Wieso sind wir alle Opportunisten?
Das lese ich da eigentlich nicht raus, der Schluss ist doch eher, dass Heldentum mehr damit zu tun hat, ob man sich einen anderen Weg vorstellen kann, als mit einem „guten Charakter“.
Die Intention die ich mit dem Thread hier verbunden habe, ist zudem auch eine einzige Absage an die „Wir sind doch alle nur ...“-Projekte gewesen. All diese Reduzierungen und Simplifizierungen des Menschen, nur damit er in eine Formel zu pressen ist. Tsz.
Das Stockholm-Syndrom ist zwar auf den ersten Blick kurios, aber man darf nicht vergessen, dass es unter psychischen Ausnahmezuständen auftritt. Einen ähnlichen Fehler machten übrigens die Hirnforscher, zu der Zeit, als man noch an die Unfreiheit des Willens glaubte. Sie durchleuchteten zu Beginn die Gehirne von Psychopathen und breiteten von dort aus ihre Schlüsse auf alle Menschen aus.
Tatsächlich ist doch der Mensch vielschichtig, facettenreich und passt gerade nicht so recht in Schubladen. Die breite Masse ist konventionell und selbst wenn man das Konventionelle auf den ersten Blick nicht so wahnsinnig toll findet, so ist es einer der fundamental wichtigen Bausteine der Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund, da stimme ich Dir zu, ist Religion ungeheuer wichtig für die Welt. Ein System, was darauf aus ist konventionelle Menschen zu erzeugen: angepasst, obrigkeitshörig, oft auf eigene Meinungen (oder zumindest ihre öffentliche Äußerung) zugunsten der Norm oder Ordnung verzichtend.
Diese Menschen sind, wie Schnabel zeigen konnte, keine besseren, faireren, moralisch entwickelteren Menschen, sie gehorchen einfach besser – Ausnahme sind die sehr Religiösen.
Nur ist das aufklärerische Gegenmodell inzwischen leider oft zu seiner eigenen Karikatur verkommen. Aus dem „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dem „Ausweg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist ein hyperindividualisiertes Projekt geworden. Das mürrische, überforderte, chronisch genervte, narzisstische, gelangweilte und überwichtige Ich. Gerade noch zu ertragen ist die Welt als große Party. Ansonsten trifft chronische Langeweile und der Versuch sie durch Ablenkung zu umgehen, auf eine „Leckt mich doch alle“ Einstellung, Hauptsache unterm Strich kriege ich, was ich will, ein paar Jahre muss ich noch überstehen, nach mir die Sintflut.
Der eigene Verstand: das wird gerne so interpretiert als müsse man vollkommen anders als alle sein und wenn schon nicht öffentlich, so doch in der Phantasie. Warum denn? Freiheit wird oft damit verwechselt, dass man alles mal mitgemacht und gesehen haben muss. Das Phänomen ist doch, dass wir niemals zuvor, so viele Möglichkeiten hatten wie bisher, unseren wirklich freien und individuellen Stil zu leben, dass wir in aller nun tatsächlich wieder auftretenden Not noch immer überabgesichert sind – ich will den ganzen Singsang jetzt nicht aufzählen – und dennoch das Projekt Aufklärung im hohem Maße so korrumpiert ist.
Nun kriegen wir von allen Seiten Erklärungen um die Ohren gehauen, die uns besänftigen und erklären wollen, warum Menschen notwendigerweise so sein müssen, wie sie heute eben sind. „Ja also, wenn mein Gehirn mir keine Wahl lässt und Wissenschaftler das bewiesen haben, dann kann ich ja auch nichts dazu, wenn ich so bin, wie ich bin, mein Hirn ist eben so.“ Der alte Schicksalsglaube im neuen Gewand, nur diesmal ohne die Option und den Aufruf zur Mäßigung und Besserung. Dieses Mal garniert mit bunten Bildern, dann muss es ja stimmen. Und da ja alle so sind, ist es nicht nur recht und billig so zu sein, sondern sogar geboten, will man die anderen – die ja auch so sind wie ich – übertrumpfen, ein bisschen gerissener zu sein.
Ob das nun ein spieltheoretischer, biologistischer, missglückt esoterischer, postmoderner, falsch verstandener pluralistischer Affekt ist, ist im Grunde egal, jeder hat so seine Lieblingsdeutungen. Und bei einem gesellschaftlichen Drift in Richtung Egoismus ist in der Tat Religion ein denkbares Mittel zur Umkehr, ganz einfach weil sie entwicklungspsychologisch die Ebene oberhalb des Egoismus darstellt, die nächste, die kommt.
Zwar wäre auch jede andere Form der Überwindung des reinen Ichdenkens zugunsten eines „Wir“ ebenso gut geeignet, aber man findet kaum welche vor. Familien bieten so eine Struktur an, aber das gar nicht so schlechte klassische Familienmodell nimmt ebenfalls ab und nicht jede Familie ist auch gesund.
Und gemessen daran ist Ratzinger natürlich Antimainstream, geradezu ein Punk und als profilierter Denker hat er den Selbstwiderspruch der Postmoderne natürlich erkannt und benannt: Wenn im Pluralismus alles gut ist, warum dann nicht auch die Sicht der Kirche? Dieser Abbau der Hierarchie im Namen der Hierarchie, dieser performative Selbstwiderspruch ist einigen aufgefallen: Keine Sicht ist besser als irgend eine andere, außer jenen, die behaupten, dass es doch bessere und schlechtere Sichtweisen, Interpretationen und dergleichen gibt.
Doch bei allem Gründeln liegen die Möglichkeiten des Menschen natürlich oberhalb des Konventionellen.
Und das heißt, wir sind eben nicht alle gleich. Es passt nur alles nicht so hübsch in Denkschubladen, wie man sich das gewöhnlich vorstellt. Der Mensch als Statist der Statistik. Berechenbar durch eine Handvoll Algorithmen. Neuester Renner:
http://www.zeit.de/digital/internet/201 ... enschaftenMan muss den Quatsch mal lesen, um die Hochachtung vor der vermeintlichen Allgewalt der Algorithmen zu verlieren. „Sage mir was du magst und ich sage dir, wer du bist.“ Na wer hätte das gedacht. Wer Harleys mag is'n bisschen doof, wer auf Satire steht ist schlau. Wer sich für Schwulenrechte einsetzt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit schwul. Geht's noch? Was für ein Erkenntnisgewinn.
Großmutters Vorurteile als neuester Renner digitaler Auswertungen von Millionen Nutzerdaten. Geil, wer davor auf die Knie fällt, der hat es wirklich nicht besser verdient.
Immer schon spannender waren und sind die Brüche, das Unvorhergesehene. Es ist so schön einfach, wenn die Welt so ist, wie bei Derrick oder neuerdings bei den Algorithmen. Die Schlauen sind auch gerechter und darum auch zurecht wohlhabend und an der Macht. Einer der höchsten IQs die man je in einem seriösen Test gemessen hat, 194, gehörte Martin Frankel: ein grandioser Narzisst mit antisozialen, psychopathischen Zügen. Helden haben nicht immer einen goldenen Charakter. Heidegger konnte geradezu prophetisch die Übermacht des Man beschreiben – und ihm verfallen. Aber auch der brave, ehrliche Arbeiter ist nicht immer ein guter Mensch. Normalreligiöse Menschen sind im Schnitt nicht anständiger. Man kann erleuchtet und ziemlich durchgeknallt sein. Intelligenz allein garantiert kein gutes Leben.
Noch eigenartiger wird das, wenn man die Individuen selbst betrachtet. „Benn - Genie und Barbar“ lautet der treffende Titel einer exzellenten Biographie über Gottfried Benn, einem der Größten der Zunft. In seiner Biographie passt irgendwie nicht viel zusammen, aber gerade diese Brüche machen ihn aus.
Und all die mehr oder minder geglückten Versuche den Menschen ins Tierreich zurückzupfeifen, hat er in wenigen Zeilen erledigt. In einem Brief an eine Bekannte, nach einem Zoobesuch:
Gottfried Benn hat geschrieben:„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“
(aus: Gunnar Decker, Gottfried Benn – Genie und Barbar, aufbau 2008, S.282)
Und der legendäre Abgesang:
http://users.skynet.be/lit/benn.htmUnd doch hat er das Menschenmögliche zu neuen Höhen getrieben.
Da wird es erst anregend, aber doch nicht in den öden Niederungen von: Wir berechnen jetzt mal den Menschen mit den neuesten Computerprogrammen und finden raus, das am Ende der Rechnungen genau das herauskommt, was wir zu Beginn reingesteckt haben: Ein Wunder, ein Wunder.
Sophokles wusste es vor 2500 Jahren schon besser:
„Ungeheuer ist viel, und nichts ungeheurer als der Mensch.“
Wie weit haben wir uns inzwischen davon entfernt.