ujmp hat geschrieben:Was du da erzählst, könnte man "naiven Antirealismus" nennen, mit einer ignoranten Komponente. Ignorant deshalb, weil du ein Handy benutzt, mit dem Flugzeug verreist und über das Internet über Wissenschaft diskutierst, was alles nur durch eben diese Wissenschaft überhaupt möglich wurde. Dass du durch ein Fernglas blickst, bedeutet doch nicht, dass du einen anderen Berg siehst. Das denkst du doch nicht wirklich? Du kannst an den Gesetzen der Optik zweifeln - prima, never stop questioning! Aber dann lauf zum Berg hin, und überprüfe, ob er wirklich nicht so aussieht, wie du ihn durch das Fernglas gesehen hast!
Ah, der alte Vorwurf gegenüber den Fundamentalisten, dass sie Apparate verwenden, deren Entstehung durch Erkenntnisse zustandegekommen ist, die sie entweder nicht akzeptieren oder deren Voraussetzungen ihr Weltbild nicht garantieren könne. Bin ich dafür wirklich der richtige Adressat?
Es geht nicht darum, dass das Fernglas mir etwas Anderes zeigt, in dem Sinne, dass der Berg erst grau war und jetzt im Fernglas plötzlich lila erscheint. Es geht darum, dass das Fernglas meine Sicht auf den Berg verändert (das wäre bei einem tatsächlichen Fernglas ja auch die Intention des Benutzers). Das Fernglas gibt mir eine gewisse Perspektive (einen Blickwinkel, hier mit der optischen Analogie stimmt der Vergleich sogar wörtlich) auf den Berg und es schließt gleichzeitig andere Teile des Bildes aus. So nehme ich den Berg möglicherweise als isoliert und nicht Teil einer Gebirgskette war. Oder ich verschätze mich über sein Volumen, weil ich ihn nur von der schmalen Seite sehe, von der aus ich nicht erkenne, dass es ein langer Kammberg ist. Beachte hier bitte, dass wir eben davon ausgehen, aus der Perspektive nicht wirklich raus zu kommen, also das Fernglas nicht abnehmen zu können und auch den Standpunkt nicht oder nur begrenzt ändern zu können.
Der Prozess des Ausschließens ist hier und in den ganzen strukturalistischen Theorien übrigens sehr wichtig, weil Sprache bei jeder Begriffsbenenung eben genau das tut, nämlich für einen Gegenstand alle anderen Begriffe als Benennung auszuschließen (ein Berg ist ein Berg ist kein Auto ist kein Hund ist kein ujmp usw.). Das wird dann immer da, wo es politisch wird, besonders interessant (ein Deutscher ist kein Franzose ist kein Italiener ist kein Amerikaner ist kein Schwarzer... oha!) und deshalb sind solche Theorien für gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Fragestellungen auch besonders relevant. Begriffe beziehen ihre Bedeutung aus dem Kontext. Ohne Kontext wäre auch "Berg" ein irrelevantes, für niemanden verständliches Zeichen, so wie "asdfghj" aus meinem obigen Beitrag. Und wenn ich einen "Berg" beobachte, fließt eben in meinem Beobachtungsprozess bereits ein, was ich kontextuell als "Berg" bezeichne, wo ich ihn kontextuell verorte und was ich von einem "Berg" erwarte. Das sind erst mal banale Sachen, und, wie gesagt, man kommt in der Naturwissenschaft auch sehr weit, ohne das zu reflektieren, aber ab einem gewissen Punkt wird es relevant (meist da, wo ethische oder gesellschaftspolitische Fragen mit der Naturwissenschaft verwoben sind). Wichtig ist es auch da, wo die Grenzen des Berges ins Spiel kommen. Da merkt man nämlich sehr schnell, dass auch Räume kulturell und sprachlich definiert sind (und dazu gibt es wirklich eine reichhaltige Forschung, Literaturliste gern auf Anfrage) und der "Berg" wäre hier ein Raum. Klarer wird die Problematik der Willkür in der Raumdefinition etwa, wenn man Stadtviertel betrachtet (wo beginnt es, wo endet es, wer zieht mit welcher Begründung und welchem Interesse die Grenzen?). Gerade in der Geografie kann man eben gut beobachten, wie relevant poststrukturalistische Informiertheit auch für (teils) physisch orientierte Disziplinen sein kann.
ujmp hat geschrieben:Die Beste Erklärung dafür, dass die Theorien der Wissenschaft erfolgreich sind, ist, dass sie wahr sind - da find ich Alan Musgrave recht überzeugend. Es kann sein, dass verschiedene Perspektiven wahr sind. Es ist nicht jede Perspektive gleichermaßen wahr.
Ich würde sagen, Sachen sind nicht ein bisschen wahr, sondern entweder wahr oder falsch. Eine Aussage, die zu 99% Wahrheit enthält, ist als Ganzes immer noch falsch. Ich würde deshalb höchstens sagen, dass eine Aussage Wahrheit enthält, wobei ich weiter unten noch schreibe, dass ich für die physische Welt mit Wahrheitsaussagen vorsichtig wäre. Im Prinzip muss man immer den Disclaimer voranstellen, dass man über die physische Welt bestimmte Annahmen macht und unter der Voraussetzung, dass diese gelten, bestimmte Sätze wahr sind.
ujmp hat geschrieben:Die Perspektive eines Wünschelrutengängers ist aber nicht wahr, es ist jedenfalls nicht besonders clever, sie einzunehmen. Die Frage ist nicht so sehr, was eine Theorie wahr macht, die Frage ist, was es vernünftig macht, eine Theorie für wahr zu halten. Das ist m.E. eine Frage der Cleverness. Man muss sich einfach nur von diesem aufgeblasenen religiös inspirierten Wissensanspruch lösen, der auf Unfehlbarkeit aus ist und alles für Nichts erachtet, was nicht für immer und ewig feststeht.
Einverstanden, aber dann musst du das so kennzeichnen, wenn du diesen Wahrheitsbegriff benutzt. Und vor allem zeigt sich gerade in diesen Sätzen ja sehr schön, wie selbst der Begriff von Wahrheit eine Definitions- und Perspektivenfrage ist. Du plädierst für Pragmatismus, da bin ich ganz auf deiner Seite, aber nur, weil wir da der Meinung sind, dass das eine clevere Perspektive ist, heißt das ja nicht, dass die Suche nach absoluten Wahrheiten per se nicht sein kann oder darf. Da wird eben klar, wie sehr die intersubjektive Verständigung letztlich ausschlaggebend für das ist, was als Wahrheit akzeptiert wird (hier: pragmatische, anwendungsorientierte, vorläufige Wahrheit gegenüber absoluter, letztgültiger Wahrheit). Man kann nicht einerseits die "Aufgeblasenheit" bestimmter Ansprüche kritisieren, also letztlich Bescheidenheit gegenüber den eigenen Erkenntnisgrenzen einzufordern und dann gleichzeitig behaupten, die eigene Perspektive sei die einzig wahre, weil sie clever sei. Wenn ich von ewigen, letztgültigen Ansprüchen abweiche, ist das ja automatisch ein Schritt zu einer Weltsicht, die die eigene Unvollständigkeit akzeptiert. Das heißt aber dann eben auch folgerichtig, einen Meinungspluralismus zuzulassen und die Perspektivengebundenheit unserer Wahrnehmung (die letztlich darüber entscheidet,
welchen unvollständigen Ausschnitt wir
wie in unserem Diskurssystem wiedergeben) anzuerkennen.
ujmp hat geschrieben:Die Formulierung von Theorien hängt sicher von der Vorstellungwelt des Beobachters ab, aber nicht ihr Wahrheitsgehalt - wie denn auch? Da der Beobachter Teil einer Welt ist - von irgendwas ist er ja Teil - ist diese Welt auch Teil von ihm. Nicht alles ist Teil von ihm. Und er kann auch Vorstellungen haben, die nur als Teil von ihm selbst, innerhalb seiner eigenen Grenzen existieren und daher nicht Teil von allen Teilen der Welt sind. Es gibt aber m.E. überhaupt keinen Anlass zu der Annahme, dass wir keinen Zugriff auf die uns umgebende Welt haben, von der wir ja ein Teil sind, diese Annahme ist sogar absurd!
Wenn du aufmerksam liest, dann merkst du, dass ich geschrieben habe, dass wir "keinen
unmittelbaren Zugang zu diesem Geschehen haben, sondern abhängig von den Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres sprachlichen Zugangs sind". Ich habe nichts davon gesagt, dass wir keinen Zugang zu Welt haben. Wir haben nur keinen, der frei ist von einer gewissen bias, die immer anders sein kann, aber nie verschwindet. Das liegt daran, dass wir als sprachliche und denkende Wesen immer an Prämissen gebunden sind und Informationen immer kontextuell innerhalb unserer Innenwelt verarbeiten, in der das Bild von der Außenwelt entsteht. Unser Bild ist weder unverfälscht noch vollständig, und das beinhaltet auch triviale Beobachtungsvorgänge, wo wir dann gern sagen "aber das sieht man doch" und für den Alltagsgebrauch natürlich auch damit recht haben, aber uns streng genommen natürlich eine Objektivität vorlügen, wie wir zwar emotional sicher brauchen, über die wir im emphatischen Sinne aber nicht verfügen.
Was den Wahrheitsgehalt von Theorien angeht, so würde ich maximal so weit gehen, zu sagen, dass Strukturen in der Theorie mit physischen Strukturen korrelieren, was aber noch keine Wahrheit ist, selbst wenn Widerspruchsfreiheit und Prognosefähigkeit herrschen. Auf einem Bild von den Niagarafällen sieht man auch nicht die Wahrheit über die Niagarafälle, aber natürlich korrelieren die Farbeinheiten auf dem Bild mit den optischen Gegebenheiten vor Ort. Wahre Aussagen gibt es meines Erachtens in Bezug auf die physische Welt überhaupt nicht, sondern nur innerhalb von Theorien. Ein mathematischer Satz kann wahr sein, weil man über die Kontrolle der Prämissen den kompletten Kontext kontrollieren kann. In der physischen Welt weiß man nie, wie viel vom Gesamtbild man wirklich auf dem Schirm hat und ob man den Kontext - sofern man das sprachlich kann, was ich bezweifle - korrekt erfasst hat.