem bestimmten Punkt sein. Nach nichts anderem habe ich gefragt, von anderem gehe ich nicht aus.
Und ja, ich denke schon, dass es ein Weltbild der Wissenschaft gibt, welche metaphysischen Annahmen soll es denn bitte beinhalten?
Nanna hat geschrieben: Natürlich hast du vollkommen Recht mit deiner Forderungen nach dem Eliminieren unlogischer Faktoren, das Problem ist nur, dass das, was in einem Kontext unlogisch ist, in einem anderen Sinn machen kann.

Gewisse Dinge "machen" niemals "Sinn". In Frankreich ist eine Gottesvorstellung genausowenig Sinn wir in China. Beim Schlafen genausowenig wie beim Autofahren.
Logik ist Situationsunabhängig.
Nanna hat geschrieben:Mit gewissen Unstimmigkeiten und Ambiguitäten muss man meiner Meinung nach einfach leben und die Streichung präskriptiver Eigenschaften aus dem Denksystem ist, meine ich, weder sinnvoll noch überhaupt möglich. Schon die Aussage "Wir sollen die Sollens-Eigenschaften streichen" ist ja in sich höchst inkonsequent und inkohärent.

Aber wieso einen Widerspruch dulden und den anderen nicht? Das "Sollen" zu streichen ist nebenbei kein Befehl oder keine Aufforderung, sondern ein Konzept, ein Vorschlag, der nicht beansprucht mehr zu sein (sofern du dich auf meine Kritik in anderen Beiträgen beziehst).
Nanna hat geschrieben:Schreib bitte noch "Bedauern" mit auf die Liste.

Dein Hochmut ist unangebracht. Ich kann durchaus das Bild der Menschen von mir erkennen und verstehen, es nutzen. Aber es interessiert mich nicht in erster Priorität, höchstens in zweiter, wenn ich einen Nutzen erstrebe.
Nanna hat geschrieben:Ich habe das selbst über mittlerweile Jahre so gehandhabt, dass ich alles, was mir zwischen die Finger kam, dekonstruiert und in Einzelbestandteile zerlegt habe, bis ich irgendwann festgestellt habe, dass mich das weder glücklich macht noch auf Dauer herausfordert.

Och, wie weit bist du denn gekommen? Bis zum Nihilismus? Mich macht es sehr zufrieden, ein logischeres Weltbild zu besitzen als andere, ich habe dadurch (bewusst metaphyisch ausgedrückt) "inneren Frieden", mein "Nirvana" (Stichwort: Nihilismus) gefunden. Mir bereitet Unlogik Schmerzen.
Nanna hat geschrieben:Die wirklich harte Nuss ist es, Konzepte herzustellen, die tatsächlich sowohl praktisch wie auch theoretisch was aushalten und die auf eine Weise konstruiert sind, die sie transparent und dekonstruierbar macht, ohne dass sie sich als Betrug herausstellen und nicht wieder zusammensetzen lassen.

Das wäre der zweite Schritt, wie es Nietzsche schon festgestellt hat. Bei mir sind einige dieser Konstrukte Empirismus, Egoismus, Utilitarismus.
Das ist aber wesentlich einfacher als schlechte Konstukte als solche zu entlarven. Wenn ich beispielsweise den Theismus als schlechtes Konstrukt identifiziere, ist der "A-theismus" schon quasi die Folge daraus.
Nanna hat geschrieben:Weniger Illusionen, ja, das kann ich mitgehen, das finde ich sinnvoll, Entzauberung von Illusionen und Umwandlung in transparente, im wahrsten Sinne "sinnvolle" Konstrukte, das stelle ich mir dagegen als (sogar einzigen) gangbaren Weg vor.

Gut, dann sind wir uns in diesem Punkt sogar einig. Allerdings unterscheidet sich unsere Wahrnehumung der "sinnvollen" Illusionen.
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Re: Illusionen

Beitragvon Darth Nefarius » Mo 25. Jun 2012, 16:54

Dr Fraggles hat geschrieben:Allerdings erachte ich die Frage ob "Gott" existiert als die weniger interessante Frage als jene nach den möglichen Funktionen Gottes, genauer: ob solche Funktionen vernünftig begründet werden können

Das meine ich gar nicht. Ich will gerade dieses pedantische Einschießen auf die Gottesvorstellung loswerden und auf andere Illusionen aufmerksam machen. Illusionen lassen sich leicht begründen, allerdings halten sie nicht einem durchdachten System als Ersatz stand.
Dr Fraggles hat geschrieben: (Wirklichkeitsbegründung, Welterklärung, Sinnstiftung etc.).

Ist mir alles bekannt, ich werde ja vom Religiösen nicht annehmen, dass er ohne egoistische Begründung (sie mag auch unbewusst sein) einfach so an Gott glaubt. Diese Begründungen speisen sich aus Bedürfnissen: Nach Unsterblichkeit, Freigheit aber auch Anleitung, Sinn, Ursprung, Gerechtigkeit, bla, bla, ...Apfelkuchen.
Dr Fraggles hat geschrieben:Ob Gott existiert lasse ich offen (das kann man ja weder beweisen noch widerlegen).

Etwas feige, die wissenschaftlichere Position wäre zu sagen, dass ich keinen Anlass habe, an Gott zu glauben.
Wenn etwas weder beweis- noch widerlegbar ist, taugt es zu nichts (wie viele mir bezüglich des Egoismus weismachen wollten, dass dies auf selbigen zutrifft).
Dr Fraggles hat geschrieben: Mein Haupteinwand ist jener, dass Gott funktional (gemessen an letzten Fragen/Bedürfnissen des/gewisser Menschen) versagen muss (o.k., auch hier könnte Gott dermassen anders sein als alles Vorstellbare, aber SO anders???).

Am ehesten könnte ich mir ein grausames Kind mit einer Lupe vorstellen. Das hat eine gewisse Berechtigung. Aber gerade dann ist der Atheismus noch als Weltbild geeignet. Sofern dir Kratos etwas sagt - wäre die Vernichtung der Götter/des Gottes ein logisches Ziel bei dessen Existenz. Die Büchse der Pandora ist die Wissenschaft - die Macht einen Gott zu töten (das ist buchstäblich auf alles, was uns als "natürliche" Grenze aufgezwungen zu sein scheint, bezogen).
stine hat geschrieben:Habt ihr Nihilisten euch eigentlich noch nie gefragt, ob die Menschheit ohne Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung überhaupt bis zum Status quo gekommen wäre?

Doch, ich denke, die Menscheit wäre viel weiter. Fanatismus und Starrheit des Glaubens wäre nicht möglich, man würde seine Wahrheiten nach ihrer Nützlichkeit bewusst austauschen, ohne Konflikte.
stine hat geschrieben:Wie hätte sich das Tier Mensch eurer Meinung nach denn bis hierher entwickeln sollen?

Ich empfinde kein "Sollen", ich fordere es nicht. Ich denke, der Nihilismus hätte uns einiges an Leid - basierend auf Dogmen - erspart, die Gesellschaft wäre flexibler, weniger emotional, weniger irrational. Zumindest beobachte ich bei mir, dass ich seit meinem mehr oder weniger nihilistischen Weltbild wesentlich entspannter bin.
stine hat geschrieben:Wo würden wir, wären wir allesamt Nihilisten, denn heute als Gesellschaft stehen und gäbe es denn dann überhaupt eine solche?
Mich würde mal interessieren, wie ihr den Nihilismus fiktiv zu Ende denkt.

"Gesellschaft" ist ein flexibler Begriff. Die einen erkennen ein "christlich-jüdisches Abendland", die anderen eine geographische Zweckgemeinschaft. Dieser Begriff ist sehr dehnbar, als Nihilist würde man das erkennen und niemanden ausschließen wollen. Daraus müsste keinsewegs Anarchie entstehen, wenn man das Bedürfnis nach Effizienz hat, kann man eine Organisation aufgrund von "empfundenen" Gemeinschaften aufbauen. Letztlich ist es das, was wir schon heute beobachten können, lediglich unbewusst.
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