Szientismus oder die böse Wissenschaft

Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Zappa » Sa 10. Aug 2013, 07:19

Vollbreit hat geschrieben: Wer wen kennt, läuft unter Anekdote und gildet nicht.

Ebend :mg:

Vollbreit hat geschrieben:Die Formulierung des SvaW ist auch von Waismann, stimmt aber. Wenn es wahr ist, dass meine Tasse auf dem Schreitisch steht, dann ist es falsch, dass sie in der Spülmaschine ist, das würde auch (klassisch) für Quantenzeugs gelten, gilt aber eben nicht.

Ich hoffe ja mal nicht, dass ein Physiker und Philosoph das so gesagt hat* :erschreckt:

Das Problem haben die Physiker natürlich erkannt und mussten sich entscheiden: Benutze ich weiter die klassische Begrifflichkeit und verstricke mich in logische Widersprüche oder vermeide ich logische Widersprüche und führe eine neue Terminologie ein (-> "Welle-Teilchen Dualismus"). Wie jeder weiß, haben sich die Physiker für den zweiten Weg entschieden.

* Kommt man an den Artikel irgendwie ran?
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Zappa » Sa 10. Aug 2013, 07:25

AgentProvocateur hat geschrieben:Pinker ist wohl Professor für Psychologie. Ist Psychologie eine "science" oder gehört sie zu den "humanities"?

Pinker vertritt einen evolutionären und neurobiologischen Ansatz in der Psychologie, für ihn ist sie also Science.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon mat-in » Sa 10. Aug 2013, 08:14

Das Problem ist die Mehrdeutigkeit von "Skeptiker". Ich finde den Leuten die immer wieder mit den gleichen (Widerlegten!) Argumenten ankommen, daß es gar nicht wärmer wird, das es wärmer wird aber die Sonne allein schuld ist, usw. gehört der Term "Skeptiker" nicht. Das ist unglücklich. Es sagt ja auch niemand "Evolutionsskeptiker" zu den Kreationisten.

In der Wissenschaft gibt es nun ein mal Tatsachen. Natürlich wird die ein oder andere Theorie mal von einer besseren abgelößt, aber das Einstein was zur Gravitation gesagt hat macht Newtons gleichungen nicht vollständig ungültig und nutzlos. Es sind nun mal keine "ewigen" Theorien, wir denken immer vorwärts.

Was nicht verwechselt/vermischt werden darf ist eine "überlegene Theorie" vs. eine "überlegene Person". Die Beschleunigung eines fallenden Gegenstandes mit mit 9,8m/s² anzugeben und die Falldauer mit der Quadratwurzel aus (2x Fallstrecke durch 9,8) zu berechnen ist nicht perfekt aber sehr alltagstauglich. Gravitationsskeptiker die jetzt daherkommen mit der Idee, das alle Sachen genau eine Sekunde fallen, weil wann immer sie etwas fallenlassen in der Wohnung sie nur laut bis 2 zählen können wenn es aufschlägt haben die erheblich schlechtere Theorie. Wenn man jetzt auf zweiteres pocht, obwohl man vorgeführt bekommt das Dinge vom 40-meter-Kirchturm sogar über 2 Sekunden fallen und das eine Verschwörung der Gravitationsgläubigen nennt... dann macht man sich früher oder später auch als Person lächerlich. Das sollte man jedoch von der Hypothese / Theorie trennen... niemand betreibt Wissenschaft um "im Recht zu sein und andere dumm aussehen zu lassen" im Gegenteil, es ist manchmal sogar enorm schwer und macht keinen Spaß. Aber durch weghören weil Fakten nicht in die eigene Ideologie passen ändern sich die Fakten nun mal nicht.

Was und zum zweiten Thema bringt, den Grenzüberschreitungen. Ich denke, kein Wissenschaftler der bei klarem Verstand ist wird sagen, daß von der Chemie über die Biologie bis in die Sozial-/Politikwissenschaft hinein alles überflüssig ist, weil Menschen auch in großen Gemeinschaften schließlich nur aus Atomen bestehen. Was jedoch berechtigte Kritik ist - und hier müssen sich Wissenschaftsfelder in andere Bereiche einmischen - ist, wenn ein Feld die Erkentnisse eines anderen ignoriert. Stell die Physik fest, daß es über 100 Elemente gibt, kann man in der Chemie nicht die Scheuhklappen aufsetzen und davon ausgehen das alles aus Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht. Die Physik pocht dann zu Recht drauf, das da was nicht stimmen kann. Genauso verhält es sich damit, wenn die Sozialwissenschaft oder Theologie der Meinung ist, daß der Mensch etwas ganz besonderes ist, weil er das Leid anderer nachempfinden kann. Wenn die Neurowissenschaft Spiegelneurone findet, welche die Grundlage für nachempfinden/mitempfinden bilden und diese sogar zu erst bei Äffchen entdeckt, dann muß das andere Fachgebiet sich informieren und umdenken. Auf eine alte Idee pochen und als einziges Argument "da hat die Neurowissenschaft keine Ahnung von, die will sich bloß einmischen" kann da nicht zählen. Natürlich ersetzt die Neurowissenschaft die entsprechenden Felder nicht mal auf lange sicht, allein schon wegen der Komplexität, aber immer mehr "vage Theorien die in der Praxis einigermaßen bewährt sind aber deren Grundlagen nicht bekannt sind" werden umgeschrieben werden (müssen), wenn die Grundlagen bekannt sind. Genau so wie die Chemie heute nicht mehr von nur 4 Elementen ausgehen kann.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » Sa 10. Aug 2013, 08:23

mat-in hat geschrieben:Was nicht verwechselt/vermischt werden darf ist eine "überlegene Theorie" vs. eine "überlegene Person". Die Beschleunigung eines fallenden Gegenstandes mit mit 9,8m/s² anzugeben und die Falldauer mit der Quadratwurzel aus (2x Fallstrecke durch 9,8) zu berechnen ist nicht perfekt aber sehr alltagstauglich.

...im Alltag ist das sogar die überlegene Theorie. Die Tauglichkeit einer Theorie hängt davon ab, welches Problem man lösen will.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon mat-in » Sa 10. Aug 2013, 08:28

Und beide Theorien (Einstein oder Newton, egal) sind in diesem Fall besser als die Theorie des "Schwerkraftskeptikers".
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Zappa » Sa 10. Aug 2013, 09:37

mat-in hat geschrieben:Was jedoch berechtigte Kritik ist - und hier müssen sich Wissenschaftsfelder in andere Bereiche einmischen - ist, wenn ein Feld die Erkentnisse eines anderen ignoriert.

Ich habe Pinker auch so verstanden, dass es ihm genau darum geht. Das ist vor seinem interdisziplinären Standpunkt aus natürlich auch mehr als verständlich. Ich kann mit gut vorstellen wie Linguisten und Psychologen auf seine naturwissenschaftliche Ansätze und Erkenntnisse reagiert haben.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Nanna » Sa 10. Aug 2013, 13:09

Zappa hat geschrieben:3. Laut neuem Realismus (den Gabriel vertritt) drei Gegenstände: Die beiden Perspektiven und den Berg.

Ich würde da einwenden, dass die Abgrenzung eines Berges zu seiner Umwelt und die Benennung als "Berg" bereits eine, im Ansatz willkürliche, menschliche Setzung ist. D.h. es wären nicht die beiden Perspektiven und der Berg, sondern die beiden Perspektiven und etwas Physisches (was wir "Berg" nennen, aber das ist ja schon wieder nicht unabhängig von der menschlichen Perspektive).

Nehmen wir an, es gibt etwas auf einem fernen Planeten, das wir heute nicht kennen und folglich auch nicht benennen, das wir in 10 Mio. Jahren, wenn wir den Planeten kolonisieren "asdfghj" nennen (nein, ich habe nicht mit dem Finger über die Tastatatur geschliffen...). Obwohl die physische Struktur, die wir so bezeichnen würden, auf diesem Planeten bereits heute existiert, gibt es ganz offensichtlich keinen Begriff "asdfghj" und auch nicht den zugehörigen sprachlichen Kontext (ich hatte an anderer Stelle schon mal unter Zuhilfenahme des Poststrukturalismus die Kontextgebundenheit von Begriffen erläutert). Das "asdfghj" entsteht als solches erst im Augenblick der Betrachtung und Benennung und dass es so genannt wird und nicht "qwertzui" liegt am dann herrschenden sprachlichen Kontext und nicht an physischen Merkmalen der Struktur.

Zappa hat geschrieben:Materialismus und Konstruktivismus vereinfachen demnach unbegründet die Wirklichkeit, "... indem sie die Wirklichkeit entweder einseitig als die Welt ohne Zuschauer oder ebenso einseitig als die Welt der Zuschauer verstehen." (a.a.O. S. 15)*

Ich habe kein Problem die Existenz einer physischen Struktur, die wir als "Berg" bezeichnen, anzuerkennen. Nur wird sie dadurch ja nicht für uns zugänglicher. Gabriel kann noch so vehement sagen und damit noch so recht haben (gebe ich absolut zu!), dass da nicht nur zwei Dinge (die Perspektiven) sind, sondern auch eine dritte Sache, nämlich das Physische, worauf sich die Perspektiven beziehen, er kann deshalb ja nicht genauer sagen als A und B, was der Berg nun eigentlich ist. Natürlich kann man den Berg wiegen und vermessen und was weiß ich an Methodik darauf anwenden, aber dass der Berg vermessen werden muss, um definiert werden zu können, ist ja schon wieder eine spezifische Perspektive, die, und das macht den Konstruktivismus aus, eben immer auch anders sein könnte. Es gibt keine wahre Perspektive auf den Berg, auch wenn wir natürlich davon ausgehen dürfen, dass eine physische Repräsentanz des Berges existiert und zwar außerhalb unserer konstruierenden Gehirne. Wenn Gabriel jetzt sagt, wir müssen den wahren Berg auch berücksichtigen, dann läuft er große Gefahr, unter den Teppich zu kehren, dass er damit nicht "Perspektive A + Perspektive B + Berg" betrachtet, sondern "Perspektive A + Perspektive B + Perspektive C".
Ich verstehe schon, dass es einen Unterschied macht, ob man nun davon ausgeht, dass da ein physischer Gegenstand besteht, der bei physischer Einwirkung auch physische und damit wahrnehmbare Rückmeldung gibt, aber man muss halt extrem aufpassen, da nicht auf die schiefe Ebene eines naiven Realismus zurück zu schlittern. Was der Berg ist, können wir nicht letztgültig und objektiv entscheiden, und naturwissenschaftliche Fortschritte ändern daran nichts. Wenn ich durch ein Fernglas auf einen Gegenstand blicke, ändert die Erhöhung der Vergrößerung und die Schärfung des Bildes einfach nichts daran, dass ich durch ein Fernglas blicke und dadurch eine bestimmte Perspektive einnehme.

Zappa hat geschrieben:Der Konstruktivismus führt nach Gabriel zu logischen Widersprüchen, dass Hauptproblem ist, dass mit ihm auch die Annahme des erkennenden Subjektes und damit die Grundlage der Philosophie verschwindet. Wenn alles nicht "wirklich gegenständlich" ist, sondern nur konstruiert, dann gilt das auch für uns (unser Gehirn, unsere Sinne, unser Subjekt), was natürlich zu Zirkelschlüssen oder logischen Widersprüchen führt.

Ich weiß nicht, was Habermas konkert dazu sagt, aber meine Antwort wäre, dass da das Missverständnis besteht, die Negierung einer objektiven Perspektive mit der Negierung einer physischen Welt gleichzusetzen. Es ist der Zugang zur Welt, der Probleme macht, zumindest insofern als er objektiv sein soll, nicht die Tatsache, dass es eine gegenständliche Welt gibt. Das physische Geschehen gibt es auch ohne unsere Beobachtung und ohne Benennung, aber sobald wir darüber sprechen und für uns einen Erkenntniszugang schaffen wollen, stehen wir halt vor dem Problem, dass wir keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Geschehen haben, sondern abhängig von den Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres sprachlichen Zugangs sind.

Zappa hat geschrieben:Er wirft allerdings Habermas weniger diese Widersprüche vor, sondern die Tatsache, dass er sich aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Position auf die Bereiche zurückgezogen hat, wo dieser Ansatz funktioniert (Geisteswissenschaften) und weite Felder der Erkenntnistheorie den Naturwissenschaften überlassen hat.

Dazu kann ich nichts sagen, wobei ich zumindest anmerken muss, dass die Implikationen des Konstruktivismus bei der Analyse innerhumaner, also kultureller Vorgänge auch relevanter sind, als bei der Vermessung eines Berges (wobei der linguistic turn in der Kulturgeografie mit den stärksten Einfluss von allen Disziplinen überhaupt hatte, weil da bis in die 1960er ein naiver Naturdeterminismus vorherrschte, wie man ihn auch heute noch vielfach zu hören kriegt, nach dem Motto "Die Griechen sind faul, weil sie wegen des Klimas nie Vorratswirtschaft betreiben mussten und immer nur Wein gesoffen haben"... autsch!). In den Naturwissenschaften kann man selbst mit Materialismus oder einem naiven Realismus noch recht weit kommen, ich nehme auch an, dass das unter Absolventen der MINT-Fächer die vorherrschende, wahrscheinlich mangels Philosophieseminaren auch wenig reflektierte Sicht auf die Welt ist und es funktioniert ja offensichtlich, damit Ergebnisse zu bekommen. In den Geisteswissenschaften und insbesondere den Sozialwissenschaften, wo man als Beobachter immer gleichzeitig Teil des beobachteten Gegenstandes ist und damit das Problem der Vorurteilsgebundenheit der Forschung wirklich massiv ist, ist es viel drängender, sich mit dem Perspektivenproblem auseinander zu setzen.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » Sa 10. Aug 2013, 14:41

Nanna hat geschrieben:Ich verstehe schon, dass es einen Unterschied macht, ob man nun davon ausgeht, dass da ein physischer Gegenstand besteht, der bei physischer Einwirkung auch physische und damit wahrnehmbare Rückmeldung gibt, aber man muss halt extrem aufpassen, da nicht auf die schiefe Ebene eines naiven Realismus zurück zu schlittern. Was der Berg ist, können wir nicht letztgültig und objektiv entscheiden, und naturwissenschaftliche Fortschritte ändern daran nichts. Wenn ich durch ein Fernglas auf einen Gegenstand blicke, ändert die Erhöhung der Vergrößerung und die Schärfung des Bildes einfach nichts daran, dass ich durch ein Fernglas blicke und dadurch eine bestimmte Perspektive einnehme.

Was du da erzählst, könnte man "naiven Antirealismus" nennen, mit einer ignoranten Komponente. Ignorant deshalb, weil du ein Handy benutzt, mit dem Flugzeug verreist und über das Internet über Wissenschaft diskutierst, was alles nur durch eben diese Wissenschaft überhaupt möglich wurde. Dass du durch ein Fernglas blickst, bedeutet doch nicht, dass du einen anderen Berg siehst. Das denkst du doch nicht wirklich? Du kannst an den Gesetzen der Optik zweifeln - prima, never stop questioning! Aber dann lauf zum Berg hin, und überprüfe, ob er wirklich nicht so aussieht, wie du ihn durch das Fernglas gesehen hast!

Die Beste Erklärung dafür, dass die Theorien der Wissenschaft erfolgreich sind, ist, dass sie wahr sind - da find ich Alan Musgrave recht überzeugend. Es kann sein, dass verschiedene Perspektiven wahr sind. Es ist nicht jede Perspektive gleichermaßen wahr. Die Perspektive eines Wünschelrutengängers ist aber nicht wahr, es ist jedenfalls nicht besonders clever, sie einzunehmen. Die Frage ist nicht so sehr, was eine Theorie wahr macht, die Frage ist, was es vernünftig macht, eine Theorie für wahr zu halten. Das ist m.E. eine Frage der Cleverness. Man muss sich einfach nur von diesem aufgeblasenen religiös inspirierten Wissensanspruch lösen, der auf Unfehlbarkeit aus ist und alles für Nichts erachtet, was nicht für immer und ewig feststeht.

Die Formulierung von Theorien hängt sicher von der Vorstellungwelt des Beobachters ab, aber nicht ihr Wahrheitsgehalt - wie denn auch? Da der Beobachter Teil einer Welt ist - von irgendwas ist er ja Teil - ist diese Welt auch Teil von ihm. Nicht alles ist Teil von ihm. Und er kann auch Vorstellungen haben, die nur als Teil von ihm selbst, innerhalb seiner eigenen Grenzen existieren und daher nicht Teil von allen Teilen der Welt sind. Es gibt aber m.E. überhaupt keinen Anlass zu der Annahme, dass wir keinen Zugriff auf die uns umgebende Welt haben, von der wir ja ein Teil sind, diese Annahme ist sogar absurd!
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Nanna » Sa 10. Aug 2013, 15:41

ujmp hat geschrieben:Was du da erzählst, könnte man "naiven Antirealismus" nennen, mit einer ignoranten Komponente. Ignorant deshalb, weil du ein Handy benutzt, mit dem Flugzeug verreist und über das Internet über Wissenschaft diskutierst, was alles nur durch eben diese Wissenschaft überhaupt möglich wurde. Dass du durch ein Fernglas blickst, bedeutet doch nicht, dass du einen anderen Berg siehst. Das denkst du doch nicht wirklich? Du kannst an den Gesetzen der Optik zweifeln - prima, never stop questioning! Aber dann lauf zum Berg hin, und überprüfe, ob er wirklich nicht so aussieht, wie du ihn durch das Fernglas gesehen hast!

Ah, der alte Vorwurf gegenüber den Fundamentalisten, dass sie Apparate verwenden, deren Entstehung durch Erkenntnisse zustandegekommen ist, die sie entweder nicht akzeptieren oder deren Voraussetzungen ihr Weltbild nicht garantieren könne. Bin ich dafür wirklich der richtige Adressat?

Es geht nicht darum, dass das Fernglas mir etwas Anderes zeigt, in dem Sinne, dass der Berg erst grau war und jetzt im Fernglas plötzlich lila erscheint. Es geht darum, dass das Fernglas meine Sicht auf den Berg verändert (das wäre bei einem tatsächlichen Fernglas ja auch die Intention des Benutzers). Das Fernglas gibt mir eine gewisse Perspektive (einen Blickwinkel, hier mit der optischen Analogie stimmt der Vergleich sogar wörtlich) auf den Berg und es schließt gleichzeitig andere Teile des Bildes aus. So nehme ich den Berg möglicherweise als isoliert und nicht Teil einer Gebirgskette war. Oder ich verschätze mich über sein Volumen, weil ich ihn nur von der schmalen Seite sehe, von der aus ich nicht erkenne, dass es ein langer Kammberg ist. Beachte hier bitte, dass wir eben davon ausgehen, aus der Perspektive nicht wirklich raus zu kommen, also das Fernglas nicht abnehmen zu können und auch den Standpunkt nicht oder nur begrenzt ändern zu können.
Der Prozess des Ausschließens ist hier und in den ganzen strukturalistischen Theorien übrigens sehr wichtig, weil Sprache bei jeder Begriffsbenenung eben genau das tut, nämlich für einen Gegenstand alle anderen Begriffe als Benennung auszuschließen (ein Berg ist ein Berg ist kein Auto ist kein Hund ist kein ujmp usw.). Das wird dann immer da, wo es politisch wird, besonders interessant (ein Deutscher ist kein Franzose ist kein Italiener ist kein Amerikaner ist kein Schwarzer... oha!) und deshalb sind solche Theorien für gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Fragestellungen auch besonders relevant. Begriffe beziehen ihre Bedeutung aus dem Kontext. Ohne Kontext wäre auch "Berg" ein irrelevantes, für niemanden verständliches Zeichen, so wie "asdfghj" aus meinem obigen Beitrag. Und wenn ich einen "Berg" beobachte, fließt eben in meinem Beobachtungsprozess bereits ein, was ich kontextuell als "Berg" bezeichne, wo ich ihn kontextuell verorte und was ich von einem "Berg" erwarte. Das sind erst mal banale Sachen, und, wie gesagt, man kommt in der Naturwissenschaft auch sehr weit, ohne das zu reflektieren, aber ab einem gewissen Punkt wird es relevant (meist da, wo ethische oder gesellschaftspolitische Fragen mit der Naturwissenschaft verwoben sind). Wichtig ist es auch da, wo die Grenzen des Berges ins Spiel kommen. Da merkt man nämlich sehr schnell, dass auch Räume kulturell und sprachlich definiert sind (und dazu gibt es wirklich eine reichhaltige Forschung, Literaturliste gern auf Anfrage) und der "Berg" wäre hier ein Raum. Klarer wird die Problematik der Willkür in der Raumdefinition etwa, wenn man Stadtviertel betrachtet (wo beginnt es, wo endet es, wer zieht mit welcher Begründung und welchem Interesse die Grenzen?). Gerade in der Geografie kann man eben gut beobachten, wie relevant poststrukturalistische Informiertheit auch für (teils) physisch orientierte Disziplinen sein kann.

ujmp hat geschrieben:Die Beste Erklärung dafür, dass die Theorien der Wissenschaft erfolgreich sind, ist, dass sie wahr sind - da find ich Alan Musgrave recht überzeugend. Es kann sein, dass verschiedene Perspektiven wahr sind. Es ist nicht jede Perspektive gleichermaßen wahr.

Ich würde sagen, Sachen sind nicht ein bisschen wahr, sondern entweder wahr oder falsch. Eine Aussage, die zu 99% Wahrheit enthält, ist als Ganzes immer noch falsch. Ich würde deshalb höchstens sagen, dass eine Aussage Wahrheit enthält, wobei ich weiter unten noch schreibe, dass ich für die physische Welt mit Wahrheitsaussagen vorsichtig wäre. Im Prinzip muss man immer den Disclaimer voranstellen, dass man über die physische Welt bestimmte Annahmen macht und unter der Voraussetzung, dass diese gelten, bestimmte Sätze wahr sind.

ujmp hat geschrieben:Die Perspektive eines Wünschelrutengängers ist aber nicht wahr, es ist jedenfalls nicht besonders clever, sie einzunehmen. Die Frage ist nicht so sehr, was eine Theorie wahr macht, die Frage ist, was es vernünftig macht, eine Theorie für wahr zu halten. Das ist m.E. eine Frage der Cleverness. Man muss sich einfach nur von diesem aufgeblasenen religiös inspirierten Wissensanspruch lösen, der auf Unfehlbarkeit aus ist und alles für Nichts erachtet, was nicht für immer und ewig feststeht.

Einverstanden, aber dann musst du das so kennzeichnen, wenn du diesen Wahrheitsbegriff benutzt. Und vor allem zeigt sich gerade in diesen Sätzen ja sehr schön, wie selbst der Begriff von Wahrheit eine Definitions- und Perspektivenfrage ist. Du plädierst für Pragmatismus, da bin ich ganz auf deiner Seite, aber nur, weil wir da der Meinung sind, dass das eine clevere Perspektive ist, heißt das ja nicht, dass die Suche nach absoluten Wahrheiten per se nicht sein kann oder darf. Da wird eben klar, wie sehr die intersubjektive Verständigung letztlich ausschlaggebend für das ist, was als Wahrheit akzeptiert wird (hier: pragmatische, anwendungsorientierte, vorläufige Wahrheit gegenüber absoluter, letztgültiger Wahrheit). Man kann nicht einerseits die "Aufgeblasenheit" bestimmter Ansprüche kritisieren, also letztlich Bescheidenheit gegenüber den eigenen Erkenntnisgrenzen einzufordern und dann gleichzeitig behaupten, die eigene Perspektive sei die einzig wahre, weil sie clever sei. Wenn ich von ewigen, letztgültigen Ansprüchen abweiche, ist das ja automatisch ein Schritt zu einer Weltsicht, die die eigene Unvollständigkeit akzeptiert. Das heißt aber dann eben auch folgerichtig, einen Meinungspluralismus zuzulassen und die Perspektivengebundenheit unserer Wahrnehmung (die letztlich darüber entscheidet, welchen unvollständigen Ausschnitt wir wie in unserem Diskurssystem wiedergeben) anzuerkennen.

ujmp hat geschrieben:Die Formulierung von Theorien hängt sicher von der Vorstellungwelt des Beobachters ab, aber nicht ihr Wahrheitsgehalt - wie denn auch? Da der Beobachter Teil einer Welt ist - von irgendwas ist er ja Teil - ist diese Welt auch Teil von ihm. Nicht alles ist Teil von ihm. Und er kann auch Vorstellungen haben, die nur als Teil von ihm selbst, innerhalb seiner eigenen Grenzen existieren und daher nicht Teil von allen Teilen der Welt sind. Es gibt aber m.E. überhaupt keinen Anlass zu der Annahme, dass wir keinen Zugriff auf die uns umgebende Welt haben, von der wir ja ein Teil sind, diese Annahme ist sogar absurd!

Wenn du aufmerksam liest, dann merkst du, dass ich geschrieben habe, dass wir "keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Geschehen haben, sondern abhängig von den Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres sprachlichen Zugangs sind". Ich habe nichts davon gesagt, dass wir keinen Zugang zu Welt haben. Wir haben nur keinen, der frei ist von einer gewissen bias, die immer anders sein kann, aber nie verschwindet. Das liegt daran, dass wir als sprachliche und denkende Wesen immer an Prämissen gebunden sind und Informationen immer kontextuell innerhalb unserer Innenwelt verarbeiten, in der das Bild von der Außenwelt entsteht. Unser Bild ist weder unverfälscht noch vollständig, und das beinhaltet auch triviale Beobachtungsvorgänge, wo wir dann gern sagen "aber das sieht man doch" und für den Alltagsgebrauch natürlich auch damit recht haben, aber uns streng genommen natürlich eine Objektivität vorlügen, wie wir zwar emotional sicher brauchen, über die wir im emphatischen Sinne aber nicht verfügen.

Was den Wahrheitsgehalt von Theorien angeht, so würde ich maximal so weit gehen, zu sagen, dass Strukturen in der Theorie mit physischen Strukturen korrelieren, was aber noch keine Wahrheit ist, selbst wenn Widerspruchsfreiheit und Prognosefähigkeit herrschen. Auf einem Bild von den Niagarafällen sieht man auch nicht die Wahrheit über die Niagarafälle, aber natürlich korrelieren die Farbeinheiten auf dem Bild mit den optischen Gegebenheiten vor Ort. Wahre Aussagen gibt es meines Erachtens in Bezug auf die physische Welt überhaupt nicht, sondern nur innerhalb von Theorien. Ein mathematischer Satz kann wahr sein, weil man über die Kontrolle der Prämissen den kompletten Kontext kontrollieren kann. In der physischen Welt weiß man nie, wie viel vom Gesamtbild man wirklich auf dem Schirm hat und ob man den Kontext - sofern man das sprachlich kann, was ich bezweifle - korrekt erfasst hat.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » Sa 10. Aug 2013, 16:11

Zappa hat geschrieben:Ich beziehe mich dabei auf eine Kritik von Markus Gabriel ("Warum es die Welt nicht gibt" - trotz Platzierung auf den Bestsellerlisten anspruchsvoll und lesenswert) an Habermas. Dazu muss ich etwas ausholen:

Gabriel unterscheidet in seinem Buch die erkenntnistheoretischen Ansätze grob in Materialismus, Konstruktivismus und Neuen Realismus. An einem Beispiel macht er den grundlegenden Unterschied klar: Wenn zwei Leute (A & B) einen Berg sehen, dann gibt es:

1. Laut Materialismus einen Gegenstand: Den Berg.
2. Laut Konstruktivismus zwei Gegenstände: Die Perspektive von A und B.
3. Laut neuem Realismus (den Gabriel vertritt) drei Gegenstände: Die beiden Perspektiven und den Berg.

Materialismus und Konstruktivismus vereinfachen demnach unbegründet die Wirklichkeit, "... indem sie die Wirklichkeit entweder einseitig als die Welt ohne Zuschauer oder ebenso einseitig als die Welt der Zuschauer verstehen." (a.a.O. S. 15)*

Habermas setzt auf die Kant´sche Erkenntnistheorie auf, die bekanntlich negiert, dass man Dinge an sich anschauen kann.
Dinge an sich nach Kant, kann man auch nicht anschauen, weil sie so etwas wie geistige Repräsentationen sind. Aber Habermas macht sich eigentlich für das Projekt der Detranzendentalisierung stark und leugnet auch keinesfalls eine objektive Welt. Er sagt, wir seien getrennte Subjekte, in einer gemeinschaftlich geteilten objektiven Welt.

Zappa hat geschrieben:Er ist nach dieser Definition Konstruktivist (natürlich gibt es hier, wie auch in den anderen Bereichen viele Subklassifizierungen), der "Trick" läuft über Kants Setzung, dass die Welt eine "regulative Idee" ist. Habermas drückt das u.a. so aus: "Aus dieser Sicht verliert auch die Unterscheidung zwischen Erscheinung und "Ding-an-sich" ihren Sinn. ... ontologisch betrachtet, tritt an die Stelle eines transzendentalen Idealismus ... ein interner Realismus. Demnach ist alles "real" was in wahren Aussagen dargestellt werden kann ..." (JH Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. Reclam 2001, S. 18).

Ja, aber das meint eine Einigung auch über die Außenwelt.

Zappa hat geschrieben:Der Konstruktivismus führt nach Gabriel zu logischen Widersprüchen, dass Hauptproblem ist, dass mit ihm auch die Annahme des erkennenden Subjektes und damit die Grundlage der Philosophie verschwindet.
Lustigerweise ist Habermas' Kritik am Szientismus in „Erkenntnis und Interesse“, wenn man sie auf einen Satz eindampft, genau die, dass beim Szientismus das Subjekt verschwindet.
Ich kenne auch keine einzige andere Stelle bei Habermas, an der er das Subjekt leugnen würde.

Zappa hat geschrieben:Wenn alles nicht "wirklich gegenständlich" ist, sondern nur konstruiert, dann gilt das auch für uns (unser Gehirn, unsere Sinne, unser Subjekt), was natürlich zu Zirkelschlüssen oder logischen Widersprüchen führt.
Diese Kritik am Konstruktivismus ist m.E. vollkommen richtig, nur weiß ich nicht, wie man auf die Idee kommen kann, Habermas sei Konstruktivist. Seine Kontroverse mit Luhmann (einem Konstruktivisten) ist bekannt, er wendet sich an zig Stellen gegen den Konstruktivismus.

Zappa hat geschrieben:Er wirft allerdings Habermas weniger diese Widersprüche vor, sondern die Tatsache, dass er sich aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Position auf die Bereiche zurückgezogen hat, wo dieser Ansatz funktioniert (Geisteswissenschaften) und weite Felder der Erkenntnistheorie den Naturwissenschaften überlassen hat.
Exakt das, dass die Erkenntnistheorie vom Szientismus abgelöst wird, ist allerdings wiederum Habermas' Kritik aus Erkenntnis und Interesse.
Finde ich etwas eigenartig und es ist wohl unnötig das weiter zu vertiefen.


Zappa hat geschrieben:Das Problem haben die Physiker natürlich erkannt und mussten sich entscheiden: Benutze ich weiter die klassische Begrifflichkeit und verstricke mich in logische Widersprüche oder vermeide ich logische Widersprüche und führe eine neue Terminologie ein (-> "Welle-Teilchen Dualismus"). Wie jeder weiß, haben sich die Physiker für den zweiten Weg entschieden.
Die Frage, die sich daraus ergibt, ist anders formuliert, was die Regeln der Quantenwelt nun für die Makrowelt bedeuten. Das was wir Logik nennen, entstammt ja im Grundsatz (meiner Meinung nach) unseren Sprachspielen, in die die Logik eingewoben ist und leitet sich aus dem ab, was wir mit und in der Alltagswelt erleben. Die zweiwertige Prädikatenlogik ist auch der Hintergrund aller Naturwissenschaften, in der Quantenwelt wir sie aber unbrauchbar. Was sich daraus ergibt und was nicht, finde ich ganz spannend.
Das Problem hat ja auch die Quantenphysik selbst, mehrere passenden mathematische Modelle und kein Experiment mehr, um die Theorien zu prüfen.

Online habe ich den Waismann Text leider noch nicht gesehen, ich habe ihn aus einem Buch.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Vollbreit » Sa 10. Aug 2013, 16:44

mat-in hat geschrieben:Das Problem ist die Mehrdeutigkeit von "Skeptiker". Ich finde den Leuten die immer wieder mit den gleichen (Widerlegten!) Argumenten ankommen, daß es gar nicht wärmer wird, das es wärmer wird aber die Sonne allein schuld ist, usw. gehört der Term "Skeptiker" nicht. Das ist unglücklich. Es sagt ja auch niemand "Evolutionsskeptiker" zu den Kreationisten.
Und dabei wär's so passend...

mat-in hat geschrieben:In der Wissenschaft gibt es nun ein mal Tatsachen.
Interessant ist zu fragen, was Tatsachen denn eigentlich sind.

mat-in hat geschrieben:Was und zum zweiten Thema bringt, den Grenzüberschreitungen. Ich denke, kein Wissenschaftler der bei klarem Verstand ist wird sagen, daß von der Chemie über die Biologie bis in die Sozial-/Politikwissenschaft hinein alles überflüssig ist, weil Menschen auch in großen Gemeinschaften schließlich nur aus Atomen bestehen. Was jedoch berechtigte Kritik ist - und hier müssen sich Wissenschaftsfelder in andere Bereiche einmischen - ist, wenn ein Feld die Erkentnisse eines anderen ignoriert.
Ja, darum fragte ich auch Lumen und ujmp, ob sie Habermas' Grundsatzkrtitik am Szientismus überhaupt mal gelesen haben oder zu lesen gedenken. Ujmp kennt es zwar nicht, verlangt von mir aber, ich möge doch bitte kurn und knapp und ohen Umschweife auf den Punkt bringen, wie ich Habermas verstanden habe. Lustig ne, da er doch gar ncihts davon hat und nicht mal beurteilen hätte können, ob das auch nur in Ansätzen stimmte, was ich geschrieben hätte.

mat-in hat geschrieben:Stell die Physik fest, daß es über 100 Elemente gibt, kann man in der Chemie nicht die Scheuhklappen aufsetzen und davon ausgehen das alles aus Erde, Wasser, Luft und Feuer besteht. Die Physik pocht dann zu Recht drauf, das da was nicht stimmen kann. Genauso verhält es sich damit, wenn die Sozialwissenschaft oder Theologie der Meinung ist, daß der Mensch etwas ganz besonderes ist, weil er das Leid anderer nachempfinden kann. Wenn die Neurowissenschaft Spiegelneurone findet, welche die Grundlage für nachempfinden/mitempfinden bilden und diese sogar zu erst bei Äffchen entdeckt, dann muß das andere Fachgebiet sich informieren und umdenken. Auf eine alte Idee pochen und als einziges Argument "da hat die Neurowissenschaft keine Ahnung von, die will sich bloß einmischen" kann da nicht zählen.
Warum es nicht ausreicht Spiegleneuronen zu rufen und dann zu denken, damit sei alles gesagt, kannst Du hier nachlesen: http://www.psyheu.de/5794/empathie-spie ... en-glueck/
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 10. Aug 2013, 17:20

ujmp hat geschrieben:Es geht doch nicht um Etikette oder Schubladen, was "Wissenschaft" heißen darf, und was nicht! Es geht erst mal darum, was Wissenschaft ist.

Oh, mir scheint aber, es geht hier sehr wohl darum, was "echte", "richtige", "wertvolle" Wissenschaft sei und was nicht. Was ist denn Wissenschaft Deiner Auffassung nach?

Eine mögliche Einteilung der Wissenschaftsbereiche könnte so aussehen (Link):

1. Natural Sciences (Naturwissenschaften)
2. Engineering and Technology (Technische Wissenschaften)
3. Medical and Health Sciences (Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften)
4. Agricultural Sciences (Agrarwissenschaften und Veterinärmedizin)
5. Social Sciences (Sozialwissenschaften)
6. Humanities (Geisteswissenschaften)

Allerdings gibt es auch diverse andere Einteilungen, z.B. wird manchmal der 1. Punkt hier noch aufgeteilt in Natur- und Strukturwissenschaften. Oder man kann auch von "exakter Wissenschaft" und "weicher Wissenschaft" reden. Oder man kann auch in "fundamentale" und "interdisziplinäre" und "angewandte" Wissenschaften unterteilen.

ujmp hat geschrieben:Pinker weißt darauf hin, dass sich bedeutende Naturwissenschaftler sehr tiefe philosophische und psychologische Gedanken gemacht haben. Es gibt dieses Entweder-oder doch überhaupt nicht!

Von den von Pinker genannten "great thinkers" Descartes, Spinoza, Hobbes, Locke, Hume, Rousseau, Leibniz, Kant, Smith waren mW Descartes, Hobbes und Leibniz Naturwissenschaftler, die anderen nicht.

ujmp hat geschrieben:Was es aber sicher gibt, sind jede Menge komplett willkürliche Behauptungen, die für sich den selben Stellenwert beanspruchen, wie mühselig erarbeitete Erkenntnisse. Wir sollten nicht zulassen, das Sciences und Humanities gegeneinander ausgespielt werden.

Keine Frage.

Die Frage hier ist wohl die, was Pinker mit "science" meint und was er nicht darunter subsummieren will und was die Teilnehmer dieses Fadens jeweils darunter verstehen.

Ich sehe das so: alle die oben genannten Bereiche fallen mE normalerweise unter "Wissenschaft". Falls jemand etwas anderes mit "Wissenschaft" meint, z.B. nur die 1., dann wäre es mE sehr hilfreich, wenn das dazu gesagt werden würde. Falls also jemand "Wissenschaft" sagt, aber eigentlich "Naturwissenschaft" oder "exakte Wissenschaft" meint, dann finde ich das ziemlich irritierend.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 10. Aug 2013, 17:32

Zappa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Pinker ist wohl Professor für Psychologie. Ist Psychologie eine "science" oder gehört sie zu den "humanities"?

Pinker vertritt einen evolutionären und neurobiologischen Ansatz in der Psychologie, für ihn ist sie also Science.

Habe mal nachgeschaut, wie im englischsprachigen Raum "science" unterteilt wird und was dazu gehört.

Zitat:
The social sciences are the fields of scholarship that study society. "Social science" is commonly used as an umbrella term to refer to a plurality of fields outside of the natural sciences. These include: anthropology, archaeology, business administration, communication, criminology, economics, education, government, linguistics, international relations, political science, psychology (especially social psychology), sociology and, in some contexts, geography, history and law.

Sieht erst mal nicht so aus, als ob ein Psychologe evolutionäre und neurobiologische Ansätze vertreten muss, um als "scientist" angesehen zu werden.

Mag zwar sein, dass das dann für Dich keine "science" ist, aber ich denke, dass - falls so - Dein Sprachgebrauch eher ungewöhnlich ist. Gemeinhin wird wohl "Wissenschaft" nicht mit "Naturwissenschaft" gleichgesetzt.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » Sa 10. Aug 2013, 18:02

Nanna hat geschrieben:Obwohl die physische Struktur, die wir so bezeichnen würden, auf diesem Planeten bereits heute existiert, gibt es ganz offensichtlich keinen Begriff "asdfghj" und auch nicht den zugehörigen sprachlichen Kontext (ich hatte an anderer Stelle schon mal unter Zuhilfenahme des Poststrukturalismus die Kontextgebundenheit von Begriffen erläutert). Das "asdfghj" entsteht als solches erst im Augenblick der Betrachtung und Benennung und dass es so genannt wird und nicht "qwertzui" liegt am dann herrschenden sprachlichen Kontext und nicht an physischen Merkmalen der Struktur.

Mir scheint, dass das so nicht stimmt. Es ist doch einfach die Frage, ob es einen sprachlichen Kontext für etwas gibt, was uns gänzlich neu ist. - Aber ja! Wir sagen nie "asdfg" zu etwas, sondern so etwas wie "Jesus geht übers Wasser" oder "Licht hat Welleneigenschaften". Das Neue entwickelt den Kontext weiter (ich verstehe "Kontext" so, wie Eco den Begriff "Code" gebraucht). Ich tippe, wenn man da mal nachgräbt, kommt raus, das wir fast alles in angeborenen Begriffen ausdrücken, die wir beim Spracherwerb nur artikulieren lernen.


Nanna hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Die Beste Erklärung dafür, dass die Theorien der Wissenschaft erfolgreich sind, ist, dass sie wahr sind - da find ich Alan Musgrave recht überzeugend. Es kann sein, dass verschiedene Perspektiven wahr sind. Es ist nicht jede Perspektive gleichermaßen wahr.

Ich würde sagen, Sachen sind nicht ein bisschen wahr, sondern entweder wahr oder falsch. Eine Aussage, die zu 99% Wahrheit enthält, ist als Ganzes immer noch falsch. Ich würde deshalb höchstens sagen, dass eine Aussage Wahrheit enthält, wobei ich weiter unten noch schreibe, dass ich für die physische Welt mit Wahrheitsaussagen vorsichtig wäre. Im Prinzip muss man immer den Disclaimer voranstellen, dass man über die physische Welt bestimmte Annahmen macht und unter der Voraussetzung, dass diese gelten, bestimmte Sätze wahr sind.

Musgrave würde dir zustimmen, aber vermutlich antworten, dass die beste Erklärung dafür, dass eine Theorie zu 99% erfolgreich ist, die ist, dass 99% davon 100% wahr sind - oder besser, dass es vernünftig ist, dies anzunehmen.

Nanna hat geschrieben:Man kann nicht einerseits die "Aufgeblasenheit" bestimmter Ansprüche kritisieren, also letztlich Bescheidenheit gegenüber den eigenen Erkenntnisgrenzen einzufordern und dann gleichzeitig behaupten, die eigene Perspektive sei die einzig wahre, weil sie clever sei.

Das hast du recht. Es nervt nur, wenn mich jemand für meine Unvollkommenheit kritisiert, aber er selbst seinen eigenen Ansprüchen nie gerecht werden kann, weil sie total unrealistisch sind.

Nanna hat geschrieben:Wenn ich von ewigen, letztgültigen Ansprüchen abweiche, ist das ja automatisch ein Schritt zu einer Weltsicht, die die eigene Unvollständigkeit akzeptiert. Das heißt aber dann eben auch folgerichtig, einen Meinungspluralismus zuzulassen und die Perspektivengebundenheit unserer Wahrnehmung (die letztlich darüber entscheidet, welchen unvollständigen Ausschnitt wir wie in unserem Diskurssystem wiedergeben) anzuerkennen.

Gegen Meinungspluralismus habe ich überhaupt nichts, ganz im Gegenteil. Es geht darum, welchen Stellenwert Meinungen einnehmen, nach welchen Maßstäben man sie beurteilt usw. M.E. sind nicht alle Meinungen gleichwertig. Sie sind übrigens auch nicht alle kontextabhängig, jedenfalls nicht in einem holistischen Sinn. Jeder Mensch kann sich seine eigenen Gedanken machen und sozusagen lokale eigene Kontexte schaffen, die oft gar keine Auswirkungen auf das Ganze haben.

Nanna hat geschrieben:Was den Wahrheitsgehalt von Theorien angeht, so würde ich maximal so weit gehen, zu sagen, dass Strukturen in der Theorie mit physischen Strukturen korrelieren, was aber noch keine Wahrheit ist, selbst wenn Widerspruchsfreiheit und Prognosefähigkeit herrschen.
Auf einem Bild von den Niagarafällen sieht man auch nicht die Wahrheit über die Niagarafälle, aber natürlich korrelieren die Farbeinheiten auf dem Bild mit den optischen Gegebenheiten vor Ort. Wahre Aussagen gibt es meines Erachtens in Bezug auf die physische Welt überhaupt nicht, sondern nur innerhalb von Theorien. Ein mathematischer Satz kann wahr sein, weil man über die Kontrolle der Prämissen den kompletten Kontext kontrollieren kann. In der physischen Welt weiß man nie, wie viel vom Gesamtbild man wirklich auf dem Schirm hat und ob man den Kontext - sofern man das sprachlich kann, was ich bezweifle - korrekt erfasst hat.

Für mich hat Wahrheit nicht soviel mit Beschreibung selbst und ihren Begriffen zu tun, das sind eher "Theorien" oder "Vorstellungen", sondern mit der Frage, ob so eine Beschreibung stimmt. Was ein Beobachter sich bei einem sprachlichen Ausdruck denkt, ist das Eine (und sehr interessant, das zu untersuchen). Ob es aber mit seiner Beobachtung übereinstimmt, ist die andere Sache. Bei der Aussage "Licht hat Welleneigenschaften" stellt er sich etwas vor, und wenn er ein Interfrenzmuster hinter einem Doppelspalt sieht, entspricht das seinen Vorstellungen oder auch nicht. Mit "wahr" meint er "es sieht genau so aus". Es ist letztlich ein Vergleich, der überhaupt keine Sprache erfordert. Er legt eine Schablone an (Z.B. eine mathematische Formel) und stellt eine Übereinstimmung fest oder auch nicht. Mir bedeutet die Forderung nach Vollständigkeit nicht so viel. Ein Detail zu wissen ist besser als nichts zu wissen. Auch kann es ein Abbild von der Wirklichkeit eigentlich gar nicht geben. Was wir haben ist eine Übersetzung, ein Mapping in unseren Organismus hinein. Unsere Vorstellungen sind - wenn es nicht Einbildungen sind- eine Relation der Realität, eine Reaktion auf sie. Solche Vorstellungen sind verrauschte Daten, und nicht die Realität selbst, akzeptiert! Aber besser als Nichts und besser als Einbildungen!
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » Sa 10. Aug 2013, 20:20

AgentProvocateur hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Es geht doch nicht um Etikette oder Schubladen, was "Wissenschaft" heißen darf, und was nicht! Es geht erst mal darum, was Wissenschaft ist.

Oh, mir scheint aber, es geht hier sehr wohl darum, was "echte", "richtige", "wertvolle" Wissenschaft sei und was nicht. Was ist denn Wissenschaft Deiner Auffassung nach?

Eine mögliche Einteilung der Wissenschaftsbereiche könnte so aussehen (Link):

1. Natural Sciences (Naturwissenschaften)
2. Engineering and Technology (Technische Wissenschaften)
3. Medical and Health Sciences (Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften)
4. Agricultural Sciences (Agrarwissenschaften und Veterinärmedizin)
5. Social Sciences (Sozialwissenschaften)
6. Humanities (Geisteswissenschaften)

Das wäre halt die Art Etikettierung, die ich vorläufig noch für wenig sinnvoll halte. In allen diesen Bereichen kann man wissenschaftlich aber auch pseudowissenschaftlich arbeiten. Die Frage ist, was ein Mensch tut und denkt, der wissenschaftlich arbeitet. Die Arbeit eines Theologen kann durchaus wissenschaftlich sein. Es geht halt um ein Abgrenzungskriterium. Onkel Karl hat von einer Theorie verlangt, dass es eine Aussage geben muss, die im Widerspruch zu ihr steht (nicht unbedingt eine Beobachtung, das wird oft missverstanden) . Das war zwar eine unzulängliche Festsetzung, aber es fällt schon mal ganz viel raus, z.B. Aussagen, die immer wahr sind, egal was passiert. Oder Es geht darum, was "wissenschaftlicher Fortschritt" bedeutet. "Spätere wissenschaftliche Theorien sind besser als frühere geeignet, Probleme in ganz unterschiedlichen Umwelten, auf die sie angewendet werden, zu lösen. Dies ist keine relativistische Position und in diesem Sinne bin ich fest überzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt" T.S. Kuhn 1969. Es gibt auch neuere Strömungen, die die Idee des kulminativen Fortschritts der Wissenschaft wieder aufgreifen, sehr interessant, hab ich zuerst bei Alan Calmers gelesen, "Wege der Wissenschaft". Man kann nämlich auch ohne globale Theorien Experimente machen und so zu neuem Wissen gelangen, wenn man z.B. neue Effekte entdeckt, für die es noch gar keine Theorie gibt.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 10. Aug 2013, 20:34

Ja, so sehe ich das auch.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Zappa » So 11. Aug 2013, 07:36

Nanna hat geschrieben:Nehmen wir an, es gibt etwas auf einem fernen Planeten, das wir heute nicht kennen und folglich auch nicht benennen, das wir in 10 Mio. Jahren, wenn wir den Planeten kolonisieren "asdfghj" nennen (nein, ich habe nicht mit dem Finger über die Tastatatur geschliffen...). Obwohl die physische Struktur, die wir so bezeichnen würden, auf diesem Planeten bereits heute existiert, gibt es ganz offensichtlich keinen Begriff "asdfghj" und auch nicht den zugehörigen sprachlichen Kontext (ich hatte an anderer Stelle schon mal unter Zuhilfenahme des Poststrukturalismus die Kontextgebundenheit von Begriffen erläutert). Das "asdfghj" entsteht als solches erst im Augenblick der Betrachtung und Benennung und dass es so genannt wird und nicht "qwertzui" liegt am dann herrschenden sprachlichen Kontext und nicht an physischen Merkmalen der Struktur.

Dagegen würde Gabriel einwenden (wenn ich das richtig verstanden habe und korrekt wiedergebe):

1. Hier wird der Erkenntnisvorgang mit dem Erkenntnisgegenstand verwurstelt. Selbstverständlich gibt es "asdfghj" schon jetzt, es vermehrt sich und ist evolutionär offensichtlich recht erfolgreich, denn es wird in 10 Mio Jahren noch da sein. Und es ist ihm ausgesprochen wurscht ob und wie wir ihn benennen. Natürlich wird beim Erkenntnisvorgang durch uns etwas hinzugesetzt aber den Gegenstand durch uns konstruiert anzunehmen ist mehr als überspannt, nämlich schlicht falsch.
2. Wir verhalten uns überhaupt nicht wie Konstruktivsten. Niemand würde sich deinem "asdfghj" ohne Vorsicht nähern, wenn es auch nur annähernd etwas raubtierhaftes an sich hätte. Natürlich ist die Kategorie Raubtier auch zum Teil konstruiert, aber die Tatsache, dass es Raubtiere gibt, nicht und die Gegenständlichkeit dieses speziellen Raubtiers ebenfalls nicht. Aus gegebenem Anlass vielleicht ein besseres Beispiel: Es ist reichlich absurd davon auszugehen, dass in einem Fußballstadion erst durch den gemeinsamen, gleichzeitigen Torschrei von Zehntausenden, das Tor "entsteht". So funktioniert unsere Welt schlicht nicht.
3. Überhaupt sind Tatsachen an sich sehr einfach zu Erkennen, was der Konstruktivismus nicht sieht. Die Tatsache, dass dort ein Berg steht oder ein "asdfghj" rumschleimt ist für jedes sinnliche Individuum und für jedes geeignete Messinstrument leicht zu erkennen. Die Tatsache, dass etwas existiert wird von den K. mit dem Gegenstand an sich verwechselt.

Nanna hat geschrieben:Ich verstehe schon, dass es einen Unterschied macht, ob man nun davon ausgeht, dass da ein physischer Gegenstand besteht, der bei physischer Einwirkung auch physische und damit wahrnehmbare Rückmeldung gibt, aber man muss halt extrem aufpassen, da nicht auf die schiefe Ebene eines naiven Realismus zurück zu schlittern. Was der Berg ist, können wir nicht letztgültig und objektiv entscheiden, und naturwissenschaftliche Fortschritte ändern daran nichts. Wenn ich durch ein Fernglas auf einen Gegenstand blicke, ändert die Erhöhung der Vergrößerung und die Schärfung des Bildes einfach nichts daran, dass ich durch ein Fernglas blicke und dadurch eine bestimmte Perspektive einnehme.

Das ist klar und die Abgrenzung natürlich wichtig. Das Argument hier ist der "neue" (?) Gegenstandsbegriff. Ein Gegenstand ist schlicht etwas, worüber wir mit wahrheitsfähigen Gedanken nachdenken, das muss nichts materielles sein. Ein Berg kann auch ein Berg in einem Roman oder ein Berg als religiöses Symbol sein. Wichtig ist herauszuarbeiten, in welchem Gegenstandsbereich, die Gegenstände "wahr" sind. Es ist also ein Erkenntnisfortschritt herauszuarbeiten, dass es Hexen im realen, materiellen Universum nicht gibt. Aber Hexern gibt es gegenständlich weiter in unseren Träumen, Mythen und Vorstellungen. Der materielle, vermessene, geographierte, chemisch-physikalische Berg existiert schlicht in einem anderen Gegenstandsbereich als die anderen Berge. Dein Fehler wäre hier überhaupt anzunehmen, dass es einen "Berg an sich" überhaupt gibt (s.u.)

Nanna hat geschrieben:Ich weiß nicht, was Habermas konkert dazu sagt, aber meine Antwort wäre, dass da das Missverständnis besteht, die Negierung einer objektiven Perspektive mit der Negierung einer physischen Welt gleichzusetzen. Es ist der Zugang zur Welt, der Probleme macht, zumindest insofern als er objektiv sein soll, nicht die Tatsache, dass es eine gegenständliche Welt gibt. Das physische Geschehen gibt es auch ohne unsere Beobachtung und ohne Benennung, aber sobald wir darüber sprechen und für uns einen Erkenntniszugang schaffen wollen, stehen wir halt vor dem Problem, dass wir keinen unmittelbaren Zugang zu diesem Geschehen haben, sondern abhängig von den Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres sprachlichen Zugangs sind.

Ich denke, wir sollten den Bezug zu Habermas nicht zu intensiv diskutieren, zumindest mir fehlen da auch die dedizierten Kenntnisse (insofern kann ich die Kritik von Vollbreit auch nicht fachgerecht kontern). Habermas ist sicher kein naiver Konstruktivist. Die Kritik geht philosophisch da auch sehr ins Eingemachte. Gabriel wirft den Materialisten (und Szientisten) vor, dass sie davon ausgehen die Regeln der Wirklichkeit erkennen zu können und den Konstruktivsten, dass sie die Regeln "hineinkonstruieren", während es für die neuen Realisten "die Welt" und damit "die Regeln" gar nicht gibt. Es ist schlicht sinnlos sich über "den Berg" - sei es der wahre, materielle oder der (a priori´sche?) begriffliche Berg - zu reden. Das ist selbst im philosophischen Sprachspiel nicht sinnvollBerge existieren in verschiedenen Gegenstandsbereichen, diese Tatsache muss man sich immer klar machen.

Ich sehe da dann auch eher das Problem eines naiven Antirealismus, denn das Wahrheitskriterium bzw. die Irrtumstheorie scheint mir da noch nicht so ausgereift. Wie unterscheide ich eine Halluzination von einer realen Wahrnehmung? Wie zeige ich objektiv, dass es Feen im materiellen Garten nicht gibt? Gabriel geht auf die Themen ein, aber so ganz überzeugend finde ich das noch nicht.

Gabriel plädiert im Übrigen vehement gegen eine Szientismus, dem er schlicht Ignoranz gegenüber den anderen Gegenstandsbereichen vorwirft, und für Religion. Wobei Religion nicht fetischistisch sein darf, also nicht einem selbstgemachten Gegenstand übernatürlich Kräfte zuordnen darf (er argumentiert, dass das Bilderverbot der abrahamitischen Religionen genau darauf beruht). Vielmehr ist damit die Suche nach Sinn, "der Geschmack für das Unendliche" gemeint. Ich fürchte nur, dass er sich damit wieder doch sowas wie eine Welt mit Regeln und Sinn in seine Philosophie einbaut ...

Nanna hat geschrieben:In den Geisteswissenschaften und insbesondere den Sozialwissenschaften, wo man als Beobachter immer gleichzeitig Teil des beobachteten Gegenstandes ist und damit das Problem der Vorurteilsgebundenheit der Forschung wirklich massiv ist, ist es viel drängender, sich mit dem Perspektivenproblem auseinander zu setzen.

Das ist vollkommen klar, aber es wäre umgekehrt geisteswissenschaftlicher Szientismus, wenn man das Perspektivenproblem naiv mit in die Naturwissenschaften herüber nähme. Hier spielt es, wie von Dir ja klargestellt, keine wirklich große Rolle.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 08:12

Zappa hat geschrieben:Ich sehe da dann auch eher das Problem eines naiven Antirealismus, denn das Wahrheitskriterium bzw. die Irrtumstheorie scheint mir da noch nicht so ausgereift. Wie unterscheide ich eine Halluzination von einer realen Wahrnehmung? Wie zeige ich objektiv, dass es Feen im materiellen Garten nicht gibt? Gabriel geht auf die Themen ein, aber so ganz überzeugend finde ich das noch nicht.

Man kann halt überhaupt nicht zeigen, dass es etwas nicht gibt. Man kann aber nach der jeweils besten Erklärung suchen:

“... I think that it is much more likely that the reports of flying saucers are the results of the known irrational characteristics of terrestrial intelligence than of the unknown rational efforts of extra-terrestrial intelligence.” R.Feynman über UFOs
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon ujmp » So 11. Aug 2013, 08:32

Zappa hat geschrieben: Natürlich wird beim Erkenntnisvorgang durch uns etwas hinzugesetzt

Wie denn? Wenn ich etwas Neues wahrnehme und es beschreibe, dann beschreibe ich es mit bereits bekannten Begriffen, durch Vergleich mit Ähnlichem. Es ist doch lediglich eine neue Verknüpfung. Neue Begriffe entstehen dann analytisch oder durch Definition als Abkürzungen für komplexe Beschreibungen, aber nicht durch Wahrnehmung.
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Re: Szientismus oder die böse Wissenschaft

Beitragvon Zappa » So 11. Aug 2013, 10:31

ujmp hat geschrieben:
Zappa hat geschrieben: Natürlich wird beim Erkenntnisvorgang durch uns etwas hinzugesetzt

Wie denn? Wenn ich etwas Neues wahrnehme und es beschreibe, dann beschreibe ich es mit bereits bekannten Begriffen, durch Vergleich mit Ähnlichem. Es ist doch lediglich eine neue Verknüpfung. Neue Begriffe entstehen dann analytisch oder durch Definition als Abkürzungen für komplexe Beschreibungen, aber nicht durch Wahrnehmung.

Naja, aber die Begriffe selbst sind natürlich Kategorisierungen, ohne die ich überhaupt nicht arbeiten kann. Zunächst einmal gibt es auch Begriffe, die ich überhaupt nicht erfahren kann. Darauf beruht z.B. das Problem der Identifikation. Um überhaupt von Blumen, Tieren, Individuen, Sternen etc. reden zu können, brauchen wir einen Begriff davon. Warum gehört denn dieser Nervenimpuls zum Begriff Baum und der direkt daneben zum Boden, der Blume, dem Hintergrund oder was auch immer? Dein Gehirn muss also irgendwie die ganzen Sinneseindrücke filtern und kategorisieren.

Und dann beeinflussen unsere Begriffe natürlich die Wahrnehmung massiv. Das die Sonne sich nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht, ist durch Erfahrung so einfach nicht erkennbar (wissenschaftsgeschichtlich konnten die ptolemäischen Astrologen sehr lange noch alle Beobachtungsdaten besser erklären als die Anhänger Kopernikus. Die Begrifflichkeiten hatten sich einfach verändert). Jede Wahrnehmung ist also durch unzählige Begrifflichkeiten, Sinnesfilter, vorbewußte Entscheidungen, Emotionen etc. pp. durchtränkt. Reine Anschauung kann es nicht geben.
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