stine hat geschrieben:Was machen wir denn nun mit der Erkenntnis, dass es pathologische Narzisten gibt, @Vollbreit?
Und sind jetzt alle Narzisten auch Egoisten?
Ich denke das nicht.
Pathologische Narzissten haben eine Tendenz deutlich egoistischer zu sein, als andere Menschen. Da die Palette des Narzissemus und auch der narzisstischen Persönlichkeitsstörung aber so breit ist, ist nicht jeder Narzisst 24/7 ein Egoist. Je weiter die narzisstische Pathologie fortschreitet umso egoistischer wird der Narzisst und am Ende des Spektrums, bei der antisozialen Persönlichkeit, dem Soziopathen, dem chronisch Kriminellen ist tatsächlich totaler Egoismus (= ein Nullinteresse das Wohl irgendeines anderen Menschen zu vergrößern) vorhanden, in einem Ausmaß, das man schwer nachvollziehen kann.
Diese Menschen - und nur diese! - sind totale Egoisten. Darum finde ich es ein wenig ärgerlich so zu tun, als seien wir doch, offen oder insgeheim, alle Egoisten oder Narzissten. Warum dieses verdummende Mantra mitsingen? Nur, weil es so viele singen? Nur, weil es die vermeintlichen Vorturner singen? Nur, weil es die Welt bequem macht? „Aufklärung ist der Ausweg des Menschen, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ (Kant)
Fassen wir noch mal zusammen:
1) Nash formulierte mit der Spieltheorie einen mathematischen Algorithmus, der zunächst im kalten Krieg, wo man annehmen durfte (vielleicht musste), der andere habe die Absicht einen auszulöschen, seine Anwendung fand und dort erfolgreich war. Diese Algorithmen wurden dann auf die Börse übertragen, wo es auch darum geht dem anderen soweit entgegenzukommen (Geld zu leihen), dass der eigene Profit maximal wird. Dass dieses Modell nun auch im Alltag das allerbeste Verhaltenskonzept sein sollte, ist im höchsten Maße umstritten. Zudem funktioniert es nicht:
Frank Schirrmacher hat geschrieben:Anhand einer der Wanderanekdoten über John Nash, hier in der Version von Douglas Rushkoff, kann man in der Tat verstehen, worin der Unterschied besteht, ob man Spieltheorie mit Menschen oder Rechnern spielt:
„Die RAND-Wissenschaftler testeten eines ihrer wichtigsten Spiele, das 'Gefangenen-Dilemma', mit den Sekretärinnen, die bei RAND arbeiteten, in dem sie alle möglichen Szenarien kreierten, in denen die Frauen kooperieren oder einander betrügen konnten. In jedem einzelnen Experiment wählten die Sekretärinnen allerdings nicht der egoistischen Weg, den die RAND-Forscher erwartet hatten, sondern die Kooperation. Das konnte John Nash nicht davon abhalten … weiterhin Szenarien für die Regierung zu entwickeln, die auf Angst und Egoismus basierten … Nash schob die Schuld für die misslungenen Experimente auf die Sekretärinnen. Sie seien schwache Subjekte, unfähig, der einfachen Regel zu folgen, dass ihre Strategien egoistisch zu sein hätten.“
(F.Schirrmacher, Ego – Das Spiel des Lebens, Karl Blessing Verlag 2013, S.64)
2) Die soziobiologische Idee der egoistischen Gene ist bereits innerhalb der Evolutions- und Verhaltensbiologie nie unumstritten gewesen. Den Ausschlag warum sie sich – für einige Jahrzehnte – durchsetzte (inzwischen gibt es neue Kritik an dem Konzept), gaben spieltheoretische Szenarien, in den man sogenannte Beschädigungskämpfer mit Kommentkämpfern (die nur drohen und tendenziell nicht schädigen) verglich und die Folgen durchrechnete.
Die Zahlenwerte, also eine Punktevergabe, die man als Sieger, Verlierer, durch erlittene Verletzungen usw. erhielt, wurden willkürlich vergeben, die Möglichkeit, dass es Tiere gab, die zunächst nur drohten, dann aber ernst machten, wurde unter den Tisch fallen gelassen. Es ergab sich eine errechnete (nicht empirische) Überlegenheit der Beschädigungskämpfer und das gab dem Konzept tierisches Verhalten sei egoistisches Verhalten, das nur kooperiert, wenn es selbst davon profitiert, den Zuschlag.
So weit, so gut. Richtig schlecht wurde es dann, als das Konzept des allumfassenden Egoismus, im Rahmen der Soziobiologie, auf das menschliche Leben übertragen wurde. Es ist nicht einmal so, dass das Verhalten, zu kooperieren um am Ende mehr für sich zu bekommen, im menschlichen Kontext nicht vorkäme, aber es deckt nur einen bestimmten Teil des menschlichen Verhaltens ab. Erstens gibt es Menschen, die nie oder so gut wie nie kooperieren, wie antisoziale Persönlichkeiten, chronisch Kriminelle, Soziopathen, Terrorführer, manche Sektenführer, maligne Narzissten. Zweitens beschreibt dieses Verhalten (Egoismus, ansonsten Kooperation nur, wenn größerer Nutzen für einen selbst erwartet wird), außer in Fällen schwerer Pathologien, Motive, die im Grunde schon im Kindesalter überwunden werden.
Spätestens die zweite Stufe der konventionellen Moral nach Kohlberg, dort die Stufe 4, ist nicht mehr auf das Konzept des Egoismus (und egoistisch motivierten Kooperation) zu reduzieren. Genaue Zahlen sind nicht zu bekommen, aber etwa die Hälfte der Menschheit befindet sich auf mindestens dieser Stufe, jenseits des Konzepts der egoistischen Gene.
3) Neurobiologische Erklärungen, der Mensch sei im Grunde von seinen Hirnzellen und diese durch die Naturgesetze „ferngesteuert“, in der Weise, dass die Rede vom freien Willen des Menschen keinen Sinn ergibt, werden vom Kompatibilismus zurückgewiesen, der den Kritikern des freien Willens in vielen Fällen überhaupt nicht bekannt zu sein scheint. Diskussionen hierzu finden sich hier im Forum genug und in aller Ausführlichkeit.
Das Motiv die Rede von der Unfreiheit des Willens leichtfertig zu übernehmen, ist oft genug das einer psychologischen Entlastung von gefühlter Verantwortung.
4) Die Idee des psychologischen Egoismus (jeder Mensch denke eigentlich nur an seinen eigenen Nutzen), konnte, wie AgentProvocateur darstellte und verlinkte, durch Batson empirisch widerlegt werden.
5) Der Begriff des ungesunden Egoismus fällt eng mit dem des pathologischen Narzissmus zusammen. Aber es sind nicht einmal alle Narzissten rund um die Uhr Egoisten. Die Gesamtzahl der schweren Persönlichkeitsstörungen, die immer mit erhöhtem Narzissmus einhergehen, beträgt bei uns etwa 15-20%, was aber heißt, das 80-85% nicht betroffen sind.
Das soll im ersten Schritt zeigen, dass die leichtfertige Rede, wir seien ja ohnehin alle Egoisten, nach allem was man heute weiß schlicht falsch zu nennen ist.
Im zweiten Schritt soll es daran appellieren, deshalb auch nicht so zu tun, als sei dies ohnehin das Spiel, was von allen gespielt wird und darauf weitere Überlegungen aufzubauen.
Auch ist es unnötig bis schädlich die unterkomplexen Strategien der Spieltheorie und der Soziobiologie für Erklärungen allen menschlichen Verhaltens zu nehmen, da Menschen sich so ganz einfach nicht verhalten.
Durch stete Wiederholung, Dressur und Suggestion wird dieses Verhalten aber verstärkt oder – Schirrmachers Kritik – von der Ebene des Deskription (die aber bereits falsch ist) zur Norm erhoben. Dumm sei dann, wer kein Egoist ist.
Die Indizien, dass unsere Gesellschaft in der Tat narzisstischer wird, sind leider nicht von der Hand zu weisen, weshalb es gut ist die Ursachen, die verstärkenden und hemmenden Faktoren zu kennen. Hier muss noch nachgelegt werden, die wirklichen Ursachen von Verstärkern getrennt werden und gezeigt werden, wie es in Zukunft vielleicht besser laufen könnten, im Rahmen eines lebbaren und nicht idealen Konzepts.
Ich hoffe, dass dann wieder mehr Leute mitschreiben, gelesen wird ja scheinbar und ihre kreativen Vorschläge einbringen, denn ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie man für Europa das Steuer herumreißen kann.
Soweit mal mein Zwischenfazit.
stine hat geschrieben:Es geht um die Bewusstheit des Handelns. Ein Egoist stellt sich bewusst in die Mitte, wogegen es einem Narzist vielleicht oft gar nicht bewusst ist, dass es falsch ist, alles auf sich zu beziehen. Er fühlt das halt so und kann nichts dagegen tun. Außerdem weiß er ja nicht, dass alle anderen das vielleicht nicht tun (wenn das überhaupt richtig ist).
Das ist richtig.
Aber nicht jeder der in der Mitte steht, muss zwingend ein Egoist sein. Man kann auch einfach eine Begabung oder weniger Hemmungen als andere haben und es dennoch gut meinen.
stine hat geschrieben:"Nimm das nicht persönlich" ist ja genau deswegen das geflügelte Wort, wenn sich mal wieder jemand verletzt fühlt, obwohl es um eine Sache gegangen wäre.
Manchmal ist etwas auch dann verletzend gemeint, wenn es mit „Nimm das nicht persönlich“ garniert ist.
stine hat geschrieben:Der Titel deines Threads könnte auch lauten: Sind wir alle Narzisten?
Ja.
stine hat geschrieben:Und ich hätte nach deiner Erklärung direkt mit: "in gewisser Weise schon, bis auf die bewussten Egoisten unter uns", geantwortet. Denn wenn es so ist, dass sich der Narzist schlecht fühlt, wenn er nicht gut ankommt, kann er niemals auch ein Egoist im Sinne der bewussten Übervorteilung anderer, zu seinen Gunsten sein.
Doch, kann er.
Es geht Narzissten nämlich nicht darum bei allen gut anzukommen. Vergiss nicht, dass er 99% der Menschen (99% sind ein Phantasiewert, keine realistische Zahl) für Idioten hält und bei denen gar nicht ankommen will. Das sind nur Püppchen in seinem Spiel. Es schmerzt sie, wenn sie bei Menschen nicht ankommen, die ihnen sympathisch sind.
Narzissten werden deshalb gerne als charismatisch beschrieben, weil sie viele Strategien entwickelt haben, um zu gefallen. Sie haben oft einen oberflächlichen Charme, ein gewinnendes Wesen, wissen sehr genau, wo sie sich wie verhalten müssen um gut anzukommen und wen sie total ignorieren können. Sie wollen (in leichteren Formen) geliebt und bewundert werden, wissen aber nicht, wie sie das anstellen sollen, über den ersten Schritt hinaus.
Der Schritt ins Persönliche, dort wo Emotionen ausgetauscht werden und nicht nur die glänzende Fassade präsentiert wird, der misslingt ihnen.
Wir wollen vermutlich alle Anerkennung, Liebe und Bewunderung, zumindest ein Stück weit, die Frage ist, ob wir in der Lage sind, nach dem wir Aufmerksamkeit erregt haben, Beziehungen zu vertiefen, uns emotional einzubringen oder ob wir auf die Rolle des grandiosen Erzählers, des allerklärenden Bescheidwissers, der ewigen Helferin, des Schürzenjägers oder des sexy Vamps reduziert bleiben. Äußerlich erfolgreich bis triumphal, aber innerlich leer und von allem und allen wie durch eine unsichtbare Glaswand getrennt. Da draußen sitzen die, die Spaß an ihrem primitiven Mist, an Fußballübertragungen, doofen Alltagsunternehmungen, am Smalltalk über die gesammelten Belanglosigkeiten der Welt: Familie, Arbeitsplatz, die Nachbarn, ein bisschen Schimpfen, ein wenig Tratsch haben. Hier sitze ich, getrennt von den Idtioten, weit über ihnen, aber ein wenig verärgert dass „die Primitiven“ daraus Spaß ziehen können und selbst nicht in der Lage sich in solche (schamhaft besetzten) „Niederungen“ zu begeben.
Hier sitze ich, bemerke die Glaswand an die ich stoße, selbst wenn ich mitten im Getümmel bin - ich weiß nur nicht was ich tun soll. Selbst wenn ich im Bierzelt mitschunkle, so kann ich mich doch nicht fallen lassen, die Kontrolle fast nie wirklich aufgeben. Narzissten haben wahnsinnige Angst vor Kontrollverlust.
stine hat geschrieben:Er würde sich danach selber zerfleischen, weil er sich der Liebe anderer nicht mehr sicher sein könnte. Der Narzist will gefallen, er ist sozusagen ein unbewusster Egoist.
Ja.
Aber er ist in der Lage die Signale des Missfallens gekonnt auszublenden. Er bemerkt subtile Signale nicht, weil er sie nicht bemerkten darf. Andere dürfen in seiner Welt nicht zu Menschen mit eigenen Bedürfnisse, Ansichten, Wünschen und Interessen werden, da ist eine panische Angst genau davor.
Also negieren Narzissten, sehr erfolgreich, alle Signale die aus dieser Richtung kommen. In dem Moment wo der anderen ein vollwertiger Mensch ist, fällt ihre grandiose Hülle zusammen und sie haben keinen Plan B. Sie wären ein Mensch unter Menschen, hier ein bisschen kompetenter, dort etwa weniger, wie das im Leben eben so ist, aber das ist für Narzissten der Super-GAU. Einer von Vielen zu sein, ist die Katastrophe schlechthin.
Deshalb sind sie sich auf krummen Wegen der Liebe der anderen sehr sicher. Wer könnte denn auch einen so derartige tollen Menschen wie mich nicht lieben? Es könnte nur ein Idiot sein, auf dessen Urteil man dann auch keinen Wert legen würde. Narzissten geben sich nicht ganz her, sie behalten die Kontrolle gerne in allen Lebenslagen, sie liefern sich nicht mit Haut und Haaren aus (auch wenn sie es manchmal meinen).
Dieser emotional gebremste Schaum ist die Kälte unmittelbar hinter der grandiosen Fassade. Es ist die Angst vor Kontrollverlust, ausgeliefert zu sein und einen anderen zu brauchen.
Deshalb kommt es in der Psychoanalyse zu der seltsam anmutenden Formulierung der „Fähigkeit zur Abhängigkeit“. Sie meint eine reife Abhängigkeit, in der sich zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen.
stine hat geschrieben:Schlimm: Wenn die Eigenliebe pathologisch wird, denn dann schadet sich der Narzist ständig selber und leidet wahrscheinlich auch noch darunter.
Exakt das ist das Dilemma in dem sich Narzissten befinden. Man hat irgendwie alles im Griff und fühlt sich beschissen. Man ist extrem misstrauisch, bezüglich dessen, dass es da noch eine warme Welt geben könnte, in der man die Kontrolle etwas lockern kann, in der man, oft zum ersten Mal, so etwas wie Geborgenheit und Liebe spürt und zulassen kann. (Es ist der Weg der von der Scham zur Schuld führt.)
Ich glaube, Du hast jetzt vom Gefühl her erfasst, wie Narzissten ticken und das war eines meiner Ziele, denn über die dürren und schlechten Beschreibungen in den diagnostischen Manualen kommt man in der Regel keinen Schritt weiter. Es ist kein wütender Aufruf zukünftig Narzissten zu diffamieren, viel mehr ein Aufruf zur Empathie, es sind selber Opfer. Und dennoch darf man sich die Frage stellen, inwieweit man schwer kranken Menschen die Strippen in die Hand gibt, wobei es natürlich so ist, das gerade Narzissten ins Rampenlicht drängen.
Deshalb sollte man der Welt eher weniger Narzissten wünschen. Es sind Menschen, die leiden und gleichzeitig Leid verbreiten. Es sind Menschen die in der Überzahl an einer wirklich schweren psychischen Erkrankung leiden, für die man nicht noch das Werbebanner hochhalten sollte. Die schlimmsten Fälle sollte man erkennen, mit den gemäßigten kann man leben lernen, das hat in der Vergangenheit auch ganz gut funktioniert.