Was ist Kultur?

Was ist Kultur?

Beitragvon fopa » Mi 19. Dez 2012, 11:35

Auf Wunsch eines einzelnen Herrn und da an verschiedenen Stellen immer wieder die Frage auftaucht, was Kultur ist, woher sie kommt und wie sie uns beeinflusst und wir sie beeinflussen, mache ich dazu ein neues Thema auf. Zudem habe ich keinen Thread gefunden, der dieses Thema schon einmal separat beleuchtet hat.
Ich empfinde es auch als absolut grundlegend für viele andere Themen wie "die westlichen Werte", "Religion und Glaube" oder "warum lesen wir von links nach rechts?".

Religionen sind ja Teil der Kultur, was hier schon angrissen wurde: Warum gibt es Religionen?, und die Theorie der Meme wurde in diesem Thread schon einmal besprochen, verlor sich jedoch zunächst in eine Diskussion über Reduktionismus, während sich später über die Systemische Evolutionstheorie gestritten wurde. Es ging also hauptsächlich um grundlegende Mechanismen der Selektion.

Es gibt aber noch andere Ansätze, die Bildung und die Mechanismen von Kultur zu erklären. Diese Arbeit von David Mihola stellt zumindest einige naturalistisch (siehe auch Kulturethologie) geprägte vor (Kap. 2.4.3): http://othes.univie.ac.at/2778/1/2008-11-11_9902433.pdf

Ein Überblick (Auszüge aus den Wikipedia-Artikeln) ohne Anspruch auf Vollständigkeit, den man sich durchlesen kann, aber nicht unbedingt muss :sign!: :
  • Der Kulturmaterialismus führt Kultur auf ihre materiellen Voraussetzungen zurück, also auf Geographie, Klima, Umweltbedingungen. Kulturen sind demnach Systeme, die sich an gegebene Umweltbedingungen anpassen und ausgehend von Ökologie und Geographie zu erklären sind. Die Theorie basiert auf Ansätzen des marxistischen Materialismus und der Evolutionstheorie. Das dieser Theorie zu Grunde liegende Prinzip des infrastrukturellen Determinismus besagt, dass die Umweltbedingungen bzw. die natürlichen Ressourcen die ökonomischen Bedingungen und das Bevölkerungswachstum bzw. die Reproduktionsmöglichkeiten von Kultur und Gesellschaft determinieren.
  • Die Soziobiologie analysiert die biologischen Vorgänge, auf denen die Organisation solcher Einheiten wie der Verband von Eltern und ihren Nachkommen, Termitenkolonien, Vogelscharen, Pavianhorden und Jäger- und Sammlerbanden beruht. Das wirklich Neue an dieser Disziplin ist die Zusammenführung älterer Ansätze aus der Ethologie und der Psychologie mit neuen Resultaten aus Feldstudien und Laborversuchen sowie die Interpretation des Ganzen auf der Grundlage der modernen Genetik, der Ökologie und der Populationsbiologie.
    Die Komplexität menschlichen Verhaltens sowie das Vorhandensein einer ethischen und moralischen Ebene erschwert die Forschung. Dennoch hat sich die Soziobiologie bemüht, anhand von Untersuchungen menschlicher Gesellschaften zu zeigen, dass auch menschliches Verhalten einer natürlichen Auswahl unterliegt und Anpassungscharakter hat. Übereinstimmungen im Verhalten von Menschen verschiedener Gesellschaften deuten auf ein Vorhandensein biologischer Faktoren hin und können mit Hilfe der Evolutionstheorie erklärt werden. Während sich die konventionelle Soziobiologie zunächst nur mit der Analyse allgemeiner Verhaltensweisen, ihrer Bedeutung, ihren Vorteilen sowie ihrer genetischen Grundlage unter Einbeziehung der jeweiligen Umweltsituation beschäftigt hat, konnten viele Aspekte menschlichen Handelns erst durch die Annahme einer Koevolution von genetischer Vererbung und kultureller Tradierung von Verhalten erklärt werden. Diese Annahme ermöglichte eine integrative Sicht von Biologie und Sozial- beziehungsweise Humanwissenschaften; sie wurde beispielsweise durch Konrad Lorenz in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels ausformuliert.
  • Die Mem-Theorie: Ein Mem bezeichnet einen einzelnen Bewusstseinsinhalt (zum Beispiel einen Gedanken), der durch Kommunikation weitergegeben und damit vervielfältigt werden kann. Dies trägt zur soziokulturellen Evolution bei. Als Memetik wird das daraus abgeleitete Prinzip der Informationsweitergabe bezeichnet. Das Mem findet seinen Niederschlag in der ,,Memvorlage" (im Gehirn oder einem anderen Speichermedium) und der ,,Memausführung" (zum Beispiel Kommunikation). Die Vernetzung von einander bedingenden Memen wurde von Dawkins zunächst als ,,koadaptiver Mem-Komplex" (,,coadapted meme complex") bezeichnet, was später zum Kunstwort Memplex zusammengezogen wurde.
  • Die Epidemiologie der Repräsentationen / die Konnektionistische Kulturtheorie: Den (sehr materialistischen) epidemiologischen Ansatz nach Dan Sperber erläutert Mihola in seiner Arbeit im Kap. 2.3. Ich versuche, diese Erklärung kurz zusammenzufassen und -zuschneiden:
    Mit Repräsentationen meint Sperber etwas (z.B. ein Gehirnzustand oder ein Artefakt), das von einem informationsverarbeitenden Ding (z.B. einem mentalen Mechanismus, einem Individuum, einer Organisation) so produziert wurde, dass es Informationen über ein Ereignis oder einen Zustand enthält, die wiederum von einem anderen informationsverarbeitendem Ding genutzt werden können (oder demselben zu einem späteren Zeitpunkt). Jedes materielle Phänomen, das für einen bestimmten Betrachter eine bestimmte Bedeutung hat, ist also in diesem Sinne eine Repräsentation. Der wesentliche Punkt ist hier, dass all diese bedeutungstragenden Phänomene letztendlich konkrete materielle Phänomene sind. Sperber unterscheidet weiter zwischen mentalen Repräsentationen und öffentlichen Repräsentationen: Bei ersteren handelt es sich um jene Repräsentationen, die nur einem Individuum zugänglich sind; bei letzteren um alle Repräsentationen, die sich außerhalb des Individuums befinden und daher anderen Individuen zugänglich sind. Die verschiedenen Repräsentationen schließen sich nun im Normalfall zu Kognitiven Kausalketten zusammen (Cognitive Causal Chains, kurz CCCs), also zu Ketten von mentalen und öffentlichen Repräsentationen, die kausal miteinander verbunden sind. Aus der obigen Defintion mentaler Repräsentationen geht hervor, dass viele Repräsentationen von einem kognitiven System (z.B. einem Menschen) produziert und von einem anderen verarbeitet werden; auf diese Weise verbinden die öffentlichen Repräsentationen mehrere kognitive Systeme (Menschen) miteinander. Wesentlich ist hier, dass auch die kognitiven Kausalketten letztendlich Verkettungen materieller kausaler Prozesse sind. Sperber bezeichnet diese Untergruppe von Kognitiven Kausalketten, in welchen mehrere kognitive Systeme (Menschen) über ihre Umwelt im Austausch stehen, als Soziale Kognitive Kausalketten (Social Cognitive Causal Chains, kurz SCCCs). Bei all diesen Prozessen werden Informationen übermittelt; aber auch Information ist letztendlich ein materielles Phänomen. Zu einer Kulturtheorie werden diese Überlegungen mit dem nächsten Schritt: Manche dieser "informationserhaltenden" SCCCs können sich über eine große Anzahl von Individuen in einer Population erstrecken und so dazu führen, dass alle Mitglieder der Gruppe dieselben oder zumindest ähnliche mentale Repräsentationen teilen. Diese kognitiven Kausalketten bezeichnet Sperber als Kulturelle Kognitive Kausalketten (Cultural Cognitive Causal Chains, kurz CCCCs;), und die Repräsentationen, zu deren Verbreitung sie beitragen, nennt er kulturelle Repräsentationen. Kultur setzt sich also zusammen aus weit verbreiteten mentalen und öffentlichen Repräsentationen (Ideen, Artefakten etc.) und aus den Kausalketten, die zu ihrer Verbreitung führen. Genauso, wie sich die medizinische Epidemiologie mit der Verbreitung von Krankheiten in Menschenpopulationen beschäftigt, untersucht der epidemiologische Zugang zu Kultur die Verbreitung von Ideen in Menschengruppen (ähnlich wie die Mem-Theorie).
    Die Unterschiede zur Konnektionistischen Kulturtheorie (von Claudia Strauss und Naomi Quinn) bestehen laut Mihola hauptsächlich im Kognitionsmodell und im Lernprozess, sind also für eine grundsätzliche Erklärung von Kultur eher unwesentlich.

Tut mir leid, dass der Eröffnungspost derart voluminös geworden ist, aber ich wollte keine halbfertige Vermutung in den Raum werfen. Dabei habe ich nur einige naturalistische Ansätze aufgeführt. Es gibt ja auch diverse nicht-naturalistische, geisteswissenschaftliche Modelle, mit denen ich mich noch gar nicht beschäftigt habe. Vielleicht ergänzt das jemand?
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon fopa » Mi 19. Dez 2012, 11:42

Soweit ich mich mit der Materie bisher beschäftigt habe, muss ich feststellen, dass mich eigentlich keine der Theorien voll zufriedenstellt. Der epidemiologische Ansatz von Sperber sagt mir zu, weil er auf einem materialistischen Weltbild basiert und die Kopierungenauigkeit der Informationen / Meme berücksichtigt. Allerdings vermisse ich einige Aspekte aus der Soziobiologie, nämlich gewissermaßen eine genetische Disposition für bestimmte "Mem-Viren" oder Repräsentationen bzw. Memplexe oder Repräsentations-Cluster. So könnte beispielsweise (und mutmaßlich) eine skandinavische Kultur (als Kulturelle Kognitive Kausalkette, CCCC) sich nicht ohne weiteres in der indischen Bevölkerung manifestieren, weil die genetischen Voraussetzungen (ohne Wertung!) andere sind. Zudem könnten sich die genetischen Veranlagungen auch auf die Kopiergenauigkeit der Meme/Repräsentationen auswirken, was eine eher dynamische oder stabile Kulturentwicklung zur Folge hätte. Dieselben Mechanismen müsste man bezüglich der Umwelt berücksichtigen, was den Kulturmaterialismus ins Spiel bringt.

Dazu kommt noch, dass koevolutive Korrespondenzen zwischen memetischen/kulturellen und genetischen Informationen auftreten können, beispielsweise wenn der Memplex einer monotheistischen Religion gegenüber einer polytheistischen Religion oder dem Atheismus durchsetzungsfähiger ist. Das muss gar nicht mal in Mord und Totschlag ausgefochten werden. Es reicht ja schon, wenn Atheisten aufgrund ihres Atheismus weniger Kinder haben, vorausgesetzt es besteht eine genetische Veranlagung zum Atheismus. (Was in einem anderen Thread schon anklang.)

Das Ganze scheint mir derart komplex, dass man eigentlich Teile aus allen Theorien kombinieren müsste, um ein plausibles Gesamtbild zu erhalten. Wobei man dabei noch zwischen den Manifestationen (Meme, Repräsentationen) der Kultur und den Ausbreitungsmechanismen (Selektion) unterscheiden muss.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 19. Dez 2012, 12:33

fopa hat geschrieben: Der epidemiologische Ansatz von Sperber sagt mir zu, weil er auf einem materialistischen Weltbild basiert und die Kopierungenauigkeit der Informationen / Meme berücksichtigt. Allerdings vermisse ich einige Aspekte aus der Soziobiologie, nämlich gewissermaßen eine genetische Disposition für bestimmte "Mem-Viren" oder Repräsentationen bzw. Memplexe oder Repräsentations-Cluster. So könnte beispielsweise (und mutmaßlich) eine skandinavische Kultur (als Kulturelle Kognitive Kausalkette, CCCC) sich nicht ohne weiteres in der indischen Bevölkerung manifestieren, weil die genetischen Voraussetzungen (ohne Wertung!) andere sind.

Das ist ja eine interessante Idee. Worauf basiert diese Annahme (wenn ich das richtig verstanden habe, meinst du, dass ein Skandinavier seine Kultur im Blut hat?)? Mir scheint Kleidungsstil, Anzahl der Götter, Farbpräferenzen und ähnliches ziemlich austauschbar zu sein. Man beachte hierfür Kulturen, die genetisch kaum voneinander entfernt sind, wohl aber einen enormen kulturellen Unterschied haben. Der nahe Osten oder Europa sind beste Beispiele dafür, auch einige asiatische Völker können zwischen Hochkultur und Nomadenvolk schwanken. Aber vielleicht betrachte ich die sogenannte "Kultur" zu detailliern. Ja, dann empfiehlt sich eine Auseinandersetzung mit dem Begriff, wobei ich vermute, dass es einigen eher um die Abgrenzung von anderen gehen wird, als sich selbst zu definieren.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon laie » Mi 19. Dez 2012, 12:36

Bei dieser Frage erinnere ich mich an eine Berufungsvorlesung an einen vakanten Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität München. Der Bewerber hatte lang und breit und in wohlgewählten Worten über Kultur, kulturelles Gedächtnis usw. und ihr Verhältnis zur Ethnologie referiert. Nachher wurden ihm Fragen aus dem Auditorium gestellt. Die hat er alle mehr oder weniger gut beantwortet, bis ihm der Nestor der Münchner Ethnologie in schnarrendem Deutsch folgende Frage stellte, die ihn letztenendes die Berufung kostete (zumindest habe ich das damals so empfunden):

"Bitte um Belehrung, was ist Kultur?"

Vielleicht können wir uns minimal darauf verständigen: Kultur sind einmal alle (materielle und nicht-materielle) Werke des Menschen, sodann das Wissen um diese Werke, sowie schließlich die Folgen dieser Werke. Kultur hat eine Beziehung zur Natur in dem Maße, als dass es Menschen als biologische Wesen sind, die Kultur hervorbringen.

Ganz allgemein aber habe ich mehr den Eindruck, dass es -zumindest für die deutschsprachige Ethnologie- nicht mehr so sehr darauf ankommt, was Kultur nun eigentlich ist, sondern wie sich das kulturell Fremde zu seiner Interpretation und (V)Erklärung verhält: die Interpretation des Fremden und es selbst gehören zusammen.

Von Ansätzen, Kultur in portionsweise Häppchen herunterzubrechen (das kulturelle Merkmal, das Mem usw.) halte ich persönlich nicht soviel. Ich denke, das wird der Komplexität der Sachlage nicht gerecht.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon fopa » Mi 19. Dez 2012, 13:50

laie hat geschrieben:Vielleicht können wir uns minimal darauf verständigen: Kultur sind einmal alle (materielle und nicht-materielle) Werke des Menschen, sodann das Wissen um diese Werke, sowie schließlich die Folgen menschlicher Handlungen. Kultur hat eine Beziehung zur Natur in dem Maße, als dass es Menschen als biologische Wesen sind, die Kultur hervorbringen.
Ein minimalistischer Ansatz ist ein guter Ausgangspunkt. Aber was meinst du mit dem Menschen? Kann ein einzelner Mensch schon Kultur entwickeln, oder geht das erst in Gemeinschaft, und wenn ja, ab welcher Größe?
Die Diskussion, ob es nicht-materielle Werke überhaupt gibt, sollten wir besser nicht in den Mittelpunkt stellen. Wir könnten uns darauf einigen, dass der eine (der Materialist) unter deiner Formulierung ein Gedankenmuster (einen neuronalen Gehirnzustand) versteht, während der andere (der Nicht-Materialist) sich ein metaphysisches Ideal vorstellt. Das sollte eine ausufernde Paralleldiskussion unnötig machen.
Bei deiner Minimaldefinition trennst du aber noch nicht die erlernten (kulturellen) Dinge von den instinktiven, rein genetisch bedingten Verhaltensweisen. Das müssten wir jedoch tun (oder zumindest versuchen), wenn wir nicht davon ausgehen wollen, dass der Mensch das "nicht festgestellte Tier" [Nietzsche] ist. Ob sich das wirklich trennen lässt, weiß ich nicht. Eher könnte man eine graduelle Beeinflussung genetischer Veranlagungen auf kulturelle Repräsentationen (um bei Sperbers Begriff zu bleiben) annehmen. Rache kann beispielsweise als kulturelle Handlung (Blutrache) angesehen werden, dürfte jedoch sehr stark durch instinktive Verhaltensvorgaben beeinflusst sein. Mathematik dagegen eher weniger.

@Darth:
Stimmt, mit meiner Annahme meinte ich nicht kulturelle Details, sondern eher so etwas wie Temperament. Wäre es vorstellbar, dass "heißblütige" Spanier eine fatalistische oder buddhistische Kultur entwickeln oder annehmen könnten? Ich will das nicht verneinen, aber man sollte sich die Frage stellen.
Was die "raffinierten" Details angeht wie Musik, Kleidung etc., würde ich auch eher dazu tendieren, die kleinräumigen Unterschiede (allein schon innerhalb Deutschlands!) auf die Bestrebung zur Abgrenzung zurückzuführen.

Was die (V)Erklärung des Fremden angeht: Ich meine, solange die Grundzüge und die grundlegenden Mechanismen von Kultur nicht klar sind, kann man sich "das Fremde" noch gar nicht erklären. Erst recht dann nicht, wenn man dabei die verhaltensbiologischen Voraussetzungen außer Acht lässt. Deswegen muss man m.A.n. erst einmal ins (methodische) Kleine gehen, um die Abläufe im Großen besser zu verstehen. Heißt natürlich nicht, dass wir über Jackenknöpfe und Konsumverhalten reden, sondern versuchen die Mechanismen zu verstehen (im Kleinen und im Großen).
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon laie » Mi 19. Dez 2012, 14:41

fopa hat geschrieben:Kann ein einzelner Mensch schon Kultur entwickeln, oder geht das erst in Gemeinschaft, und wenn ja, ab welcher Größe?


Nein, ein einzelner Mensch entwickelt keine Kultur, weil es einen einzelnen Menschen nicht gibt. Jeder Mensch ist deshalb Mensch, weil er in eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft hineingeboren wird. Robinson Cruesoe ist damit uninteressant für den Ethnologen.

fopa hat geschrieben:Bei deiner Minimaldefinition trennst du aber noch nicht die erlernten (kulturellen) Dinge von den instinktiven, rein genetisch bedingten Verhaltensweisen.


Ich meine mich daran zu erinnern, dass ich geschrieben habe, daß Kultur nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern ein natürliches Fundament insofern hat, als dass die Träger von Kultur biologische Wesen sind.

Das aber, worauf es mir eigentlich ankam, wurde nicht zitiert:

laie hat geschrieben:... die Interpretation des Fremden und es selbst gehören zusammen.


Das bedeutet, es gibt immer den Erkennenden und das zu Erkennende. Das "zu Erkennende" ist dabei in der Regel kein lebloses Ding, sondern ein anderer Mensch bzw. andere Menschen. Kommt beides zusammen, ist etwas. Gegen diese dialogische Haltung der heutigen Ethnologie wirkt der Versuch, den anderen Menschen und dessen Kultur zu objektivieren wie ein Rückfall in das 19. Jh.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon stine » Mi 19. Dez 2012, 18:18

laie hat geschrieben:"Bitte um Belehrung, was ist Kultur?"

DIE Kultur ist zu breit gefächert, als dass man das so pauschal klären könnte. So gibt es zB eine Sprachkultur, die Kultur des Misstrauens, eine französische Hofkultur, mancherlei Leitkulturen, eine demokratische, politische Kultur, eine Esskultur, eine Kultur der Höflichkeit und sogar die Freikörperkultur, die ehemals mangels ausreichendem Zugang zu Badehosen entstanden ist.

Kultur ist, was sich Menschen in Gruppen ausdenken und zu ihrem Credo machen.
So ist die Kultur des Schreibens bei Nietzsche eine bedeutend andere, als bei Axel Hacke und die Esskultur bei McDonalds eine andere als bei Schuhbeck, aber beides sind jeweils anerkannte Kulturen. Kultur ist also, was sich der Mensch ausdenkt, um sich als Mensch zu klassifizieren, sie ist sozusagen die Kür nach der Pflicht.

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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Myron » Mi 19. Dez 2012, 19:34

laie hat geschrieben:Vielleicht können wir uns minimal darauf verständigen: Kultur sind einmal alle (materielle und nicht-materielle) Werke des Menschen, sodann das Wissen um diese Werke, sowie schließlich die Folgen dieser Werke. Kultur hat eine Beziehung zur Natur in dem Maße, als dass es Menschen als biologische Wesen sind, die Kultur hervorbringen.


Zur Kultur gehören nicht nur alle Kunstwerke (im weitesten Sinne des Wortes, also nicht nur die Werke der schönen, bildenden Künste, sondern auch alle Werkzeuge, Äcker, Siedlungen, Gebäude, Einrichtungen) als Erzeugnisse, sondern auch deren Erzeugung und Verwendung: Kultur als Produktion und Kultur als Produkt.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Myron » Mi 19. Dez 2012, 19:43

fopa hat geschrieben:Bei deiner Minimaldefinition trennst du aber noch nicht die erlernten (kulturellen) Dinge von den instinktiven, rein genetisch bedingten Verhaltensweisen.


Der Aspekt des Lernens ist wesentlich, da ansonst auch Spinnennetze, Termitenhügel, Wespennester und Biberdämme zu den Kulturprodukten zählen.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Zappa » Mi 19. Dez 2012, 20:53

Myron hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Bei deiner Minimaldefinition trennst du aber noch nicht die erlernten (kulturellen) Dinge von den instinktiven, rein genetisch bedingten Verhaltensweisen.

Der Aspekt des Lernens ist wesentlich, da ansonst auch Spinnennetze, Termitenhügel, Wespennester und Biberdämme zu den Kulturprodukten zählen.

Für mich ist die Unterscheidung von Instinkt und dem kulturellem Erwerb von Fähigkeiten die eigentliche Definition von Kultur. Kultur ist für mich prinzipiell eine Information, die in einem Kollektiv nicht genetisch vererbt, sondern durch irgendeine Art von Kommunikation weiter gegeben wird, eine eher späte evolutionäre Entwicklung. Natürlich ist diese Art der Informationsweitergabe beim Menschen am weitesten entwickelt, gibt es aber durchaus auch im Tierreich: http://biology.mcgill.ca/faculty/lefebv ... v_2010.pdf
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon ujmp » Mi 19. Dez 2012, 21:25

Was meint ihr mit "erlernt" - ein Verhalten, das nicht von innen sondern von außen angestoßen wird? Ich glaube Kultur ist so eine Art Schwarmverhalten - im Guten wie im Schlechten.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Vollbreit » Mi 19. Dez 2012, 21:43

@ fopa:

Erst mal recht herzlichen Dank, für den schönen Thread.
Konnte leider nichts dazu beitragen, da mein PC zwischenzeitlich verendet ist und dann bleibt Arbeit liegen...

Ich will mal die Idee der vMemes ins Spiel bringen, in Person von Don Beck.
In dem System Spiral Dynamic stellt man sich (kollektive) Entwicklung als eine Spirale vor, die nach oben führt, wobie höher nicht unbedingt besser bedeutet, sondern angepasster an die jeweils herrschenden kulturellen Bedingungen und Notwendigkeiten. Greift manches auf, was Du oben zusammengetragen hast.

Meme (wenn's denn welche gibt) und Gene haben ganz sicher eine Wechselwirkung, dass ist eines der schönen Ergebnisse der letzten Jahre, in denen die wechselseitge Bedingtheit von Körper und "Geist", Materie und Bewusstsein herausgearbeitet wird und immer weniger als Einbahnstraße gesehen wird. Gene, Proteinsynthese, Lebensweise, Denkweise, dass sidn Einfüsse die wirklich wechselwirken und keine Einbahnstraße darstellen.

Genug geredet, hier der link:
http://www.wie.org/de/j8/beck.asp
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon ujmp » Mi 19. Dez 2012, 22:41

Vollbreit hat geschrieben:http://www.wie.org/de/j8/beck.asp

Sorry, aber ich hab schon lange nicht mehr so eine Gesülze gelesen!
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon fopa » Do 20. Dez 2012, 08:00

Vollbreit hat geschrieben:Ich will mal die Idee der vMemes ins Spiel bringen, in Person von Don Beck.
In dem System Spiral Dynamic stellt man sich (kollektive) Entwicklung als eine Spirale vor, die nach oben führt, wobie höher nicht unbedingt besser bedeutet, sondern angepasster an die jeweils herrschenden kulturellen Bedingungen und Notwendigkeiten. Greift manches auf, was Du oben zusammengetragen hast.
Ist mal eine andere Perspektive - danke für dieses eher geisteswissenschaftliche Modell.

Ich kann damit aber leider auch wenig anfangen. Habe nur die erste Seite gelesen, aber es scheint mir so, als betrachtete Beck den Menschen als rein geistbestimmt, dessen biologische Basis quasi lediglich ein "weißes Blatt", eine Substanz für seine Meme (Kultur) darstellt. Daraus kann man dann auch die These entwickeln, die Kultur "des Menschen" (auf welchen Kulturkreis bezieht sich Spiral Dynamic eigentlich?) würde sich progressiv aufwärts schrauben. Was ist mit frühgeschichtlichen Hochkulturen, die differenzierte und "moderne" Philosophien entwickelt haben? Was ist mit dem Absturz ins Mittelalter? Was ist mit regionalen Unterschieden? Und woher nimmt man die Vermutung, dass prähistorische Menschen nicht auch schon das GRÜNE MEM hatten, das Beck erst vor 300 Jahren ansetzt? Abgesehen davon finde ich in vielen dieser Farb-Meme Charakterzüge wieder, deren Herkunft bereits erwiesenermaßen genetischer Natur ist. Viele Tiere weisen sie nämlich ebenfalls auf - allein schon Hunde!

Mich überzeugt dieses Schema noch nicht so recht.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon mat-in » Do 20. Dez 2012, 08:11

Wobei man gerade bei der Religion ja genau hinsehen muß, vieles religiöse nutzt andere "evolvierte Systeme" aus, die gar nicht dazu gedacht waren...
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon stine » Do 20. Dez 2012, 08:41

...Unternehmenskultur, Streitkultur...
Ich bleibe dabei: Die Kür, nach der Pflicht.
Die Perfektionierung der Notwendigkeiten.

Mit den Memen kann ich gar nichts anfangen. Das hat für mich was Esoterisches.

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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon ujmp » Do 20. Dez 2012, 09:03

stine hat geschrieben:Mit den Memen kann ich gar nichts anfangen. Das hat für mich was Esoterisches.

Sehr gut lesbar ist Susan Blackmores "Die Macht der Meme". Aber das Wort "Esoterik" fiel mir auch sofort ein, als ich das von Don Beck las.
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Vollbreit » Do 20. Dez 2012, 10:11

fopa hat geschrieben:Ich kann damit aber leider auch wenig anfangen. Habe nur die erste Seite gelesen, aber es scheint mir so, als betrachtete Beck den Menschen als rein geistbestimmt, dessen biologische Basis quasi lediglich ein "weißes Blatt", eine Substanz für seine Meme (Kultur) darstellt.


Eigentlich nicht, die erste Seite ist ja nur die Einführung, nachher geht Beck die einzelnen Memes durch, z.B. das aus unserer heutigen Sicht wenig komplexe Purpur:

Don Beck hat geschrieben:DB: PURPUR ist animistisch, tribalistisch und mystisch. In der Welt von PURPUR haben wir vielleicht das erste Zeugnis für ein menschliches Zusammengehörigkeitsgefühlein Empfinden für geistig-seelische Verwandschaft, dieses „Ich bin jemand, weil ich zu einem bestimmten Clan oder einem bestimmten Stamm gehöre”. Während der Eiszeit war die Welt übervölkert. Es gab mehr Menschen pro Quadratkilometer als je zuvor. Clans im BEIGEN System stießen immer häufiger mit anderen Clans zusammen, es entwickelte sich ein Gefühl der Konkurrenz hinsichtlich des Lebensraums. Ein zunächst lose strukturierter Clan festigte sich plötzlich zu einem, sagen wir, 400 bis 500 Menschen umfassenden Stamm, wodurch der ursprüngliche Clan nun inmitten der Konkurrenz mit anderen Clans überleben konnte. Eine der Veränderungen in den Lebensbedingungen, die zu der Verschiebung von BEIGE zu PURPUR führte, hatte nämlich mit der Inbesitznahme von Territorien und dem Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen zu tun.

Zur selben Zeit kam es auch zu einer Mutation im Gehirn, zum ersten Mal erwachte die Fähigkeit, Ursache und Wirkung miteinander zu verknüpfen. Dies war die erste Wahrnehmung des Metaphysischen. Im BEIGEN Verstand scheinen die Ereignisse vereinzelt aufzutreten, jedes für sich und kaum vorhersagbar. Aber wenn zum Beispiel in Afrika Vollmond ist und die Kuh stirbt, verbindet der PURPURNE Verstand diese beiden Ereignisse, indem er in dem einen die Ursache für das andere sieht. So entwickelte sich bei diesem Übergang von den frühen Völkern (BEIGE) zu den mystischen Völkern (PURPUR) das erwachende metaphysische System zusammen mit der Fähigkeit, stärker als Gruppe zusammenzuarbeiten. Dieser Prozess wurde durch die Veränderung der Lebensbedingungen während der Eiszeit vor etwa 50.000 Jahren herbeigeführt.
http://www.wie.org/de/j8/beck.asp?page=3


Da findest Du dann diese Durchdringung von Natur und Kultur, die exemplarisch für die anderen Meme steht.

fopa hat geschrieben:Daraus kann man dann auch die These entwickeln, die Kultur "des Menschen" (auf welchen Kulturkreis bezieht sich Spiral Dynamic eigentlich?) würde sich progressiv aufwärts schrauben.


Der Anspruch ist ein universaler, nur sind aus dieser Sicht nicht alle Kulturen gleich weit entwickelt.
Worum wir hier tanzen, das ist zumeist die Differenz zwischen dem blauen Mem und dem orangenen, das dürfte vielen bekannt vorkommen.

fopa hat geschrieben:Was ist mit frühgeschichtlichen Hochkulturen, die differenzierte und "moderne" Philosophien entwickelt haben?


Das ist ein guter Einwand.
Spiral Dynamics betrachtet die breite Masse. Die Griechen haben die Philosophie in die Welt gebracht, aber die allermeisten Griechen waren eben keine Philosophen, sondern Sklavenhalten, Krieger, usw.
Habermas bemerkt irgendwo, dass die Jagd auf größere Tiere in der Steinzeit mindestens von einem ein systemisches Denken erforderte, zu dem auch heute die meisten Menschen nicht in der Lage sind. Es macht also Sinn die Speerspitze der Evolution von der Breite zu unterscheiden.

fopa hat geschrieben:Was ist mit dem Absturz ins Mittelalter?


Ein moderner Mythos, hatten wir kurz vor „Deiner Zeit“ schon mal:
viewtopic.php?f=29&t=4229&p=93131#p93131

fopa hat geschrieben:Was ist mit regionalen Unterschieden?


Die gibt es auf jeden Fall.
Spiral Dynamics betrachtet eher die Struktur der Entwicklung, weniger den Inhalt. Erstens gibt es unterschiedliche Inhalte. Die (sozialperspektivisch) „richtigen“ Tischsitten, können einmal bedeuten, auf dem Boden zu knien und mit Stäbchen zu essen und ein anderes Mal am Tisch zu sitzen und mit Messer und Gabel zu essen und wir würden nichts davon als besser oder höher ansehen, sondern nur als anders.
Doch es gibt wohl auch strukturelle Unterscheide, die jeder hier implizit betont, der sagt, Religionen seien zurückgeblieben.
Ein demokratisches Gerichtsverfahren oder eine Steinigung, darin würden die meisten nicht nur den etwas anderen Ausdruck, ein und derselben Denkweise sehen.

fopa hat geschrieben:Und woher nimmt man die Vermutung, dass prähistorische Menschen nicht auch schon das GRÜNE MEM hatten, das Beck erst vor 300 Jahren ansetzt?


Hatten sie, das wollte ich mit dem Habermas-Beispiel andeuten.

fopa hat geschrieben:Abgesehen davon finde ich in vielen dieser Farb-Meme Charakterzüge wieder, deren Herkunft bereits erwiesenermaßen genetischer Natur ist. Viele Tiere weisen sie nämlich ebenfalls auf - allein schon Hunde!


Das kann gut sein.
Entwicklungspsychologie beginnt nicht bei Null und auch nicht beim Menschen.
Meine Kritik am soziobiologischen Ansatz von Dawkins ist nicht, dass er irgendwie falsch wäre, sondern ganz einfach reduktionistisch.
Dawkins möchte bei der Betrachtung der Verhaltensweisen gerne nahe an der Naturwissenschaft bleiben und macht dabei einige Fehler.
Erstens gerät er in einen Selbstwiderspruch, wenn er zum einen formuliert, unsere Gene bestimmten weitgehend unser Verhalten und dann andererseits fordert, wir sollten uns doch gegen unsere Gene, die im Wesentlichen als egoistische Gene auch egoistisches Verhalten der Merkmalsträger prädisponieren, auflehnen. (Auch dazu gab es einen eigenen Thread: viewtopic.php?f=5&t=4195 )

Mein weiterer Vorwurf ist, dass er sich im „Gotteswahn“ explizit auf Moral bezieht, die Ergebnisse der Moralforschung und Philosophie aber völlig ignoriert, einzig Kant wird verzerrt dargestellt. Dass er einen großen Teil seiner Daten von dem Wissenschaftsbetrüger Marc Hauser übernommen hat, ist nicht ohne Ironie, aber letztlich nicht Dawkins anzulasten.

Drittens, kommt man mit Dawkins System das basalen Egoismus, auf den ein (durch diesen Egoismus gespeister) reziproker Altruismus aufsitzt überhaupt nicht weit.
Nicht einmal das religiöse (blaues Mem) Verhalten, dass Dawkins bekanntermaßen als reichlich primitiv und überflüssig ansieht, kann man damit erklären, wissenschaftliches Vorgehen erst recht nicht. In allen System die sich mit kollektiver oder individueller Entwicklung beschäftigen ist mit Dawkins Ansatz sehr schnell Schluss, in Spiral Dynamcis reicht Dawkins' Ansatz ungefähr bis zum roten Mem. Du hast schon Recht, der Schäferhund ist drin, bei Dawkins und bei Spiral Dynamics, meinetwegen noch erste Anteile von blau, aber warum überhaupt jemand Wissenschaft, Kunst betreibt oder irgendwas tut, was über die eigen Nasenspitze hinausragt, kann man nicht mehr erklären, außer mal schluckt das vollkommen zirkuläre Dogma der Evolutions- und Soziobiologen, dass jeder ohnehin nur nach seinem Vorteil strebt und streben kann, unbewusst gesteuert durch egoistische Gene, die gerade noch eine primitives taktisches Denken zulassen: Kooperiere um mehr zu bekommen. Tit for tat. Damit ist dann allerdings auf Dawkins beim religiösen Dogma angekommen, aber pssst, das behalten wir für uns, okay?

fopa hat geschrieben:Mich überzeugt dieses Schema noch nicht so recht.


Ach, das ist ja auch nicht der große Wurf, kann und soll es auch nicht sein.
Es bildet, ergänzend zu den Typen, die Lumen uns so schön vorgestellt hat, Ebenen oder Stufen der Entwicklung ab.
Typen heißt so ungefähr, ich kann die Torte in 12 (oder so) Stücke zerteilen, Ebenen bedeutet, sie liegen in unterschiedlichen Regalen übereinander.
Im Grunde würde die höheren Stufen in unserer Ausdeutung schon auf die „besseren“ sein, aber ganz so einfach ist es nicht. Wenn ein Mensch oder eine Gesellschaft durch die Stufen wandert, dann sind seine Vorläufer, ja integriert und zum Teil überwunden, aber auch nicht absolut weg.
In der Psychologie gibt es den Ausdruck Regression, und die gibt es auf individueller und kollektiver Ebene. Die kann es aber nur geben, wenn das Verhaltensrepertoire der Stufe(n) davon noch da ist. In Stresssituationen und unter dem Einfluss massenpsychologischer Effekte, kommt es immer wieder zu regressivem Verhalten, bei allen von uns.
Tut man nun so, als seien die unteren Ebenen gar nicht mehr vorhanden, so verdrängt man sie und das ist klassischerweise das, was man Neurose nennt. Wir müssten also für die memetischen Vorläufer soziale Praktiken finden, in welche sie eingebunden werden und in einem bestimmten Rahmen weiterexistieren können.

Wie bei der Individualneurose auch, rächt es sich, grundlegendere Ebenen einfach unbeachtet zu lassen, sie kommen dann neurotisch verzerrt wieder. Die für unsere Diskussion interessanten Meme, bedinden sich auf der dritten Seite:
http://www.wie.org/de/j8/beck.asp?page=3
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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon ujmp » Do 20. Dez 2012, 11:12

Vollbreit hat geschrieben: Dawkins möchte bei der Betrachtung der Verhaltensweisen gerne nahe an der Naturwissenschaft bleiben und macht dabei einige Fehler.
Erstens gerät er in einen Selbstwiderspruch, wenn er zum einen formuliert, unsere Gene bestimmten weitgehend unser Verhalten und dann andererseits fordert, wir sollten uns doch gegen unsere Gene, die im Wesentlichen als egoistische Gene auch egoistisches Verhalten der Merkmalsträger prädisponieren, auflehnen. (Auch dazu gab es einen eigenen Thread: viewtopic.php?f=5&t=4195 )


Das ist kein Selbstwiderspruch. Die Gene bestimmen die Freiheitsgrade unseres Handelns. Mit "bestimmen" ist auch nicht "festlegen" gemeint, sondern "beeinflussen"

Vollbreit hat geschrieben:Du hast schon Recht, der Schäferhund ist drin, bei Dawkins und bei Spiral Dynamics, meinetwegen noch erste Anteile von blau, aber warum überhaupt jemand Wissenschaft, Kunst betreibt oder irgendwas tut, was über die eigen Nasenspitze hinausragt, kann man nicht mehr erklären,

Der Mensch betreibt heute nicht anders Wissenschaft, als vor 100, 1.000, 10.000 oder 100.000 Jahren. Nur dass man diesen Bergiff vielleich nicht hatte. "Wissenschaft" ist im Grunde ein Grundcharaktersitikum des Lebens, nämlich Anpassung an Gegebenheiten. Jeder Mensch ist ein geborener Wissenschaftler. Es ist m.E. eher umgedreht, nämlich dass sich Mythen erst viel später breit gemacht haben, zu einer Zeit, in der es nicht mehr existenzgefährdend war, dummes Zeug zu denken, also über das hinaus, was man wirklich wissen kann. Ein Urmensch musste sich noch an das Verhalten seiner Beute anpassen, sonst wäre er verhungert. Er musste verstehen, wie man Feuer macht und erhält, sonst wäre er erfroren. Die Menschen waren ganz sicher nicht dümmer als heute, sie hatten nur einen anderen Ausgangspunkt. Hauptsächlich waren sie viel, viel weniger, es bestand keine Notwendigkeit, komplexe Gesellschaften mit Ideologien usw. zu bilden, wodurch sich auch Spezialisierungen nicht ausbildeten. Das heißt aber nicht - das meint der von dir zitierte Habermas - das ihr Denken weniger komplex war. Es war auch nicht weniger "gemeinnützig", nur das der Begriff "Gemeinschaft" zahlenmäßig weniger Menschen beinhaltete. Unser Nachbardorf heißt heute Newtown - das ist der einige Unterschied, unser Gehirn hat sich kein bisschen verändert.

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Re: Was ist Kultur?

Beitragvon Vollbreit » Do 20. Dez 2012, 11:50

ujmp hat geschrieben:Das ist kein Selbstwiderspruch. Die Gene bestimmen die Freiheitsgrade unseres Handelns. Mit "bestimmen" ist auch nicht "festlegen" gemeint, sondern "beeinflussen"


Das hatten wir doch in aller Ausführlichkeit. Ich habe die Originalzitate von Dawkins hierzu mehrfach reingereicht und würde Dich bitten, wenn da noch Diskussionsbedarf besteht das im entsprechenden Thread zu klären:
viewtopic.php?f=5&t=4195&p=89424#p89424
viewtopic.php?f=5&t=4195&p=89460#p89460

ujmp hat geschrieben:Die Menschen waren ganz sicher nicht dümmer als heute, sie hatten nur einen anderen Ausgangspunkt.


Meinst Du das so?:
Don Beck hat geschrieben:DB: Das einzig wirkliche BEIGE, das heute noch in der ursprünglichen Form existiert, liegt versteckt in Indonesien und Teilen Afrikas. Wir haben zeitweise Buschmänner studiert, und es ist klar, dass sie über eine geradezu unheimliche Fähigkeit verfügen, sich zu erinnern, wo Wasser oder Straußeneier verborgen sind, und dass sie Wetteränderungen spüren können. Wir setzen primitiv also nicht gleich mit primitiv oder „dumm” sein, denn es gibt vielleicht sechzehn verschiedene Sinne, eine gewisse hellseherische Fähigkeit eingeschlossen, die auf dieser Stufe aktiviert sind. Aber heutzutage sind die meisten dieser Sinne verkümmert und wurden von unseren komplexeren, konzeptionellen Systemen verschüttet.
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