Nanna hat geschrieben:Ich weiß, was Popper dazu sagt und finde das auch in vielen Aspekten sehr vernünftig. Nur, wie ich schon sagte, ist Naturwissenschaft häufig eben Positivismus in Popperschem Gewand. Das ist pragmatisch gesehen auch gar nicht so von Belang für mich, offenbar führt dieses Vorgehen ja zu umsetzbaren Ergebnissen, nicht immer, aber doch oft genug. Man sollte eben nur eben vorsichtig sein, die Naturwissenschaft zu idealisieren, eben gerade weil sie in der Praxis viel mehr epistemologisch herummurkst, als man gemeinhin annimmt, und auf der anderen Seite dann z.B. die Psychoanalyse als ganz schreckliches Wunschdenken verdammen, wo man doch ungeachtet der Zugehörigkeit zur Geistes- oder Naturwissenschaft gefühlte 98% der Wissenschaft als "nicht hinreichend popperistisch" einstampfen könnte.
Einen "Positivismusstreit" brauchen wir hier nicht führen - es sei denn es hilft dir für dein Coming-out als Habermas-Jünger.
Ich find, wie gesagt Benennungen nicht so interessant, das sind doch bloß Schubladen. Die meisten Leute, die so über Popper reden, haben eine eher naive Meinung davon, wovon er geredet hat und fühlen sich deshalb bestätigt, wenn kompetente Kritiker das Wort "naiv" gebrauchen. Ein Theorie, die auf Grund ihrer logischen Struktur nicht falsifizierbar ist hat z.B. heut zu 98% keine Chance, als wissenschaftlich zu gelten. Ich bin kein Wissenschaftler, aber die wissenschaftliche Arbeiten, die ich so kenne, vorwiegend aus dem Bereich der Kognitionswissenschaft, sind häufig Widerlegungsversuche von Ergebnissen anderer Studien. Insofern scheint mir - als Beispiel -dort das Prinzip der Theoriebewährung Alltag zu sein.
Mich interessiert aber mehr, was du tust, wenn du Wissenschaft machst.
Nanna hat geschrieben:Ganz allgemein besteht Hermeneutik aus der Auslegung von Texten, wobei die Diskurstheoretiker Diskurse sehr weit fassen und auch zielgerichtete praktische Handlungen als kommunikative Akte auffassen. Letztlich geht es darum, wer wem gegenüber mit welchem Ziel mit welchem Symbol welche Botschaft übermitteln will. Gerade in der gesellschaftswissenschaftlichen Ecke ist das Aufdecken von Machtbeziehungen zentral, was die Kunsthistoriker machen, wirst du die selber fragen müssen, da bin ich uninformiert.
Ich persönlich würde sagen, dass es im Kern sehr stark darum geht, Intersubjektivität überhaupt möglich zu machen. Nur wenn ich möglichst genau verstehe, was der Andere meint, kann ich Erkenntnis aus der Kommunikation gewinnen.
Es handelt sich im Wesentlichen also um Kommunikationsprobleme. Die "Machtbeziehungen" sind dann schon wieder etwas, was Kommunikation beinhaltet, genau so wie "Newtonsche Mechanik" oder "Bezinpreise".
Nanna hat geschrieben:Damit verbunden sind das Problem der Subjektivität und die Geschichtlichkeit aller Perspektiven, d.h. die Abhängigkeit des heutigen Wahrnehmens von den (häufig auf Kontingenzen beruhenden) Kategorien der Vergangenheit. Letztlich geht es um die Offenlegung der Beziehungen und möglichst viel Klarheit darüber zu gewinnen, warum so geredet und gedacht wird, wie es nunmal wird und nicht anders - und auch wem das nützt und wem das schadet. Hermeneutik interessiert sich nicht als solche dafür, wo man in der physischen Welt verortet ist, sondern wo man im Diskurs verortet ist.
Das Eine ist die Geschichtlichkeit meiner Perspektiven und das andere ist die Kommunikation darüber. Richtig ist, dass z.B. die DNA nicht entdeckt werden konnte, bevor man nicht eine bestimmte Vorstellung vom Aufbau und vom Verhalten von Molekülen hatte. Aber, dass eine Kirsche von einem Zweig abhängt, schmälert doch ihren Wert als Kirsche nicht!
Nanna hat geschrieben:ujmp hat geschrieben: Das erste Problem ist, welchen Wert deine Sinnesdaten haben und das zweite, wie du über deine Sinnesdaten kommunizierst. Das sind zwei verschiedene Dinge.
Ja, aber das hilft mir als Mitglied einer Gemeinschaft relativ wenig. Letztlich kann ich mich da nur entscheiden, ob ich den Solipsismus wähle oder eben doch die Kommunikation, die aber eben dann das epistemologische Grundproblem eröffnet, dass es zig Perspektiven und keine Master-Perspektive gibt, mit der man alles abgleichen könnte (weshalb Leute sich diese dann künstlich erschaffen, als heilige Schrift oder Fachbuch, egal, beides hängt epistemologisch letztlich gleichermaßen im leeren Raum).
Das ist m.E. eine unnötige Polarisierung und hat auch mit Solipsismus nichts zu tun. Ich hätte statt "Sinnesdaten" einfach "Daten" sagen sollen.
Nanna hat geschrieben:Hermeneutik sehe ich aber gerade als unabdingbar dafür an, dieses konsistente Weltbild zu erzeugen, weil sie eben immer wieder fragt, wer etwas mit welchem Zweck wie gesagt oder gemeint hat. Wie deuten wir etwas, warum tun wir das, hat jemand ein Interesse daran, dass die Deutung exakt diese ist, sind die Prämissen vernünftig gewählt, ist das Argument in sich logisch konsistent, das sind alles so fragen, die im Rahmen eines hermeneutischen Zugangs entstehen könnten. Ich überlege gerade, ob man in einer gewissen Weise nicht sogar die Mathematik dort verorten müsste, weil es da letztlich genauso darum geht, innerhalb eines Symbolsystems Beziehungen offen zu legen.
Die Logik beschäftigt sich mit Ja und Nein, die Mathematik mit Mehr und Weniger. Die Symbole sind nur Namen für diese Beziehungen. Die Hermeneutik ist eher so was wie Rhetorik. Sie bedient sich der Mathematik und der Logik.
Da fällt mir noch ein, dass Begriffe wie "mehr", "weniger", "gleich" und auch logische Strukturen wohl genau so unveränderlich sind, wie die Farbwahrnehmung. Auch ziemliche komplexe Verhaltensweisen, die wir mit Sauriern und Fischen teilen. Der Softwareanteil an unseren Vorstellungen ist viel kleiner als man denkt.
...Hm, und wenn man schon über Tiefe und Subjektivität spricht, muss man doch auch zu Kenntnis nehmen, dass der Glaube an etwas wie eine "Wirklichkeit" viel älter ist und viel tiefer sitzt, als die ganze abstrakten Konstruktionen, die die Menschen all zu oft eher deformiert haben, als dass sie sie zu sich selbst geführt hätten. Sogar der Götterglaube war die längste Zeit seiner Existenz eine Glaube an Wirklichkeiten. Wenn du morgens aufstehst, bist du davon Überzeugt, dass es Gravitation gibt, die dich am Boden hält, dass deine Kaffeemaschine funktioniert, Wasser aus der Leitung kommt, dein Garagentor aufgeht usw.. Erzähl mir nicht, dass du nicht an eine Wirklichkeit glaubst! Alles, was wir an wissenschaftlichen Errungenschaften heute genießen, haben Leute entdeckt weil sie an eine Wirklichkeit glauben.