Naturalisierung der Ethik

Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Nick » So 20. Jan 2013, 11:55

Ja, hi there, =)

"Consider what it would take to actually have free will. You would need to be aware of all the factors that determine your thoughts and actions, and you would need to have complete control over those factors. But there is a paradox here that vitiates the very notion of freedom—for what would influence the influences? More influences? None of these adventitious mental states are the real you. You are not controlling the storm, and you are not lost in it. You are the storm." Harris, Free Will

Das ist eigentlich das, was ich auch denke, nur dass es mir nicht paradox erscheint: Ich bin der Sturm.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » So 20. Jan 2013, 12:41

Zu „Ich und mein Gehirn“:

Die Trennung von Ich und Gehirn ist im Grunde eine kategoriale.
Ich erlebe mich immer als Seinseinheit, ich kann aber rational schließen (wenn ich dazu in der Lage bin), dass dieses Ich entstanden sein muss. Biologisch und kulturell.

Im Grunde ist die Trennung in verschiedene Bereiche aber etwas zweifelhaft, weil wir aus guten Gründen den Dualismus ablehnen, wobei man eingestehen muss, dass es plumpe und intelligentere Konzepte des Dualismus gibt.

Wenn der Dualismus nicht gilt, so sind die anderen Ansätze monistisch.
Den Monismus gibt es in den Spielarten „Monismus von unten“, das ist die bottom up Idee, dass aus kleinen Bausteinen immer größere „Einheiten“ entstehen, mit der Grundidee des Physikalismus, dass letztlich alles auf kleinste Einheiten zu reduzieren sei.
Physikalisten halten das in der Regel für ontologisch wahr (die Welt ist so aufgebaut), können aber, ebenfalls, in der Regel, einsehen, dass eine Reduzierung aller Lebensbereiche auf physikalische Zusammenhänge erkenntnistheoretisch nicht zielführend ist, oft lautet das Argument, wegen der (zu) großen Komplexität der Materie.

Der andere Monismus ist der „von oben“, der in aller Regel platonisch ist. Grob gesagt steckt dahinter die Auffassung, dass die Welt ideengeleitet ist und dass sich Urideen, Urprinzipien in der Welt manifestieren, also auch bestimmte mathematische Ansätze, die Materie als Ausdruck von Zahlenverhältnissen und Algorithmen sieht, gehören zu diesem Monismus.
Der Vorteil ist, dass man hier viele schöne Zusammenhänge gibt, der Nachteil ist, dass die vermeintliche Quelle des Ganzen, die oft auch wieder zu einem Omegapunkt wird (das Ziel, auf das alles zuläuft) sehr spekulativ ist.

Gerade in Debatten um die Hirnforschung hat sich der Trend breitgemacht, den Dualismus irgendwie als „Igitt“-Wort abzulehnen und da man ein Ich im Hirn nicht „sehen“ kann, ist man zu dem (wohl etwas zu schnellen) Schluss gekommen, Leute die vom Ich reden, seien Vertreter eines ontologischen Dualismus und wüssten deshalb nicht, was sie täten.
Neben allen Selbstwidersprüchen dieser Position – und es gibt reichlich davon – ist der Dualismus aber nicht unbedingt ein ontologischer, sondern ein pragmatischer.

Ich erlebe mich nun mal als Ich, da kann ich mich auf den Kopf stellen und jeder Versuch so zu tun, als sei es anders, scheitert schnell an der Lebenswirklichkeit.
Hier kann man sich an Dennett orientieren: Wenn es (in den Augen des rationalen Beobachter, denn nur der schreibt Eigenschaften und Einstellungen zu) Sinn macht, einem System Intentionen zuzuschreiben, um sein Verhalten besser prognostizieren zu können, sollte man physikalische Systeme und intentionale Systeme trennen.
Ein durch das Weltall ziehender Meteor wird nicht abrupt und von sich aus (durch eine Art innerer (intrinsischer) Motivation) seine Richtung ändern, er kann das gar nicht, er ist ein physikalisches System.
Eine Katze kann aber sehr wohl innehalten, die Richtung abrupt ändern und dergleichen.
Das Verhalten der Katze kann man aber noch (mehr oder weniger gut) in der Terminiologie des Reiz-Reaktionsschemas erklären: Katze hört ein Rascheln im Gebüsch oder sieht ein Mauseloch und dann kann sie gar nicht anders, als darauf nach einem starren Verhaltensrepertoire zu reagieren, es sei denn, andere Triebe sind aktuell dominierender, etwa, wenn ein Hund die Katze verfolgt, dann wird dieses ebenfalls starre Repertoire aktiviert.

Aus analogen Gründe, die es gestatten, physikalische Systeme und intentionale Systeme zu differenzieren, ist es gerechtfertigt, weiter zu differenzieren, wie Brandom das tut, in intentionale und diskursive Systeme/Lebewesen.

Katzen haben Absichten, die der Beobachter ihnen zuschreiben kann, aber sie begründen ihr Verhalten nicht. Menschen haben ebenfalls Absichten und sind in der Lage ihr Verhalten rational zu rechtfertigen, sie geben einander (wenn gewünscht) Begründungen und begegnen sich in einem (metaphorischen) Raum der Gründe.


Ein Neurobiologe steht in genau dem gleichen Raum der Gründe, wie ein Philosoph oder wir hier im Forum. Was dort zählt sind Argumente.
„Ich bin mein Gehirn“ ist aber ein kategorialer Fehlgriff, weil ich auch ein Ichempfinden haben kann, ohne überhaupt zu wissen, dass ich ein Gehirn habe.
Das Ich ist ein Konstrukt, was sich aus vielen Quellen speist und jeweils ein anderes Gewand annimmt, je nach Kontext. Dennoch ist es auch eine stabile Einheit, der man Kontinuität zuschreibt, etwa, wenn man ein Bild aus seiner Kindheit sieht und sagt: „Das bin ich, bei meiner Einschulung.“

Im Kern werden sich viele dieser Konzepte überschneiden, aber eine juristische Person, ein psychologisches Ich, ein neurologisches Ich und eine Alltags-Ich werden bei aller Überschneidung, nicht an allen Rändern überlappen. Hier entstehen Differenzen.

Das Problem ist, dass sowohl zu weitereichende Objektivierungen, als auch Subjektivierungen das logische Subjekt, sozusagen aus seiner immer schon gegebenen Welt (in welche es eingebunden ist) theoretisch herausschneidet.
Das erkennen die Neurobiologen wohl zum Teil, verkennen aber häufig, dass es eine radikale Entsubjektivierung ebenfalls eine von einem Subjekt erfundene Theorie ist.
Unfreiwillig komisch – da in jeder Hinsicht selbstwidersprüchlich - wird es, wenn man ein erhöhtes Selbstbewusstsein aus der theoretischen Position ableiten möchte, dass man ja viel besser als alle anderen versteht, dass man ja kein Ich hat, keinen freien Willen hat, wäre die anderen die narzisstische Kränkung nicht ertragen können und eisern und irrational an diesem Konzept festhalten. „Ich bin darum besser, klüger und mutiger als du, weil ich weiß, dass es mich nicht gibt.“
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » So 20. Jan 2013, 12:51

Nick hat geschrieben:"Consider what it would take to actually have free will. You would need to be aware of all the factors that determine your thoughts and actions, and you would need to have complete control over those factors. But there is a paradox here that vitiates the very notion of freedom—for what would influence the influences? More influences? None of these adventitious mental states are the real you. You are not controlling the storm, and you are not lost in it. You are the storm." Harris, Free Will


Der Denkfehler von Harris ist die Behauptung man müsse die komplette Kontrolle über all diese Faktoren haben.
Warum und wofür denn?
Wenn ich von mir weiß, dass ich Vanilleis lieber als Schokoeis mag, muss ich dann bis ins Allerkleinste wissen und erklären können, warum das so ist? Muss ich es auf Knopfdruck ändern können, so dass ich auf Wunsch auch morgen lieber Schokoeis mögen können müsste?

Reicht es denn nicht aus, zu wissen, dass ich lieber Vanilleeis mag, um dann die Wahl zu haben (wieso sollte sie nicht frei sein?) und mich gemäß dessen, was sich von mir weiß und dem Angebot der Eisdiele, entsprechend auszurichten?

Diese Wahl habe ich genau dann, wenn ich mich, meine Wünsche, Vorlieben, Abneigungen kenne und ich bin nicht weniger frei, wenn ich anerkenne, dass meine Geschmacksvorlieben angeboren oder anerzogen sind. Natürlich wird das auch so sein, na und?

Kurz: Ich brauche nicht die komplette Kontrolle über alle mich determinierenden Faktoren um frei (abwägend, rational, gemäß meiner eigenen Überlegungen und Vorlieben) entscheiden zu können.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » So 20. Jan 2013, 17:12

AgentProvocateur hat geschrieben:Denn vollkommen gleichgültig, ob Willensfreiheit in welchem Sinne auch immer existiert oder nicht: Dein Punkt 1) ist immer erst mal wenig rational, weil man die Vergangenheit nicht ändern kann. Was passiert ist, ist passiert, nicht mehr zu ändern. Wie der Engländer sagt: "Don't cry over spilled milk."
Bloß sind Menschen aber nicht in dem Sinne rational. Sie ärgern sich über falsche Entscheidungen/Handlungen, sie sind keine Rechenmaschinen, die beliebig Gefühle/Emotionen unterdrücken könnten, (bzw. erst gar nicht haben). Obgleich die meisten Menschen doch wohl wissen werden, dass sie die Entscheidung/Handlung im Nachhinein nicht ändern können.
Von Ärger habe ich nicht gesprochen, sondern von Schuldgefühlen und -zuweisungen. Ärger sehe ich, wie du, als sinnvolles Instrument entsprechend Fall 2 (wobei Ärger natürlich auch im Fall 1 im Spiel sein kann). Ärger und Reue sind aber nicht dasselbe.
Die (Nicht-)Annahme Willensfreiheit ist sehr wohl entscheidend, wenn es um die Reflexion des eigenen Verhaltens und dessen Anderer geht. Ich kann mich in beiden Fällen über eine Entscheidung eines anderen Menschens ärgern. Aber nur wenn ich ihm einen freien Willen unterstelle, kann ich ihm 'Schuld' (im moralischen, nicht im strafrechtlichen Sinne) an etwas geben.

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber strafrechtliche Schuld ist nun dies: Verantwortlichkeit für einen strafrechtlich sanktionierten Normverstoß. Entweder gibt es also keine Verantwortung oder es gibt auch strafrechtliche Schuld.
Nein. Es geht nicht (zumindest nicht vorrangig) um strafrechtliche Schuld, sondern die Begründung von Regeln, Normen, Gesetzen und damit von Urteilen (in zweiter Ordnung, wenn man so will). Basieren die Begründungen auf einer supernaturalistischen Moralvorstellung oder (was wohl meist impliziert ist) wird dem Menschen ein freier Wille unterstellt, ist mit einem Vergehen auch eine moralische Schuld verbunden. Das führt dazu, dass dem 'Täter' nur schwer oder gar nicht vergeben werden kann, selbst wenn er aus der Sanktionierung geläutert hervorgeht.
Geht man aber davon aus, dass er sich gar nicht anders hatte entscheiden können, ist er zwar, wie du sagst, verantwortlich für einen strafrechtlich sanktionierten Normverstoß und in diesem Sinne strafrechtlich schuldig. Doch er ist nicht schuldig in dem Sinne, dass er ein (moralisch) böser Mensch ist oder sich gegenüber einer übernatürlichen moralischen Instanz versündigt hätte. So kann die Gesellschaft ihn als Opfer der (inneren und äußeren) Umstände wahrnehmen und dementsprechend versuchen, ihn mit geeigneten Maßnahmen zu resozialisieren oder im schlimmsten Fall von sich fernzuhalten. Dass ein Misstrauen seinem künftigen Verhalten gegenüber besteht, ist natürlich sinnvoll. Dennoch kann ihm auf zwischenmenschlicher Ebene besser eine Chance auf einen Neuanfang gewährt werden, wenn man ihm keinen freien Willen unterstellt, man ihn also nicht als moralisch schuldig ansieht.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » So 20. Jan 2013, 18:28

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Denn vollkommen gleichgültig, ob Willensfreiheit in welchem Sinne auch immer existiert oder nicht: Dein Punkt 1) ist immer erst mal wenig rational, weil man die Vergangenheit nicht ändern kann. [...]

Von Ärger habe ich nicht gesprochen, sondern von Schuldgefühlen und -zuweisungen. Ärger sehe ich, wie du, als sinnvolles Instrument entsprechend Fall 2 (wobei Ärger natürlich auch im Fall 1 im Spiel sein kann). Ärger und Reue sind aber nicht dasselbe.]

Okay, Dein Einwand ist berechtigt, Ärger ist etwas anderes als Reue. Ich kann mich auch über andere ärgern, aber ich kann nicht etwas bereuen, was andere getan haben.

fopa hat geschrieben:Die (Nicht-)Annahme Willensfreiheit ist sehr wohl entscheidend, wenn es um die Reflexion des eigenen Verhaltens und dessen Anderer geht. Ich kann mich in beiden Fällen über eine Entscheidung eines anderen Menschens ärgern. Aber nur wenn ich ihm einen freien Willen unterstelle, kann ich ihm 'Schuld' (im moralischen, nicht im strafrechtlichen Sinne) an etwas geben.

Gut, auch da stimme ich Dir zu. Ich bereue nur Entscheidungen/Handlungen, die ich selber getroffen/durchgeführt habe, die ich mir zurechne. Ich gebe mir oder anderen nur dann eine moralische Schuld, wenn das solche Entscheidungen/Handlungen betrifft, die absichtlich (unter Kenntnis der Auswirkungen) bzw. fahrlässig (unter Ignoranz der Auswirkungen, wider besseres Wissen) durchgeführt wurden und anderen geschadet haben. D.h. auch moralische Schuld erfordert Verantwortlichkeit und für Verantwortlichkeit ist mE tatsächlich ein freier Wille (im kompatibilistischen Sinne) erforderlich.

Wieso aber ein kontra-kausaler freier Wille erforderlich sein solle, (falls Du das meintest), ist mir unklar. Das wird schlecht zu begründen sein. An dieser Stelle nach einer Begründung gefragt, stellt sich meist heraus, dass es sich um eine nicht begründbare Setzung handelt, die sich auf angebliche Selbstevidenz beruft. Die aber leider nicht vorhanden ist.

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Aber strafrechtliche Schuld ist nun dies: Verantwortlichkeit für einen strafrechtlich sanktionierten Normverstoß. Entweder gibt es also keine Verantwortung oder es gibt auch strafrechtliche Schuld.

Nein. Es geht nicht (zumindest nicht vorrangig) um strafrechtliche Schuld, sondern die Begründung von Regeln, Normen, Gesetzen und damit von Urteilen (in zweiter Ordnung, wenn man so will). Basieren die Begründungen auf einer supernaturalistischen Moralvorstellung oder (was wohl meist impliziert ist) wird dem Menschen ein freier Wille unterstellt, ist mit einem Vergehen auch eine moralische Schuld verbunden.

Ja, klar. Jemand, der sich bewusst und absichtlich falsch verhält, anderen schadet, der hat auch eine moralische Schuld. Seine Handlung war böse. Woraus aber nicht folgt, dass er als Mensch insgesamt böse wäre. Mit einer supranaturalistischen Moralvorstellung hat das mE auch nichts zu tun.

fopa hat geschrieben:Das führt dazu, dass dem 'Täter' nur schwer oder gar nicht vergeben werden kann, selbst wenn er aus der Sanktionierung geläutert hervorgeht.

Wieso das denn? Vergebung ergibt überhaupt nur einen Sinn, wenn man einen (kompatibilistischen) freien Willen annimmt, wenn man also dem Täter seine Handlung zurechnet, ihn dafür verantwortlich hält. Wenn man aber Menschen als selber handlungsunfähige Marionetten von ihnen nicht beeinflussbaren Umständen ansieht, dann ergibt Vergebung keinen Sinn. Nur einem als handlungsfähig angesehenen Subjekt kann man verzeihen.

Nehmen wir mal ein Beispiel: jemand leidet unter dem Tourette-Syndrom. Er äußert daher laufend Sätze, die, falls sie intentional erfolgen würden, als Beleidigungen gelten würden. Sobald man weiß, dass der Tourette-Mensch das aber eben nicht intentional tut, sondern er nichts dafür kann, er seine Äußerungen nicht kontrollieren kann, dann könnte man ihm das auch nicht vorhalten. Es wäre nicht nutzbringend, von ihm Reue oder eine Entschuldigung zu verlangen. Denn er kann ja an seinem Verhalten nichts ändern. Auch Vergebung wäre mE hier fehl am Platze.

Oder nehmen wir an, ein extrem Geisteskranker, der seine Handlungen nicht kontrollieren kann, der keine Einsichtsfähigkeit hat, tötete einen Menschen. Der hätte keinen freien Willen im kompatibilistischen Sinne, es wäre sinnlos, ihn für verantwortlich zu halten, von ihm Reue oder eine Entschuldigung zu verlangen. Es wäre auch sinnlos, seine Handlung für böse zu halten. Oder ihm zu vergeben. Das wäre dann eher mit einer Naturkatastrophe zu vergleichen, ein Geschehen, das moralisch nicht zu bewerten ist, außerhalb der Moral stattfindet.

fopa hat geschrieben:Geht man aber davon aus, dass er sich gar nicht anders hatte entscheiden können, ist er zwar, wie du sagst, verantwortlich für einen strafrechtlich sanktionierten Normverstoß und in diesem Sinne strafrechtlich schuldig. Doch er ist nicht schuldig in dem Sinne, dass er ein (moralisch) böser Mensch ist oder sich gegenüber einer übernatürlichen moralischen Instanz versündigt hätte.

Er ist aber im Normalfall verantwortlich und auch moralisch schuldig dafür, anderen bewusst und absichtlich geschadet zu haben. Seine Handlung war böse, weil es seine Handlung war, es an ihm lag, dass er sie durchgeführt hat, mit Absicht und unter Kenntnis der wahrscheinlichen Folgen.

fopa hat geschrieben:So kann die Gesellschaft ihn als Opfer der (inneren und äußeren) Umstände wahrnehmen und dementsprechend versuchen, ihn mit geeigneten Maßnahmen zu resozialisieren oder im schlimmsten Fall von sich fernzuhalten.

Das hieße, ihn grundsätzlich als Objekt zu behandeln, als nicht handlungsfähiges Subjekt.

Das mag zwar in ganz seltenen Ausnahmefällen, (Menschen, die keinerlei Triebkontrolle haben), unabdingbar sein, jedoch generell alle Menschen als handlungsunfähige Objekte anzusehen, erscheint mir wenig sinnvoll. Ich halte das für eine selbstwidersprüchliche Forderung, die von Prämissen ausgeht, die sie gleichzeitig bestreitet und daher für logisch ungültig.

Die Sache, wenn man das mal genauer betrachtet, ist doch die: 1. Du leugnest, dass es handlungsfähige Subjekte, Akteure, gibt und 2. behauptest Du implizit - ohne dass Dir das selber vielleicht klar ist - dass "die Gesellschaft" ein handlungsfähiger Akteur sei. Aber das ist per se erst mal völlig unplausibel: "die Gesellschaft" ist ein Abstraktum, das mehrere Subjekte zusammenfasst. Es könnte zwar theoretisch nun sein, dass einzelne Subjekte immer "Opfer der (inneren und äußeren) Umstände" seien und das bei "der Gesellschaft" irgendwie völlig anders wäre, "die Gesellschaft" also im Gegensatz zum Einzelnen ein Akteur sei. Aber selbstverständlich wäre das doch wohl keineswegs, prima facie erscheint mir das sehr unplausibel, das sollte also irgendwie plausibel gemacht werden können.

Die Frage hier an Dich wäre wohl: wer sind die Akteure in Deiner Auffassung, an wen richten sich Deine Überlegungen, wen willst Du überzeugen? Oder willst Du nicht überzeugen, (mit Gründen an Einsicht appelieren), sondern lediglich manipulieren, (andere, die keine handlungsfähigen Akteure sind, zu bestimmtem Verhalten bringen)? Aber auch dann bliebe die Frage, ob Du Dich selber als handlungsfähigen Akteur ansiehst, die Frage nach der Selbstanwendbarkeit Deiner Auffassung.

fopa hat geschrieben:Dass ein Misstrauen seinem künftigen Verhalten gegenüber besteht, ist natürlich sinnvoll. Dennoch kann ihm auf zwischenmenschlicher Ebene besser eine Chance auf einen Neuanfang gewährt werden, wenn man ihm keinen freien Willen unterstellt, man ihn also nicht als moralisch schuldig ansieht.

Viele Menschen werden nicht gerne derart als Objekt behandelt, wie Du es vorschlägst, weder von anderen Menschen noch von "der Gesellschaft". Daher irrst Du, falls Du annehmen solltest, aus Deiner Auffassung würde ein von vielen als wünschenswert angesehener "menschlicherer Umgang" miteinander erfolgen.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Mo 21. Jan 2013, 09:04

Ich verstehe deine Einwände und werde versuchen, sie auszuräumen.
AgentProvocateur hat geschrieben:Ich gebe mir oder anderen nur dann eine moralische Schuld, wenn das solche Entscheidungen/Handlungen betrifft, die absichtlich (unter Kenntnis der Auswirkungen) bzw. fahrlässig (unter Ignoranz der Auswirkungen, wider besseres Wissen) durchgeführt wurden und anderen geschadet haben. D.h. auch moralische Schuld erfordert Verantwortlichkeit und für Verantwortlichkeit ist mE tatsächlich ein freier Wille (im kompatibilistischen Sinne) erforderlich.
Anscheinend haben wir unterschiedliche Auffassungen von 'Moral'. Was meinst du damit?
Ich hatte in meinen Ausführungen 'Moral', sofern sie sich auf andere Menschen bezieht, so verstanden wissen wollen, dass sie von Menschen als "übergeordnet", also über dem Menschen stehend, aufgefasst wird und demnach nicht-relativistisch ist. Wir diskutieren ja immer noch über die Position von MSS, der meiner Auffassung nach mit dem evolutionären Humanismus einen kritischen Konventionalismus vertritt. Diesem nach gibt es ja keinen Grund, sich nach einer (wahrscheinlich gar nicht existenten) übergeordneten Moral zu richten, sondern es können bloß gemeinsame Wertvorstellungen vereinbart werden. Der evolutionäre Humanismus bezeichnet diese dann als 'Ethik', um sich vom Begriff 'Moral' abzugrenzen.
Bleibt die Frage, wie man die Wertvorstellungen eines Individuums bezeichnet, das diese nur auf sich selbst anwendet. Ich habe sie, glaube ich, irgendwo schon mal 'Moral' bezeichnet, was zugegebenermaßen inkonsistent ist.

Von moralischer Schuld kann man also meiner Auffassung nur dann sprechen, wenn man überhaupt von einer 'Moral' im Sinne der obigen Definition ausgeht. Geht man von einer konventionalistischen Ethik aus, kann auch nur gegen diese verstoßen werden. Sie entspricht aber geschriebenen oder ungeschriebenen, menschengemachten Gesetzen. Wird gegen sie verstoßen, würde ich es nicht als "moralisches Verschulden" bezeichnen, sondern schlicht als Bruch der gemeinsamen Regeln. Wenn du in diesem Sinne die Verknüpfung mit Verantwortung meinst, stimme ich dir zu. Es ist die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, nicht die Verantwortung gegenüber einer übergeordneten Moral.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wieso aber ein kontra-kausaler freier Wille erforderlich sein solle, (falls Du das meintest), ist mir unklar.
Falls ich dich richtig verstanden habe...
Unter der Annahme, dass ein freier Wille nicht existiert, werden Handlungen mit negativen Folgen nicht mehr als 'Verschulden' im moralischen Sinne aufgefasst, sondern eher als ungünstige Fügung, gewissermaßen als unvermeidliches Naturereignis. Gegen Naturereignisse kann man aber etwas tun: man kann stabile Häuser bauen, einen Regenschirm aufspannen oder Lawinenzäune errichten.
Geht man von einem freien Willen aus, kann man nichts tun, denn der Mensch kann sich ja stets frei entscheiden. Die graduellen, quantitativen Graustufen, wie 'frei' man den Willen nun tatsächlich ansieht, wirken sich natürlich auf diese Sichtweise aus. Bei kompatibilistischer Auffassung ist man dann ja im Grunde wieder beim nicht-freien Willen. (Nur kurz angemerkt bin ich der Auffassung, dass der Kompatibilismus eine aus logischer Sicht überflüssige Hypothese ist. Man sollte besser von gefühlter Handlungsfreiheit sprechen.)
Man kann seinen Mitmenschen also nur dann Schuld zusprechen, wenn man davon ausgeht, dass sie von sich aus (mit freiem Willen) bösartig gehandelt haben.

AgentProvocateur hat geschrieben:Jemand, der sich bewusst und absichtlich falsch verhält, anderen schadet, der hat auch eine moralische Schuld. Seine Handlung war böse. Woraus aber nicht folgt, dass er als Mensch insgesamt böse wäre. Mit einer supranaturalistischen Moralvorstellung hat das mE auch nichts zu tun.
Wenn du mit "böse" meinst, dass seine Handlung gegen die Gesellschaft gerichtet war, ist das aber eine eindeutig nicht-relativistische Bewertung.
Aus Sicht einer konventionalistischen Ethik würde man das wohl eher als "zuwider gerichtetes Interesse" bezeichnen. Es wäre also wohlbegründet, und man könnte mit dem Gegenüber in einen Diskurs eintreten, in dem man schlimmstenfalls erkennen muss, dass die Standpunkte konträr sind. Unterstellt man seinem Gegenüber jedoch Bösartigkeit, wird man kaum mehr bereit sein, ihn als vernunftbegabten Menschen anzuerkennen. Ein gutes Beispiel ist George W. Bush's "Achse des Bösen".



AgentProvocateur hat geschrieben:Vergebung ergibt überhaupt nur einen Sinn, wenn man einen (kompatibilistischen) freien Willen annimmt, wenn man also dem Täter seine Handlung zurechnet, ihn dafür verantwortlich hält. Wenn man aber Menschen als selber handlungsunfähige Marionetten von ihnen nicht beeinflussbaren Umständen ansieht, dann ergibt Vergebung keinen Sinn. Nur einem als handlungsfähig angesehenen Subjekt kann man verzeihen.
Du hast insofern Recht, als man dem Individuum zumindest eine gefühlte Handlungsfreiheit zugestehen muss, um von Vergebung sprechen zu können, wobei auch diese Vokabel wohldefiniert sein muss. Ich verstehe darunter, dem Gegenüber zu verzeihen und ihn wegen seiner früheren Handlungen nicht länger zu tadeln. Für Vergebung braucht man also m.A.n. keine Moral, sondern als Grundlage reichen zwischenmenschliche Ethik und Verantwortung.

AgentProvocateur hat geschrieben:Die Frage hier an Dich wäre wohl: wer sind die Akteure in Deiner Auffassung, an wen richten sich Deine Überlegungen, wen willst Du überzeugen? Oder willst Du nicht überzeugen, (mit Gründen an Einsicht appelieren), sondern lediglich manipulieren, (andere, die keine handlungsfähigen Akteure sind, zu bestimmtem Verhalten bringen)? Aber auch dann bliebe die Frage, ob Du Dich selber als handlungsfähigen Akteur ansiehst, die Frage nach der Selbstanwendbarkeit Deiner Auffassung.
Das ist in der Tat der heikle Punkt.
Mein ontologisches Weltbild betreffend bin ich davon überzeugt, dass niemand als 'handlungsfähiger Akteur' bezeichnet werden kann oder, wie MSS es ausdrückt, als 'unbewegter Beweger'. Auf zwischenmenschlicher Basis muss man aber einbeziehen, dass Menschen sich als handlungsfähige Wesen verstehen. Ich sehe mich persönlich ja auch so, ansonsten müsste ich in Fatalismus verfallen und könnte gleich mein Leben beenden. Die Frage ist aber, worauf wir unser Gefühl der Handlungsfreiheit begründen: a) auf einem von Kausalzusammenhängen weitgehend unabhängigen freien Willen oder b) auf dem Gefühl der Handlungsfreiheit in dem Sinne, dass uns möglichst wenig daran hindert, zu dieser oder jener Entscheidung zu kommen und sie umzusetzen.
Du verwendest 'überzeugen' und 'manipulieren' gegensetzlich, aber bedeuten sie hier nicht objektiv dasselbe? Der Unterschied besteht meiner Ansicht nach lediglich im subjektiven Gefühl, entweder von etwas überzeugt zu sein oder manipuliert worden zu sein. Ich habe das Gefühl, von den Werten, mit denen ich erzogen wurde, überzeugt zu sein, aber bin ich nicht eigentlich bloß manipuliert worden? Letzten Endes ist jeder von uns (meiner Ansicht nach) objektiv gesehen eine Marionette seiner genetischen Grundlage und der Summe aller äußeren Einflüsse im Verlauf seines Lebens.

Keinen freien Willen zu haben, bedeutet aber nicht, nichts mehr zu wollen. Auch wenn ich nicht handlungsfähig im Sinne eines 'unbewegten Bewegers' bin, habe ich dennoch einen Willen; ich will bestimmte Dinge tun oder nicht tun. Wenn mir dabei keine inneren oder äußeren Zwänge entgegenstehen, kann man das als "innere und äußere Handlungsfreiheit" bezeichnen.
Darüber hinaus kann man auch Wollen wollen, und das ist wohl der entscheidende Punkt, um sich als 'Akteur' zu fühlen. Ich kann den Wunsch haben, Freude an bestimmter Poesie oder Ehrgeiz zum Lernen zu entwickeln. Ich kann meinen Willen selbst beeinflussen, wenn ich das will - natürlich nicht im Sinne eines 'freien Willens', sondern eines determinierten Willens, gewissermaßen auf einer zweiten Ebene. Meiner Ansicht nach ist diese Einsicht eine gute Voraussetzung dafür, an sich selbst arbeiten und sich weiterentwickeln zu können. Nimmt man dagegen an, man hätte einen freien Willen, bräuchte man seinen Willen auch nicht beeinflussen zu wollen, denn man könnte sich ja ohnehin beliebig entscheiden.
In Bezug auf eine Ethik und zwischenmenschliche Beziehungen bedeutet dies, dass ich wollen kann, dass andere etwas wollen, was wohl mit überzeugen wollen gleichbedeutend ist. Dass ich mir dabei zugestehe, dass ich vielleicht auch nur will, was andere wollen, finde ich nicht schlimm - wie sollte es auch anders sein? Wichtig ist, dass mir (gefühlte) "innere und äußere Handlungsfreiheit" gewährt wird. Letzten Endes ist also niemand 'Akteur', aber jeder fühlt sich als solcher. Mir geht jedenfalls durch diese Einsicht nichts verloren (außer dass ich andere als moralisch schuldig oder böse bezeichnen könnte).
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Mo 21. Jan 2013, 11:36

@ fopa:

Nur kurz zu dem Punkt Moral und Ethik:
In der Regel versteht man unter Moral eine konkrete und eindeutige Handlungsanweisung nach der Art „Du sollst ...“ und „Du sollst/darfst nicht...“

Moral ist nicht per so schlecht oder minderwertig, denn die Regeln „Du sollst nicht töten, lügen, stehlen“ sind ja brauchbar fürs Zusammenleben. Schwierig werden moralische Gebot und Verbote in Grenzfällen, wenn sie verabsolutiert werden. Darf man wirklich nie lügen, auch nicht, wenn man jemandes Leben in Gefahr bringt? Darf man nie töten? Was ist mit dem Tyrannenmord, was mit der Abtreibung nach einer Vergewaltigung?

Hier werden moralische Anweisungen zunehmend untauglich oder dogmatisch und der Sprung ins Prinzipielle ist gerechtfertigt. Ethik ist prinzipiengeleitet, reflexiv und dynamisch, das ist der eine wesentliche Unterschied.
Der andere ist, dass die Verantwortung von einer äußeren Autorität (die die Ge- und Verbote gegeben hat oder verwaltet) auf das Individuum übergeht, das nun selbst, nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden muss und darf.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 21. Jan 2013, 16:56

fopa hat geschrieben:Anscheinend haben wir unterschiedliche Auffassungen von 'Moral'. Was meinst du damit?

Ich verstehe unter "Moral" und "Ethik" das, was mE gemeinhin darunter verstanden wird:

Gabler Wirtschaftslexikon, Definition Ethik:
Ethik ist die Lehre bzw. Theorie vom Handeln gemäß der Unterscheidung von gut und böse. Gegenstand der Ethik ist die Moral.

Und "Moral" bezieht sich mE auf Handlungen von einsichtsfähigen Wesen, die (die Handlungen) sich auf leid- und/oder einsichtsfähige Wesen beziehen.

fopa hat geschrieben:Ich hatte in meinen Ausführungen 'Moral', sofern sie sich auf andere Menschen bezieht, so verstanden wissen wollen, dass sie von Menschen als "übergeordnet", also über dem Menschen stehend, aufgefasst wird und demnach nicht-relativistisch ist.

Worauf Du hier wohl abzielst, ist der Unterschied zwischen moralischen Realisten (z.B. Harris) und moralischen Relativisten. Beide beziehen sich aber auf Moral, es geht nicht, relativistische Moral nicht "Moral" nennen zu wollen, das wäre sehr verwirrend.

fopa hat geschrieben:Wir diskutieren ja immer noch über die Position von MSS, der meiner Auffassung nach mit dem evolutionären Humanismus einen kritischen Konventionalismus vertritt. Diesem nach gibt es ja keinen Grund, sich nach einer (wahrscheinlich gar nicht existenten) übergeordneten Moral zu richten, sondern es können bloß gemeinsame Wertvorstellungen vereinbart werden. Der evolutionäre Humanismus bezeichnet diese dann als 'Ethik', um sich vom Begriff 'Moral' abzugrenzen.

Und außerdem geht es nicht, nur seine eigene Ethik als "Ethik" bezeichnen zu wollen, andere Ethiken aber als (minderwertig angesehene) "Moral". Das ist ein allzu billiger rhetorischer Trick, um seine eigene Meinung als die einzig richtige darzustellen.

fopa hat geschrieben:Von moralischer Schuld kann man also meiner Auffassung nur dann sprechen, wenn man überhaupt von einer 'Moral' im Sinne der obigen Definition ausgeht.

Aber diese Definition ist für mich nicht akzeptabel, aus den o.g. Gründen. Egal, ob man moralischer Realist oder moralischer Relativist ist, kann man von "moralischer Schuld" sprechen. Es geht nicht, dass man einfach durch Definitionen andere Positionen aus dem Diskurs ausschließt und sich dann einfach per definitionem als Sieger der Diskussion darstellt. Das ist es, was MSS mE hier tut.

fopa hat geschrieben:Man kann seinen Mitmenschen also nur dann Schuld zusprechen, wenn man davon ausgeht, dass sie von sich aus (mit freiem Willen) bösartig gehandelt haben.

Nun ist das "kann" in Deinem Satz eigentlich ein "soll", eine Forderung an Dritte. Was impliziert, dass Dritte nach vernünftigen Gründen entscheiden und handeln können. Und nimmt man an, dass sie das können, dann kann man ihnen auch berechtigt Schuld zusprechen, wenn sie von sich aus absichtlich unmoralisch (= böse) handeln. Wieso man das aber nur dürfe, wenn sie einen ominösen, nicht logisch darstellbaren und daher unverständlich bleiben müssenden kontra-kausalen freien Willen hätten, bleibt völlig unklar.

Diese Behauptung:

fopa hat geschrieben:Unter der Annahme, dass ein [kontra-kausaler] freier Wille nicht existiert, werden Handlungen mit negativen Folgen nicht mehr als 'Verschulden' im moralischen Sinne aufgefasst, sondern eher als ungünstige Fügung, gewissermaßen als unvermeidliches Naturereignis.

ist jedenfalls falsch. Man unterscheidet zwischen nicht steuerbarem Verhalten (siehe meine Beispiele oben) und absichtlichem Handeln. Letzteres wird, falls es negative Folgen für andere hat, als Verschulden im moralischen Sinne aufgefasst, Ersteres nicht. Das hat aber nichts damit zu tun, dass man an einen ominösen kontra-kausalen Willen glaubte, sondern es hat etwas mit der jeweils unterschiedlichen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu tun.

fopa hat geschrieben:Mein ontologisches Weltbild betreffend bin ich davon überzeugt, dass niemand als 'handlungsfähiger Akteur' bezeichnet werden kann oder, wie MSS es ausdrückt, als 'unbewegter Beweger'. Auf zwischenmenschlicher Basis muss man aber einbeziehen, dass Menschen sich als handlungsfähige Wesen verstehen.

Im Sinne von "unbewegter Beweger"? Ich denke nicht.

fopa hat geschrieben:Die Frage ist aber, worauf wir unser Gefühl der Handlungsfreiheit begründen: a) auf einem von Kausalzusammenhängen weitgehend unabhängigen freien Willen oder b) auf dem Gefühl der Handlungsfreiheit in dem Sinne, dass uns möglichst wenig daran hindert, zu dieser oder jener Entscheidung zu kommen und sie umzusetzen.

Ja, eben, das ist die Frage. Wie kommst Du darauf, dass viele Menschen das mit (nicht verstehbaren, da logisch nicht darlegbaren) a) begründen? b) ist ja nun auch nicht nur ein Gefühl, es gibt ja wohl einen wesentlichen Unterschied z.b. zwischen einem von inneren Zwängen getriebenen Menschen und einem, der solchen Zwängen nicht unterliegt. Außerdem fehlt bei b) die Entscheidungsfreiheit, die auf den Fähigkeiten zur Erkenntnis, Zukunftsabschätzung und Reflexion beruht.

fopa hat geschrieben:Du verwendest 'überzeugen' und 'manipulieren' gegensetzlich, aber bedeuten sie hier nicht objektiv dasselbe? Der Unterschied besteht meiner Ansicht nach lediglich im subjektiven Gefühl, entweder von etwas überzeugt zu sein oder manipuliert worden zu sein. Ich habe das Gefühl, von den Werten, mit denen ich erzogen wurde, überzeugt zu sein, aber bin ich nicht eigentlich bloß manipuliert worden?

Deine Werte kannst Du überdenken und sie ggf. revidieren oder aber sie als gut/passend akzeptieren. Wie auch sonst, wie sollte das bei einem kontra-kausalen freien Willen anders und irgendwie besser gehen?

fopa hat geschrieben:Letzten Endes ist jeder von uns (meiner Ansicht nach) objektiv gesehen eine Marionette seiner genetischen Grundlage und der Summe aller äußeren Einflüsse im Verlauf seines Lebens. [...] Auch wenn ich nicht handlungsfähig im Sinne eines 'unbewegten Bewegers' bin, habe ich dennoch einen Willen; ich will bestimmte Dinge tun oder nicht tun. Wenn mir dabei keine inneren oder äußeren Zwänge entgegenstehen, kann man das als "innere und äußere Handlungsfreiheit" bezeichnen.

Das ist widersprüchlich. Eine Marionette hat keinerlei "innere und äußere Handlungsfreiheit". Das, was MSS "innere Handlungsfreiheit" nennt, ist übrigens ziemlich genau ein freier Wille im kompatibilistischen Sinne.

fopa hat geschrieben:Darüber hinaus kann man auch Wollen wollen, und das ist wohl der entscheidende Punkt, um sich als 'Akteur' zu fühlen. Ich kann den Wunsch haben, Freude an bestimmter Poesie oder Ehrgeiz zum Lernen zu entwickeln. Ich kann meinen Willen selbst beeinflussen, wenn ich das will - natürlich nicht im Sinne eines 'freien Willens', sondern eines determinierten Willens, gewissermaßen auf einer zweiten Ebene. Meiner Ansicht nach ist diese Einsicht eine gute Voraussetzung dafür, an sich selbst arbeiten und sich weiterentwickeln zu können.

-> kompatibilistischer freier Wille

Inwiefern wäre nun ein kontra-kausaler freier Wille eine Verbesserung zu diesen Fähigkeiten, inwiefern wäre der wünschenswert?

fopa hat geschrieben:Nimmt man dagegen an, man hätte einen [kontra-kausalen] freien Willen, bräuchte man seinen Willen auch nicht beeinflussen zu wollen, denn man könnte sich ja ohnehin beliebig entscheiden.

Mit "beliebig" meinst Du "völlig grundlos", oder? Aber völlig grundlose Entscheidungen sind irrational. Was wäre mit einem kontra-kausalen freien Willen gewonnen, wenn der auf Irrationalität hinausläuft? Irrationalität schließt doch wohl eher Verantwortung und Schuld aus.

fopa hat geschrieben:Dass ich mir dabei zugestehe, dass ich vielleicht auch nur will, was andere wollen, finde ich nicht schlimm - wie sollte es auch anders sein? Wichtig ist, dass mir (gefühlte) "innere und äußere Handlungsfreiheit" gewährt wird. Letzten Endes ist also niemand 'Akteur', aber jeder fühlt sich als solcher. Mir geht jedenfalls durch diese Einsicht nichts verloren (außer dass ich andere als moralisch schuldig oder böse bezeichnen könnte).

Wichtig ist, dass die innere und äußere Handlungsfreiheit nicht nur eine gefühlte, sondern eine tatsächliche ist. Wäre dem anders, dann müsste man auch jede Art von Manipulation Dritter als in Ordnung ansehen, solange die Dritten nur nichts davon merken, sie das richtige Gefühl haben, denn nur auf das Gefühl käme es ja dann an.

Letzten Endes hat also niemand einen kontra-kausalen freien Willen, bleibt aber - eben deswegen und wegen der "inneren und äußeren Handlungsfreiheit" - ein nach Gründen handeln könnender Akteur. Und den kann man berechtigt ggf. als "moralisch schuldig", seine Handlung als "böse" bezeichnen, wieso auch nicht?

Du bist hier mE in einem Dilemma. Entweder siehst Du Menschen als selber entscheidungs- und handlungsunfähige Marionetten an - was jedoch "innere und äußere Handlungsfreiheit" ausschließen würde, und ein Überzeugen-wollen von anderen sinnlos machen würde, jeder rationale Diskurs müsste dann als wirkungsloses Epiphänomen augefasst werden. Oder, falls Du "innere und äußere Handlungsfreiheit" annimmst, dann bleibt unklar, wieso man keine moralische Schuld zuweisen dürfe, warum man bestimmte Handlungen nicht als "böse" (= moralisch schlecht) ansehen dürfte.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Mo 21. Jan 2013, 17:57

Ich weiß nicht, ob ich mich irgendwo missverständlich ausgedrückt habe. Ich vertrete doch nirgendwo die These, der Mensch hätte einen kontra-kausalen freien Willen. :lookwrong:
Vielleicht formuliere ich auch manchmal zu deskriptiv und neutral, sodass dieser Eindruck entstehen konnte - k.A. :ka:

AgentProvocateur hat geschrieben:Ich verstehe unter "Moral" und "Ethik" das, was mE gemeinhin darunter verstanden wird:
Solche Kommentare helfen leider nicht weiter, denn Begriffe wie Moral oder Ethik werden von vielen Philosophen ganz unterschiedlich definiert. Wenn wir mit diesen Begriffen umgehen, müssen wir zumindest wissen, was der Andere darunter versteht. Sonst endet es im Kuddelmuddel, wie man sieht.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und außerdem geht es nicht, nur seine eigene Ethik als "Ethik" bezeichnen zu wollen, andere Ethiken aber als (minderwertig angesehene) "Moral". Das ist ein allzu billiger rhetorischer Trick, um seine eigene Meinung als die einzig richtige darzustellen.
Es ist kein billiger Trick, sondern eine sinnvolle Unterscheidung. Man kann meinetwegen auch andere Variablen verwenden, wenn dir das lieber ist. Statt 'Ethik' könnten wir 'individual-konventionalistische Moral' sagen. Hauptsache, wir reden über dasselbe.

AgentProvocateur hat geschrieben:Aber diese Definition ist für mich nicht akzeptabel, aus den o.g. Gründen. Egal, ob man moralischer Realist oder moralischer Relativist ist, kann man von "moralischer Schuld" sprechen. Es geht nicht, dass man einfach durch Definitionen andere Positionen aus dem Diskurs ausschließt und sich dann einfach per definitionem als Sieger der Diskussion darstellt. Das ist es, was MSS mE hier tut.
Ich vertrete hier nicht MSSs Positionen, sondern meine eigenen. Wenn dir meine Definitionen nicht passen, dann schlage andere vor. Wenn sie sich dafür eignen, dass ich meine Gedanken und Positionen klar ausdrücken kann, soll mir das recht sein. Die von dir verlinkte Definition von Ethik eignet sich jedenfalls nicht.


AgentProvocateur hat geschrieben:Diese Behauptung:
fopa hat geschrieben:Unter der Annahme, dass ein [kontra-kausaler] freier Wille nicht existiert, werden Handlungen mit negativen Folgen nicht mehr als 'Verschulden' im moralischen Sinne aufgefasst, sondern eher als ungünstige Fügung, gewissermaßen als unvermeidliches Naturereignis.

ist jedenfalls falsch.
Ich muss zugeben, dass das stimmt. Im Allgemeinen gilt die Behauptung nicht. Es gibt ja noch etwas (aus meiner Sicht unlogisches) dazwischen, nämlich den Kompatibilismus.
AgentProvocateur hat geschrieben:Man unterscheidet zwischen nicht steuerbarem Verhalten (siehe meine Beispiele oben) und absichtlichem Handeln. Letzteres wird, falls es negative Folgen für andere hat, als Verschulden im moralischen Sinne aufgefasst, Ersteres nicht. Das hat aber nichts damit zu tun, dass man an einen ominösen kontra-kausalen Willen glaubte, sondern es hat etwas mit der jeweils unterschiedlichen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu tun.
All das basiert auf deinen inneren, mit bisher verborgen gebliebenen Definitionen. Vor meinen Behauptungen habe ich Voraussetzungen deklariert, unter denen ich die Behauptung aufgestellt habe. Demnach solltest du besser entweder die Voraussetzungen offen anzweifeln oder die Behauptungen auf Basis der Voraussetzungen verstehen, statt die Behauptungen auf Basis deiner Voraussetzungen misszuinterpretieren.

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Die Frage ist aber, worauf wir unser Gefühl der Handlungsfreiheit begründen: a) auf einem von Kausalzusammenhängen weitgehend unabhängigen freien Willen oder b) auf dem Gefühl der Handlungsfreiheit in dem Sinne, dass uns möglichst wenig daran hindert, zu dieser oder jener Entscheidung zu kommen und sie umzusetzen.
[...] b) ist ja nun auch nicht nur ein Gefühl, es gibt ja wohl einen wesentlichen Unterschied z.b. zwischen einem von inneren Zwängen getriebenen Menschen und einem, der solchen Zwängen nicht unterliegt. Außerdem fehlt bei b) die Entscheidungsfreiheit, die auf den Fähigkeiten zur Erkenntnis, Zukunftsabschätzung und Reflexion beruht.
Stimmt, nicht jeder Mensch hat das Gefühl von Handlungsfreiheit. Ich hatte mich auf Menschen bezogen, die sich frei fühlen, also nicht psychisch krank sind. Dein Einwand mit der Entscheidungsfreiheit ist obsolet, da ich von der Nicht-Existenz eines freien Willens gesprochen habe. Ich habe es ja oben schon geschrieben: Wenn du von anderen Voraussetzungen ausgehen willst, kannst du das gerne tun. Dann solltest du es aber auch so äußern.

AgentProvocateur hat geschrieben:
fopa hat geschrieben:Letzten Endes ist jeder von uns (meiner Ansicht nach) objektiv gesehen eine Marionette seiner genetischen Grundlage und der Summe aller äußeren Einflüsse im Verlauf seines Lebens. [...] Auch wenn ich nicht handlungsfähig im Sinne eines 'unbewegten Bewegers' bin, habe ich dennoch einen Willen; ich will bestimmte Dinge tun oder nicht tun. Wenn mir dabei keine inneren oder äußeren Zwänge entgegenstehen, kann man das als "innere und äußere Handlungsfreiheit" bezeichnen.
Das ist widersprüchlich. Eine Marionette hat keinerlei "innere und äußere Handlungsfreiheit". Das, was MSS "innere Handlungsfreiheit" nennt, ist übrigens ziemlich genau ein freier Wille im kompatibilistischen Sinne.
Es mag sein, dass MSS eine kompatibilistische Vorstellung vertritt. Ich tue es nicht und habe das auch deutlich gesagt. Wie begründest du die Behauptung, ein (nach meiner Voraussetzung) determiniertes System wie der Mensch ('Marionette') könne keine innere und äußere Handlungsfreiheit (im Sinne der dargestellten Definition des Wollen-Umsetzen-Könnens) haben? Meiner Ansicht nach spricht nichts dagegen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Wichtig ist, dass die innere und äußere Handlungsfreiheit nicht nur eine gefühlte, sondern eine tatsächliche ist. Wäre dem anders, dann müsste man auch jede Art von Manipulation Dritter als in Ordnung ansehen, solange die Dritten nur nichts davon merken, sie das richtige Gefühl haben, denn nur auf das Gefühl käme es ja dann an.
Nun, du gehst wieder von deinen geheimen Voraussetzungen aus und behauptest, ohne sie zu nennen, es gäbe innere und äußere Handlungsfreiheit tatsächlich (in welchem Sinn auch immer du das meinst).
Ob man die Manipulation Dritter gutheißt, sofern sie nichts davon merken, ist eine Frage des subjektiven Gerechtigkeitsempfindens und hat erst einmal nichts mit freiem Willen zu tun. Geht man davon aus, dass alles im inkomplabilistischen Sinne streng determiniert ist, kann man eine solche Manipulation befürworten oder ablehnen oder in Fatalismus verfallen. Die selben Möglichkeiten gibt es unter der Annahme eines unbedingten freien Willens oder eines freien Willens im kompatibilistischen Sinn. Die umgekehrte Impliktion ist ebenfalls nicht gegeben: Aus einer Befürwortung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit bezüglich der Manipulation kann man nicht auf den "Freiheitsgrad" des Willens schließen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Du bist hier mE in einem Dilemma. Entweder siehst Du Menschen als selber entscheidungs- und handlungsunfähige Marionetten an - was jedoch "innere und äußere Handlungsfreiheit" ausschließen würde, und ein Überzeugen-wollen von anderen sinnlos machen würde, jeder rationale Diskurs müsste dann als wirkungsloses Epiphänomen augefasst werden. Oder, falls Du "innere und äußere Handlungsfreiheit" annimmst, dann bleibt unklar, wieso man keine moralische Schuld zuweisen dürfe, warum man bestimmte Handlungen nicht als "böse" (= moralisch schlecht) ansehen dürfte.
Nein. Erstens hast du meine vielfach genannten Voraussetzungen ignoriert, unter denen ich meine Positionen dargelegt habe. Statt dessen versuchst du, meine Behauptungen, die ich auf Basis meiner Definitionen aufgestellt habe, auf Basis deiner (mir unbekannten) Definitionen zu widerlegen. Zweitens differnzierst du nicht zwischen der "Erkenntnis der Nicht-Existenz eines freien Willens" und dem bewussten Wollen (oder Wünschen), welches nämlich keinen freien Willen voraussetzt. Ich meinte, ich hatte diese Unterscheidung deutlich gemacht.


Ich weiß, dass es manchmal schwer ist, sich in die Definitionen Anderer hineinzudenken und deren Ausführungen auf Basis dieser Definitionen und nicht der eigenen zu verstehen. Das Problem ist, dass es für die hier diskutierten Begriffe nun mal keine eindeutigen, allgemeingültigen Definitionen gibt. Also muss man sie erst klären und kann dann, falls sie dafür geeignet sind, die Probleme diskutieren. Ich bin der Meinung, dass ich die Vorbedingungen meiner Positionen ausreichend klar dargelegt habe. Wenn Unklarheiten bestehen, kannst du gerne nachfragen oder natürlich auch anderer Meinung sein. Dann sollten wir uns aber erst um diese Vorbedingungen kümmern, statt auf einer anderen Basis falsche Schlüsse zu ziehen oder gar die genannten Voraussetzungen mit Behauptungen zu verwechseln.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Mo 21. Jan 2013, 19:44

Irgendwas ist hier gewaltig schief gelaufen, weiß aber noch nicht, wieso.

fopa hat geschrieben:Ich weiß nicht, ob ich mich irgendwo missverständlich ausgedrückt habe. Ich vertrete doch nirgendwo die These, der Mensch hätte einen kontra-kausalen freien Willen. :lookwrong:

Es ist mir doch völlig klar, dass Du nicht diese These vertrittst, sondern die gegenteilige. Wo liest Du heraus, ich würde annehmen, dass Du sie verträtest?

fopa hat geschrieben:Es mag sein, dass MSS eine kompatibilistische Vorstellung vertritt. Ich tue es nicht und habe das auch deutlich gesagt.

Das hatte ich wohl noch falsch verstanden.

fopa hat geschrieben:Wie begründest du die Behauptung, ein (nach meiner Voraussetzung) determiniertes System wie der Mensch ('Marionette') könne keine innere und äußere Handlungsfreiheit (im Sinne der dargestellten Definition des Wollen-Umsetzen-Könnens) haben?

Ich meine: das Bild einer Marionette ist hier ein völlig falsches, wenn man innere und äußere Handlungsfreiheit annimmt. Eine Maronette ist eine Puppe, die an Fäden hängt und ausschließlich von außen gesteuert wird. Eine Marionette hat keine mentalen Zustände, also auch kein Wollen. Sie kann auch aus eigener Kraft nichts umsetzen.

fopa hat geschrieben:Ich weiß, dass es manchmal schwer ist, sich in die Definitionen Anderer hineinzudenken und deren Ausführungen auf Basis dieser Definitionen und nicht der eigenen zu verstehen. Das Problem ist, dass es für die hier diskutierten Begriffe nun mal keine eindeutigen, allgemeingültigen Definitionen gibt. Also muss man sie erst klären und kann dann, falls sie dafür geeignet sind, die Probleme diskutieren. Ich bin der Meinung, dass ich die Vorbedingungen meiner Positionen ausreichend klar dargelegt habe. Wenn Unklarheiten bestehen, kannst du gerne nachfragen oder natürlich auch anderer Meinung sein. Dann sollten wir uns aber erst um diese Vorbedingungen kümmern, statt auf einer anderen Basis falsche Schlüsse zu ziehen oder gar die genannten Voraussetzungen mit Behauptungen zu verwechseln.

Okay, also werde ich erst mal ein paar Definitionen ablieferen, der Einfachheit halber alle aus der Wikipedia (ich stimme denen zu):

Moral: Moral bezeichnet zumeist die faktischen Handlungsmuster, -konventionen, -regeln oder -prinzipien bestimmter Individuen, Gruppen oder Kulturen. So verstanden, sind die Ausdrücke Moral, Ethos oder Sitte weitgehend gleichbedeutend und werden beschreibend (deskriptiv) gebraucht. Daneben wird mit der Rede von Moral auch ein Bereich von praktischen Urteilen, Handlungen oder deren Prinzipien (Werte, Güter, Pflichten, Rechte) verbunden. Eine so verstandene Unterscheidung von Moral und Unmoral ist nicht beschreibend, sondern bewertend (normativ).

Ethik: Die Ethik [...] ist eines der großen Teilgebiete der Philosophie und befasst sich mit Moral, insbesondere hinsichtlich ihrer Begründbarkeit. [...] Das Ziel der Ethik ist die Erarbeitung von allgemeingültigen Normen und Werten. Sie ist abzugrenzen von einer deskriptiven Ethik, die keine moralischen Urteile fällt, sondern die tatsächliche, innerhalb einer Gesellschaft gelebte Moral mit empirischen Mitteln zu beschreiben versucht.

(Anmerkung dazu: ich denke, es geht hier nur um die normative Moral, bzw. um die normative Ethik.)

Akteur: Ein Akteur (vom französischen acteur für „Handelnder“) ist der Urheber einer Handlung.

Handlung: Handeln bezeichnet jede menschliche, von Motiven geleitete zielgerichtete Aktivität, sei es ein Tun oder ein Unterlassen. Es ist also deutlich von »Verhalten« zu unterscheiden, das allenfalls unbewusst motiviert ist und/oder ohne Zielvorgabe abläuft.

Schuld: Der Zustand der Schuld entsteht, wenn jemand für einen Verstoß gegenüber einer sittlichen, ethisch-moralischen oder gesetzlichen Wertvorstellung verantwortlich ist. Beispielsweise kann dies ein bewusster Verstoß gegen ein Verbot sein (zum Beispiel Diebstahl) oder auch der fahrlässige Verstoß gegen ein Verbot (zum Beispiel Fahrlässige Tötung). In der Regel wird davon ausgegangen, dass nur eine einzelne Person für ihre Schuld einzustehen hat und ihr die Schuld anderer nicht zurechenbar ist.

Verantwortung: Der Begriff der Verantwortung bezeichnet die Zuschreibung einer Pflicht zu einer handelnden Person oder Personengruppe (Subjekt) gegenüber einer anderen Person oder Personengruppe (Objekt) aufgrund eines normativen Anspruchs, der durch eine Instanz eingefordert werden kann und vor dieser zu rechtfertigen (zu beantworten) ist. Die Handlungsfolgen können für den Handelnden zu Konsequenzen wie Belohnung, Bestrafung oder Ersatzleistungen führen.

Zusätzliche Definitionen von mir:

Handlungsfreiheit, (von MSS "äußere Handlungsfreiheit" genannt): ungehindert tun können, was man will

(kompatibilistische) Willensfreiheit, (von MSS "innere Handlungsfreiheit" genannt): die Fähigkeit, Gründe erkennen, abwägen und begründete Entscheidungen treffen zu können

(inkompatibilistische) Willensfreiheit, (auch mit den Zusätzen "kontra-kausal", "unbedingt" oder "ursachenlos-/frei" belegt): mE nicht logisch widerspruchsfrei definierbar

Unbewegter Beweger: mE nicht logisch widerspruchsfrei definierbar
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Di 22. Jan 2013, 02:21

@fopa

Zur Ergänzung: um Deinen Standpunkt verstehen zu können, wäre es mE ganz gut, wenn Du die aufgelisteten Definitionen, denen Du nicht zustimmst, benennst und Deine Einwände dazu vorbringst, sagst, inwiefern Du das jeweils anders siehst.

Die Definitionen von "inkompatibilistischer Willensfreiheit" (der "kontra-kausale", "unbedingte", "ursachenlose" - wie auch immer man das nennen will - "freie Wille") und des "Unbewegten Bewegers" stehen nun noch aus; ich sehe mich, wie gesagt, außerstande, die logisch widerspruchsfrei definieren zu können. Auch ist mir noch völlig unklar, wieso ein Akteur notwendigerweise ein "Unbewegter Beweger" (was auch immer das sein mag) sein müsse. Wenn Du dazu noch etwas sagen könntest, das plausibel machen könntest?
----
Und noch etwas, was vielleicht hilfreich sein könnte:

Richard Carrier - Diskussion mit Tom Clark (Tom Clark von naturalism.org):

[...] what is central to our self-conception is that we are not puppets, that we control our fate by the decisions we make, that we can change, that we can choose to make carefully reasoned decisions rather than irrational or thoughtless ones, that we are not slaves to our emotions, that we can rise above the circumstances we were born into, that we can therefore correct ourselves and improve ourselves and get out of bad environments, that our emotions belong to us and not someone else, that our actions demonstrate our character, that we are responsible for the choices we make, and so on. And yet, every single thing on that list is true. CCF in actual fact has nothing to do with any of it.

[...] was zentral für unsere Selbst-Konzept ist, ist, (1) dass wir keine Puppen sind, dass wir unser Schicksal durch die Entscheidungen, die wir treffen, kontrollieren; (2) dass wir uns entscheiden können, sorgfältig durchdachte Entscheidungen zu treffen anstatt irrationale oder gedankenlose Entscheidungen; (3) dass wir nicht Sklaven unserer Emotionen/Triebe sind; (4) dass wir uns über die Umstände, in die wir geboren sind, erheben können; (5) dass wir daher uns selber korrigieren und verbessern und einer schlechten Umgebung entkommen können; (6) dass unsere Emotionen Teil von uns sind und nicht von jemand anderem; (7) dass unsere Handlungen unseren Charakter demonstrieren; (8) dass wir verantwortlich für die Entscheidungen sind, die wir treffen; und so weiter. Und jeder einzelne Punkt in dieser Liste ist wahr. CCF [der kontra-kausale freie Wille] hat mit keinem einzelnen Punkt etwas zu tun.

(Meine Übersetzung, Nummerierung hinzugefügt)

Würdest Du Richard Carrier nun zustimmen, dass die Einträge in seiner Liste nichts mit einem kontra-kausalen freien Willen zu tun haben?

Falls nein: wo irrt er Deiner Ansicht nach?

Falls ja: was fehlt Deiner Ansicht nach unabdingbar in der Liste, wofür ein kontra-kausaler freien Willen, (und für Moral, gerechtfertigte Verantwortungszuschreibung, gerechtfertigte Schuldzuschreibung oder was auch immer), notwendige Voraussetzung sein müsse? Und was meinst Du, was Leute gemeinhin zusätzlich zu den o.g. Punkten mit einem "freien Willen" verbinden?
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Mi 23. Jan 2013, 20:14

Sry für die späte Antwort, habe momentan ein bisschen viel um die Ohren.
Also, erstmal danke für die Mühe mit den Definitionen. Ich werde versuchen, meine Position mit ihnen auszudrücken und hoffe, dass es nicht zu Missverständnissen kommt (manche sind nämlich mehrdeutig je nach Kontext).

Um es mal klarzustellen:
Ich bin davon überzeugt, dass ein freier Wille bloß eine Illusion ist. Demnach halte ich auch die kompatibilistische Sichtweise für überflüssig, denn sie beschreibt keinen realen freien Willen, sondern mMn lediglich einen eingebildeten freien Willen. Es kann deswegen keinen freien Willen geben, weil es keinen unbewegten Beweger geben kann. Der wäre nämlich zu postulieren, um einen 'von sich aus beeinflussenden', also damit realen, freien Willen zu erklären.

Dieses (inkompatibilistische) Bild verbinde ich mit einer konventionalistischen Ethik, die, wie etwa der evolutionäre Humanismus es vorschlägt, eine (im Sinne der wikipedianischen Definition) normative und Moral hervorbringt. Diese kann supernaturalistische, naturalistische, realistische oder irgendwelche Wurzeln haben - je nach dem, worauf ein beteiligtes Individuum seine Vorstellungen begründet. Der konventionalistische Ansatz schließt aber m.E. aus, dass sich die (beanspruchte) Absolutheit von Moralvorstellungen einzelner Individuen oder Gruppen auf die Moralvorstellungen der Gesellschaft übertragen dürfen; zumindest wenn man einen demokratischen, pluralistischen und nicht-endgültigen Findungsprozess zugrunde legt.

Ein Mensch, der also der gesellschaftlichen, konvenierten Moral zuwider handelt, macht sich auch nur in diesem Sinne schuldig, nämlich gegenüber seinen Mitmenschen. Er lädt jedoch keine Schuld im Sinne einer 'übergeordneten' Moral auf sich, wie es bei einer Sünde der Fall wäre. Ebenso kann er nicht als schuldig bezüglich einer naturalistisch begründeten Moral bezeichnet werden, sondern höchstens als schuldig gegenüber der Gesellschaft, die diese naturalistisch begründete Moral vereinbart hat.
Das mag haarspalterisch klingen, hat aber m.E. große emotionale Auswirkungen. Wenn ich mir klar mache, dass ich nur meinen Mitmenschen 'Unrecht' tun kann, nicht jedoch einer konstruierten Abstraktheit, gewinne ich ein großes Stück Freiheit und Selbstbestimmtheit. Denn auf Basis dieser Erkenntnis kann für meine eigenen Werte und Vorstellungen eintreten und diese verändern (in meinem Sinne verbessern).
Mehr noch: Ich kann andersartige Vorstellungen anderer Menschen akzeptieren, denn ich weiß, dass es kein 'absoluten' Moral gibt. Die einzige Moral, an die man sich halten muss/sollte, ist die gemeinsam vereinbarte.

AgentProvocateur hat geschrieben:Die Definitionen von "inkompatibilistischer Willensfreiheit" (der "kontra-kausale", "unbedingte", "ursachenlose" - wie auch immer man das nennen will - "freie Wille") und des "Unbewegten Bewegers" stehen nun noch aus;
Ich spreche ja nicht von inkompatibilistischer Willensfreiheit, sondern von inkompatibilistischem Determinismus, der jegliche wirksame Willensfreiheit ausschließt.

AgentProvocateur hat geschrieben:Würdest Du Richard Carrier nun zustimmen, dass die Einträge in seiner Liste nichts mit einem kontra-kausalen freien Willen zu tun haben?

Falls ja: was fehlt Deiner Ansicht nach unabdingbar in der Liste, wofür ein kontra-kausaler freien Willen, (und für Moral, gerechtfertigte Verantwortungszuschreibung, gerechtfertigte Schuldzuschreibung oder was auch immer), notwendige Voraussetzung sein müsse? Und was meinst Du, was Leute gemeinhin zusätzlich zu den o.g. Punkten mit einem "freien Willen" verbinden?
Ich glaube nicht, dass man an einen unbedingt-freien Willen oder einen kompatibilistisch-freien Willen glauben muss, um mit den Punkten der Liste einverstanden zu sein. Alles bis auf 'control our fate' kann ich aus meiner oben dargestellten Sichtweise unterschreiben. Es ist aber kritisch zu fragen, was mit 'wir' gemeint ist. Denn es ist zu beachten, dass 'wir' keine unabhängigen Systeme sind, sondern beeinflusst werden und daraufhin unsererseits beeinflussen. Auch Begriffe wie 'ändern', 'kontrollieren' und 'entscheiden' müssen mit großer Vorsicht behandelt werden.

Ich glaube, dass die meisten Menschen intuitiv für die meisten Punkte der Liste einen (wie auch immer gearteten) freien Willen voraussetzen. Das finde ich aber nicht schlimm, denn es steht einer konventionalistischen Ethik bzw. Moralfindung nicht im Wege. Die Akzeptanz der Nicht-Existenz eines freien Willen kann zwar m.A.n. eine gute Ausgangsbasis für ein friedlicheres Miteinander ohne Absolutheitsansprüche sein, ist aber keine notwendige Voraussetzung.


Habe ich meine Position nun klar machen können, ohne Missverständnisse zu verursachen? :^^:
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Do 24. Jan 2013, 00:19

Du behandelst hier zwei Punkte:

1. was bedeutet "Willensfreiheit" und gibt es sie in diesem Sinne?
2. ist Ethik/Moral relativ (z.B. Vereinbarungssache) oder haben moralische Aussagen darüber hinaus einen Wahrheitswert, bzw. ist ethischer Realismus richtig, können moralische Aussagen einen Wahrheitswert haben, kann eine Ethik objektiv richtig sein?

Meiner Ansicht nach haben diese beiden Punkte nun nichts miteinander zu tun, sie sind voneinander unabhängig.

Zu Punkt 1 sagst Du nun:

fopa hat geschrieben:Ich bin davon überzeugt, dass ein freier Wille bloß eine Illusion ist. Demnach halte ich auch die kompatibilistische Sichtweise für überflüssig, denn sie beschreibt keinen realen freien Willen, sondern mMn lediglich einen eingebildeten freien Willen. Es kann deswegen keinen freien Willen geben, weil es keinen unbewegten Beweger geben kann. Der wäre nämlich zu postulieren, um einen 'von sich aus beeinflussenden', also damit realen, freien Willen zu erklären. [...] Ich spreche ja nicht von inkompatibilistischer Willensfreiheit, sondern von inkompatibilistischem Determinismus, der jegliche wirksame Willensfreiheit ausschließt.

Diese Aussagen sind meiner Ansicht nach wertlos, unverständlich, solange nicht klar ist, was mit "realer freier Wille" gemeint ist, was mit "unbewegter Beweger" gemeint ist und solange kein Argument gebracht wird, wieso für es für einen "realen freien Willen" einen "unbewegten Beweger" geben müsse und wieso "inkompatibilistischer Determinismus" jegliche "wirksame Willensfreiheit" ausschlösse.

Das sind so erst mal nur reine unbegründete Behauptungen, die noch nicht mal die verwendeten Begriffe klären.

Wenn das erst mal geleistet werden könnte, müsstest Du zusätzlich noch zeigen können, dass aus einem "realen freien Willen" in Deinem Sinne eine 'übergeordnete Moral' abgeleitet werden könne und bei einem Fehlen eines "realen freien Willens" keine übergeordnete Moral abgeleitet werden könne.

Meiner Ansicht nach ist das insgesamt ein völlig aussichtsloses Unterfangen. Und ich sage das als jemand, der sich ein bisschen mit dem Thema "Willensfreiheit" auskennt, ich sage das nicht nur so aus dem hohlen Bauch heraus.

Das grundsätzliche Problem bei der Diskussion über die Willensfreiheit ist mE, dass es noch niemals ein Inkompatibilist geschafft hat, einen logisch möglichen "realen freier Willen" so darzustellen, dass man geneigt wäre, zu sagen: "ja, in der Tat, dieser 'reale freie Wille' wäre besser als der freie Wille, den die Kompatibilisten anzubieten haben".

Heutzutage gibt es übrigens meiner Erfahrung nach kaum noch Inkompatibilisten (d.h. die Ansicht, Determinismus und Willensfreiheit seien sich ausschließende Gegensätze, Inkompatibilismus und Willensfreiheit seien jedoch keine sich ausschließenden Gegensätze). Statt dessen gibt es viele sogenannte "Harte Inkompatibilisten", die meinen, dass es Willensfreiheit in keiner logisch möglichen Welt, (egal, ob die determiniert oder indeterminiert ist), geben könne. Für diese Ansicht stellt sich aber das Problem der fehlenden Definition eines 'realen freien Willens' noch viel stärker. Und ein zusätzliches Problem ist dieses: man muss nicht nur eine nachvollziehbare Definition liefern, man muss auch irgendwie zeigen, dass diese Definition relevant ist, d.h. von vielen anderen Leuten (intuitiv) geteilt wird. Und das muss man empirisch prüfen, das kann man nicht mal eben so aus dem Bauch heraus behaupten.

Sagen wir mal, ich sagte: "es gibt keinen Mond", jemand fragte: "was meinst Du mit 'Mond' "? und ich sagte: " 'Mond' bedeutet: 'ein Würfel aus grünem Ziegenkäse, der um einen Planeten kreist". Der andere sagte: "na gut, nach Deiner Definition gibt es keinen Mond. Aber da Deine Definition niemand teilt, wird das wohl auch niemanden interessieren". Und nehmen wir zusätzlich versuchshalber mal an, ich legte zwar diese Definition zugrunde, würde die aber nicht benennen wollen, auch nicht auf Nachfragen hin. Dann hätte ich zwar recht mit meiner Aussage, dass es keinen 'realen Mond' gäbe, aber das wäre wohl für andere nicht interessant. Der andere würde vielleicht sagen: "sieh mal, da oben, das ist der Mond". Und ich würde sagen: "aber das ist doch kein 'realer Mond', ein 'realer Mond' muss ganz andere Eigenschaften haben. Aber welche, das sage ich nicht, das da ist jedenfalls kein 'realer Mond'. Und außerdem ist es noch so, dass, weil es keinen 'realen Mond' gibt, unser Strafrecht geändert werden muss, denn das beruht unabdingbar auf einem 'realen Mond'." Welche Reaktion würdest Du dann erwarten? Ich würde ein ziemlich müdes Schulterzucken erwarten.

Meiner Ansicht nach ist die Strategie der Leugner der Willensfreiheit zum Scheitern verurteilt, solange sie keine Definition dessen, worüber sie eigentlich sprechen, vorbringen können und solange sie keine guten Argumente vorbringen können, warum ihre Definition bedenkenswert wäre und sie nicht zeigen können, dass folgen müsse, was sie behaupten.

Und sie ist dann mE sogar dann kontraproduktiv, wenn man damit ein anderes Ziel verfolgt, z.B. ein besseres menschliches Miteinander oder eine Änderung des Strafrechtes oder sonstiger rechtlicher Regelungen. Wozu sollte man auch diesen umständlichen Umweg machen, wenn man diese Ziele auch direkt ansprechen könnte? ME wäre in letztetem Falle eine Einigung sehr viel schneller möglich.

Mal zusammengefasst: ich schlage vor, das Thema "Willensfreiheit" hier einfach fallen zu lassen. Das führt mE nur unnötig vom Thema weg, das bringt nichts. Außerdem meine ich ja eh, dass Dein Punkt 2, bzw. Deine eigentlichen Ziele und Motivationen nichts mit Willensfreiheit zu tun haben.

Zum Punkt 2 sagst Du:

fopa hat geschrieben:Wenn ich mir klar mache, dass ich nur meinen Mitmenschen 'Unrecht' tun kann, nicht jedoch einer konstruierten Abstraktheit, gewinne ich ein großes Stück Freiheit und Selbstbestimmtheit. Denn auf Basis dieser Erkenntnis kann für meine eigenen Werte und Vorstellungen eintreten und diese verändern (in meinem Sinne verbessern).
Mehr noch: Ich kann andersartige Vorstellungen anderer Menschen akzeptieren, denn ich weiß, dass es kein 'absoluten' Moral gibt. Die einzige Moral, an die man sich halten muss/sollte, ist die gemeinsam vereinbarte.

Da ich ebenfalls moralischer Relativist bin, stimme ich Dir hier zu.

Allerdings mit einigen Vorbehalten: meiner Ansicht nach reicht es nicht, etwas (mehrheitlich) zu vereinbaren, um das als richtig anzusehen, (ansehen zu müssen). Meiner Ansicht nach muss eine akzeptable Moral/Ethik darüber hinaus noch einige zusätzliche Kriterien erfüllen, z.B.: sie muss möglichst widerspruchsfrei sein, darf nicht grundlos Gleiches ungleich behandeln und Ungleiches sollte nicht gleich behandelt werden. (An der Stelle wird es unbestritten kompliziert.)

Was moralischen Realimus vs. moralischem Relativismus angeht: solange der moralische Realist zwar behauptet, moralische Aussagen könnten einen Wahrheitswert haben, er aber gleichzeitig zugibt, dass dieser Wahrheitswert von uns nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, (= schwacher moralischer Realismus), dann habe ich kein Problem. Theoretisch mögen wir zwar dann einen Dissens haben, aber praktisch können wir uns dennoch einigen. Und dann käme es mir nur auf die Praktikabilität an.

Grundsätzliche Probleme habe ich nur mit starken moralischen Realisten, so die moralische Wahrheiten behaupten, ohne die aber nachvollziehbar begründen zu können und dennoch verlangen, ich solle die unbesehen akzeptieren.

Du sagst nun noch:

fopa hat geschrieben:Ich glaube, dass die meisten Menschen intuitiv für die meisten Punkte der Liste einen (wie auch immer gearteten) freien Willen voraussetzen. Das finde ich aber nicht schlimm, denn es steht einer konventionalistischen Ethik bzw. Moralfindung nicht im Wege. Die Akzeptanz der Nicht-Existenz eines freien Willen kann zwar m.A.n. eine gute Ausgangsbasis für ein friedlicheres Miteinander ohne Absolutheitsansprüche sein, ist aber keine notwendige Voraussetzung.

Wie gesagt, finde das auch nicht schlimm, (was immer Du auch mit Deinen oben verwendeten Begriffen meinst). Und wie gesagt, stünde hier für mich die Pragmatik im Vordergrund, wichtig wäre, sich auf eine Moral einigen zu können.

Klar setzen die Leute für die Punkte in der Liste einen freien Willen voraus. Nämlich einen kompatibilistischen freien Willen. Und der bedeutet, dass wir keine Marionetten sind, so wie Du weiter oben behauptet hast. Ich glaube, dass die meisten Leute intuitiv die Manipulation, den Selbstwiderspruch in folgendem Satz verstehen: "wir sind alle nur handlungsunfähige Marionetten, als sollst Du so und so handeln".

Selbstwidersprüchlich wäre der Satz vielleicht nicht, wenn er so lautete: "alle sind Marionetten außer mir, ich habe den vollen Durchblick, nur ich weiß, was Sache ist, (ohne das aber zu begründen - Begründungen gegenüber Marionetten wären wohl auch ziemlich sinnlos), also müssen die anderen Leute machen, was ich sage". Obwohl: auch dieser Satz wäre - aber auf andere Weise - selbstwidersprüchlich; es wäre sinnlos, den zu äußern, wenn man andere für entscheidungs- und handlungsunfähige Marionetten hielte, es wäre sinnlos, gegenüber Marionetten zu argumentieren und einen Geltungsanspruch zu erheben. Logisch wäre dann, wenn man mit Gewalt seine als einzig erkannte Wahrheit gegen allen anderen durchzusetzen versuchte. ("Ich weiß sicher, was das Beste für alle ist, die anderen sind ja nur Marionetten.")

Wenn man aber ersthaft meinte, dass alle - inklusive man selber - handlungsunfähige Marionetten wären, dann könnte man nicht mehr berechtigt verlangen, dass einen andere ernst nehmen, dann würde man einen Geltungsanspruch mit dieser Annahme aufgeben. Eine Moral/Ethik für handlungsunfähige Marionetten wäre einfach sinnlos. Auch die Bewertung "sinnlos" wäre sinnlos. Handlungsunfähige Marionetten können nichts beurteilen/bewerten, sie könnten höchstens ihren Mund synchron zu von einer anderen Stelle aus geäußerten Bewertung bewegen, (bzw., genauer gesagt: auch das können sie selbstverständlich nicht, der Mund wird tatsächlich durch den Puppenspieler bewegt.).

Ich sehe nicht, wie man aus diesem Dilemma herauskommen könnte. Und das ist nur das eine Horn des Dilemmas. Das andere Horn ist, dass a) zu definieren wäre, was ein 'realer freier Wille' überhaupt bedeuten soll, b) zu zeigen wäre, dass diese Definition eine landläufige/akzeptierte sei, c) alternativ zu b: dass diese Definition, auch wenn sie nicht geteilt wird, dennoch sinnvoll sei, d.h. dem kompatibilistischen freien Willen ("wir sind keine Marionetten") etwas ganz Entscheidendes fehle und d) begründet zu zeigen, was daraus folgt, (folgen müsse), dass es keinen 'realen freien Willen' nach Definition a gibt.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Do 24. Jan 2013, 02:16

Sorry, dies:

"Heutzutage gibt es übrigens meiner Erfahrung nach kaum noch Inkompatibilisten (d.h. die Ansicht, Determinismus und Willensfreiheit seien sich ausschließende Gegensätze, Inkompatibilismus und Willensfreiheit seien jedoch keine sich ausschließenden Gegensätze)."

ist falsch und war so gemeint:

"Heutzutage gibt es übrigens meiner Erfahrung nach kaum noch Inkompatibilisten (d.h. die Ansicht, Determinismus und Willensfreiheit seien sich ausschließende Gegensätze, Indeterminismus und Willensfreiheit seien jedoch keine sich ausschließenden Gegensätze)."
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon Vollbreit » Do 24. Jan 2013, 10:52

@ AgentProvocateur (aber gerne auch andere, die das Thema interessiert):

AgentProvocateur hat geschrieben:Was moralischen Realimus vs. moralischem Relativismus angeht: solange der moralische Realist zwar behauptet, moralische Aussagen könnten einen Wahrheitswert haben, er aber gleichzeitig zugibt, dass dieser Wahrheitswert von uns nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, (= schwacher moralischer Realismus), dann habe ich kein Problem. Theoretisch mögen wir zwar dann einen Dissens haben, aber praktisch können wir uns dennoch einigen. Und dann käme es mir nur auf die Praktikabilität an.

Grundsätzliche Probleme habe ich nur mit starken moralischen Realisten, so die moralische Wahrheiten behaupten, ohne die aber nachvollziehbar begründen zu können und dennoch verlangen, ich solle die unbesehen akzeptieren.


Ich weiß gerade selbst noch nicht, ob ich mich zu den moralischen Realisten oder Relativisten zählen darf. M.E. handelt es sich um eine Mischform, mit einem leichten Übergewicht für den moralischen Realismus, ich versuche das zu erläutern:

Wenn man von Stufen der Moral redet, was ich gerne tue, vertritt man im Grunde einen moralischen Realismus, da dies irgendwo mit der Überzeugung verbunden ist, die Stufen seien nicht beliebig.

Dass Mitleid besser als Mord ist, würden sofort alle unterschreiben, ohne es im Einzelfall begründen zu können, (was ja selbst schon eine Hierarchie darstellt) und eine Begründung statistischer Art, dass eben die meisten diese Einstellung teilen würden oder dass die Menschheit insgesamt profitieren würde, wenn... oder dass man bessere win-win Optionen schafft, wenn man kooperiert, schaffen auch meiner Meinung nach alle nicht den Sprung ins Sollen.

Das Problem bei der Moral/Ethik scheint mir zu sein, dass es sich nicht um eine rein rationale Geschichte handelt. Die Prämissen der Moral sind nicht allesamt rational abzuleiten, d.h. man kann ihre Entstehung erklären, aber nicht ihr Sollen begründen.

Der moralische Realismus scheint m.E. dahingehend begründbar zu sein, dass Kinder angeborenerweise, im Wechselspiel mit den Eltern, ein Gewissen aufbauen.
Angeborenerweise heißt, dass bereits im ersten Lebensjahr Eindrücke verarbeitet werden, die später als erste Schicht des Über-Ich/Gewissen zu finden ist. Im Wesentlichen werden in der frühen Phase die ersten Interventionen der Eltern als behindernd und willkürlich (als Verbot) erlebt, erst später beginnt das Kind zu erkennen, dass es auch von sich aus Dinge tun kann, für die es gelobt wird, die den Eltern Freude machen und dergleichen, d.h. neben Verboten existieren in der Erlebenswelt des Kindes nun auch Gebote. Diese bilden die zweite Schicht des Über-Ich/Gewissens aus.
Eine dritte Schicht sorgt nun dafür, die vorangegangenen beiden auszutarieren, das heißt, dass die Welt nicht untergeht, wenn man mal etwas falsch gemacht hat und man lernt, dass man nicht der Größte ist und Bewunderung braucht, wenn man mal etwas richtig gemacht, die realistische Schicht des Über-Ich/Gewissens, die natürlich erkennbar rationale Züge annimmt, freilich ohne rein rational zu sein.

Es handelt sich also immer um eine emotionale und rationale Mischform, bei allen Kindern.
Dieser Aufbau eines Über-Ich oder Gewissens ist der „Normalfall“, wenn die Entwicklung nicht behindert wird, durch grobe Verzerrungen in der Intervention der Eltern, wie chronische Gewalt, chronische sexuelle Übergriffe oder wenn das Kind diese Übergriffe miterleben muss. Ferner eine extreme Überbehütung oder eine Zurschaustellung des Kindes, vor Fremden im Bezug auf das Aussehen, oder bestimmte „Kunststücke“, während das Kind ansonsten kaum beachtet wird. (Wenn es primär für seine Leistungen aber nicht für sein Dasein geliebt oder auch nur beachtet wird.)
Auch gibt es die Möglichkeit, dass bei der Entwicklung des Kindes biologisch etwas schief läuft, besonders die Serotoninregulation scheint hier wichtig zu sein.

Ansonsten wäre das der „Normalfall“ im Sinne einer idealen Entwicklung, die es aber in der Realität durchaus gibt und zwar zu 80- 85% (in Europa).
Das heißt, hier würde ich von einem moralische Realismus sprechen, der die Grundlagen legt, für eine spätere unverzerrte moralische Ansprechbarkeit, die eine dynamische Weiterentwicklung des Gewissens impliziert.

In welche Regelwelt oder Normalität man eingefädelt wird, ist m.E. einfach nur anders (wenn wir explizit tyrannische Systeme mal nicht beachten) – hier würde der moralische Relativismus regieren.
Ich weiß nicht ob tendenziell individualistische Systeme generell besser sind als tendenziell kollektivistische, beide scheinen ihre Stärken, so wie ihre Risiken zu haben.
Tendenziell sollte aber auch ein kollektivistisches System dem Individuum Freiheit und Entfaltung seines kreativen Potentials ermöglichen, wo dies prinzipiell (aus ideologischen Gründen) behindernd wird, glaube ich, dass man Potential verschenkt und auch die weitere moralische Entfaltung behindert.
Während dieser Phase des Kollektivismus oder der Identifikation mit einer sozialen Gemeinschaft, kann man lernen, dass das eigene Ich nicht im Mittelpunkt stehen muss, dass alle von einer Kooperation profitieren und dass Zugehörigkeit, über die Familie hinaus, aber auch zu ihr, ein gutes Gefühl ist.
(Die moralische Entwicklung geht zwar prinzipiell weiter, aber ich glaube man muss sehen und anerkennen, dass für viele Menschen hier bereits das Ende der moralischen Entwicklung erreicht ist und m.E. ist es eine Einzelfallfrage inwieweit man jemanden motivieren sollten, weiter zu gehen oder akzeptieren muss, dass es hier Grenzen gibt, deren Erweiterung für den Einzelnen eine konstante Überforderung bedeuten würde.)

Moralische Autonomie zeichnet sich m.M.n. dadurch aus, dass man sich weiterhin zur Begründung vor seinem Gewissen und den anderen verpflichtet fühlt (wo dies nicht der Fall ist, würde ich von moralischer Willkür reden, die ich nicht als Freiheit ansehen würde), insofern würde hier wieder, wenn das der „organische“ nächste Schritt wäre, der moralische Realismus das Ruder übernehmen, allerdings natürlich auf der Basis jener Wert die man (moralisch relativistisch) anerzogen bekommen hat – es hätten auch andere sein können.

Dieser moralische Realismus sieht ganz nett aus, steht aber natürlich in der Gefahr, einfach eine petitio principii zu sein. Wenn ich voraussetze, dass moralische Höherentwicklung mit einer Zunahme der Sorge für andere einhergeht und den Grad der moralischen Entwicklung nun daran messe, inwieweit jemand andere (erst seine favorisierte Gruppe, dann nachher alle Menschen) in seine Überlegungen mit einbezieht, ist es ein gut gemeinter, aber dennoch ein Zirkel.
Was man also nachweisen müsste, ist, dass das Überwinden des konventionellen, antrainierten Soziozentrismus, zugunsten der Fähigkeit diesen gegenüber alternativen Konzepten abzuwägen und seine Wahl oder individuelle Mischform begründen zu können, auch ein moralischer Fortschritt ist.
(Und hier muss man aufpassen, denn Kohlberg zeigt m.E. völlig zurecht in seiner nachträglich eingefügten Zwischenstufe 4 a), dass nicht jede reflexive Zurückweisung des ehemals Gelernten schon ein echter Fortschritt ist, man müsse „zu Ende denken“ fordert auch Apel.)
Dass dieses „zu Ende denken“ dann im Wesentlichen dazu führen soll, dass man einen großen Teil der Werte, die man anerzogen bekommen hat, doch unterschreibt, hat natürlich wieder ein Geschmäckle. Es droht, rein logisch, wieder eine pp, andererseits muss man von aller Logik absehend, konstatieren, dass sich auch das moralisch reife (postkonventionelle) Individuum (in aller Regel) nach wie vor in der moralischen Herkunftswelt bewegen wird, also genau mit diesen Normen klar kommen muss und vor allem auch, genau anhand dieser Normen von seiner Mitwelt beurteilt wird. Das dämpft den Vorwurf, es handle sich um einen schnöden Zirkel, m.E. ein wenig.

Das moralisch entwickelte Individuum würde also nach wie auf dem Boden der Wertesphäre agieren, in die es eingebunden ist, hätte aber zugleich die Möglichkeit, wenn es vor seinem Gewissen (und den verinnerlichten Stellvertretern der Gesellschaft, die ja im inneren Empfinden anwesend sind) eine Ausnahme von der Regel, ein Abweichen rechtfertigen kann, begründet abzuweichen, da es an moralischer Autonomie gewonnen hat und im Notfall auch gegen die Regeln im Namen seines Gewissens agieren könnte.

Die Preisfrage ist nun: Soll man so werden? Ist es wirklich gut, oder eben nur ein typisch europäisches Projekt, ein moralisch reflektierendes Individuum zu werden?
Könnte es nicht besser und einfacher sein (aber einfacher heißt eben nicht zwingend: besser), wenn wir alle viel kollektivistischer wären, dann könnte man das was geboten scheint (z.B. im Bezug auf den Klimawandel und andere Fragen, von denen wir glauben, dass sie uns alle angehen) viel leichter umsetzen. Wenn alle davon profitieren, man also diese Form des Utilitarismus als leitend ansieht, müsste man dann nicht den Kollektivismus predigen?

Oder, ist es vielleicht ein nächster organischer Schritt (wenn man einen moralischen Realismus unterstellt), dass man Empathie und Sorge für immer mehr Menschen empfindet und so, gewissermaßen freiwillig (oder dem Zwang der besseren Argumente folgend) zu der Überzeugung kommt, es müsse an alle gedacht werden und zunächst sei das Überleben aller fühlenden Wesen zu sichern.
Klingt irgendwie gut und nett, hat aber den Nachteil, dass es komisch oder sogar suspekt erscheint, wenn eine fortschreitende Entwicklung, die m.E. das Spektrum der Möglichkeiten immer mehr erweitern sollte (ansonsten hätte ich Schwierigkeiten von einer fortschreitenden Entwicklung zu sprechen) dazu führt, dass der Aktionsradius und das Denkbare und Sollbare immer eingeschränkter wird.

Das kann nun m.E. (mindestens) vier Ursachen haben:

1. Es gibt doch moralische (oder rationale) Letztbegründungen, etwa in der Weise wie Apel sie vorschlägt. Keine Dogmen, die man glauben muss, sondern Schlüsse, zu denen ein denkendes Wesen, wenn es „zu Ende denkt“ in jedem Fall kommen muss. Sozusagen das andere Ende der Evidenzen, die ja als unhintergehbare rationale Erstbegründungen gelten.

2. Man kommt aus seiner Natur nun doch nicht raus. Wir alle teilen (so nicht grob verzerrt oder beschädigt, siehe oben) eine Art moralischer Grundintuition, die letztlich rein biologisch ist. Ein primäres Gefühl für Fairness und Kooperation ist uns angeboren und wir müssen diese Seite „unserer Natur“ unterstützen. Die rationalen Rechtfertigungsversuche sind dann nur die legitimierenden Geburtshelfer dieser Seite unserer Biologie.

3. Es gibt höhere Stufen der Moral, die mit einem Verantwortungsgefühl für immer mehr Lebewesen einhergeht, zu denen man durchbrechen kann, was aber nicht jedem gelingt (und die Frage wäre, was das bedeuten würde).

4. Der moralische Realismus ist falsch, bzw. unzureichend begründbar. Gut gemeint agiert er mit einer Reihe von Zirkelschlüssen, die nur so tun als würden sie das vermeintlich höhere Ziel sein.
Hier wäre die gute Absicht zu honorieren, aber gut gemeint ist eben nicht immer gut.
(Der Einwand wäre, dass es ebenso unbegründet ist, sich unter die Knute der Logik begeben zu müssen, da vieles in der Realität auch nicht den Gesetzen der Logik gehorcht. Der Mensch selbst ist in der Tiefe ambivalent, was wir für die kleinsten Bausteine halten (Quarks & Co.,) verhält sich geradezu aufreizend unlogisch zudem ist unsere Logik kein Naturgesetz, sondern erst einmal ein willkürliches formales Schlusssystem.)
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon stine » Do 24. Jan 2013, 14:04

Puuuh, bist du ein fleißiger Tipper, @Volbreit. Du solltest bei einer Zeitung anheuern :wink: !

LG stine
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon mat-in » Do 24. Jan 2013, 14:39

Ich bin mir sicher, er hat da eine "hier Fülltext einfügen an dem Punkt ab dem keiner mehr liest" ;)
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon fopa » Do 24. Jan 2013, 18:59

Ich werde langsam müde, dir immer wieder alles neu zu erklären. Anscheinend hast du irgendwelche Probleme mit irgendwelchen Wörtern, die ich verwende. Dabei denke ich, dass ich meine Position nun schon mehrfach mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben habe, dass langsam keine Missverständnisse mehr auftreten sollten.
Ich muss leider deinen Post ein bisschen auseinanderzupfen.

AgentProvocateur hat geschrieben:Du behandelst hier zwei Punkte:

1. was bedeutet "Willensfreiheit" und gibt es sie in diesem Sinne?
2. ist Ethik/Moral relativ (z.B. Vereinbarungssache) oder haben moralische Aussagen darüber hinaus einen Wahrheitswert, bzw. ist ethischer Realismus richtig, können moralische Aussagen einen Wahrheitswert haben, kann eine Ethik objektiv richtig sein?

Meiner Ansicht nach haben diese beiden Punkte nun nichts miteinander zu tun, sie sind voneinander unabhängig.
Bitte lesen
fopa hat geschrieben:Ich glaube, dass die meisten Menschen intuitiv für die meisten Punkte der Liste einen (wie auch immer gearteten) freien Willen voraussetzen. Das finde ich aber nicht schlimm, denn es steht einer konventionalistischen Ethik bzw. Moralfindung nicht im Wege. Die Akzeptanz der Nicht-Existenz eines freien Willen kann zwar m.A.n. eine gute Ausgangsbasis für ein friedlicheres Miteinander ohne Absolutheitsansprüche sein, ist aber keine notwendige Voraussetzung.


AgentProvocateur hat geschrieben:Diese Aussagen sind meiner Ansicht nach wertlos, unverständlich, solange nicht klar ist, was mit "realer freier Wille" gemeint ist, was mit "unbewegter Beweger" gemeint ist und solange kein Argument gebracht wird, wieso für es für einen "realen freien Willen" einen "unbewegten Beweger" geben müsse und wieso "inkompatibilistischer Determinismus" jegliche "wirksame Willensfreiheit" ausschlösse.
http://de.wikipedia.org/wiki/Freier_Wille#Inkompatibilismus
http://de.wikipedia.org/wiki/Kompatibil ... tibilismus

AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn das erst mal geleistet werden könnte, müsstest Du zusätzlich noch zeigen können, dass aus einem "realen freien Willen" in Deinem Sinne eine 'übergeordnete Moral' abgeleitet werden könne und bei einem Fehlen eines "realen freien Willens" keine übergeordnete Moral abgeleitet werden könne.
Wo habe ich das behauptet?

AgentProvocateur hat geschrieben:Das grundsätzliche Problem bei der Diskussion über die Willensfreiheit ist mE, dass es noch niemals ein Inkompatibilist geschafft hat, einen logisch möglichen "realen freier Willen" so darzustellen, dass man geneigt wäre, zu sagen: "ja, in der Tat, dieser 'reale freie Wille' wäre besser als der freie Wille, den die Kompatibilisten anzubieten haben".
Du sprichst von einem 'positiven' Inkompatibilisten, der an einen realen freien Willen glaubt.
Ich bin der Ansicht, dass Determinismus einen freien Willen ausschließt, es demzufolge keinen freien Willen gibt. Das ist der 'harte Determinismus' im inkompatibilistischen Sinne.

AgentProvocateur hat geschrieben:Für diese Ansicht stellt sich aber das Problem der fehlenden Definition eines 'realen freien Willens' noch viel stärker. Und ein zusätzliches Problem ist dieses: man muss nicht nur eine nachvollziehbare Definition liefern, man muss auch irgendwie zeigen, dass diese Definition relevant ist, d.h. von vielen anderen Leuten (intuitiv) geteilt wird. Und das muss man empirisch prüfen, das kann man nicht mal eben so aus dem Bauch heraus behaupten.
Ein realer freier Wille bzw. ein unbewegter Beweger wäre ein Phänomen, das ohne physikalische Ursache eine physikalische Wirkung hervorruft, also beispielsweise neuronale Aktivität im Gehirn. Da aber nur physikalische Ursachen physikalische Wirkungen hervorrufen können und diese Ursachen wiederum selbst auf Ursachen zurückzuführen sind, hat ein freier (physikalisch wirksamer) Wille in einem physikalistischen Weltverständnis m.A.n. keinen Platz.[quote=Wikipedia]Innerhalb der Neurowissenschaften wird die Frage des freien Willens kontrovers diskutiert. Einerseits vertreten z. B. Gerhard Roth, Henrik Walter, Wolf Singer, Wolfgang Prinz und Hans Markowitsch die Ansicht, der freie Wille sei eine Illusion. Nach ihrer Auffassung geht der Willensakt neuronalen Prozessen nicht voraus. Stattdessen ergibt sich nachträglich die bloße Illusion, sich frei entschieden zu haben. Das Empfinden, etwas zu wollen – der „Willensakt“ also – resultiere als illusionäres Epiphänomen aus den kortikalen und subkortikalen Prozessen, die bei der Vorbereitung einer Willkürhandlung ablaufen.[/quote]


AgentProvocateur hat geschrieben:Und sie ist dann mE sogar dann kontraproduktiv, wenn man damit ein anderes Ziel verfolgt, z.B. ein besseres menschliches Miteinander oder eine Änderung des Strafrechtes oder sonstiger rechtlicher Regelungen. Wozu sollte man auch diesen umständlichen Umweg machen, wenn man diese Ziele auch direkt ansprechen könnte? ME wäre in letztetem Falle eine Einigung sehr viel schneller möglich.
Wie kommst du auf die Idee, es ginge mir darum, den Glauben an die Nicht-Existenz eines freien Willens zu verbreiten?


AgentProvocateur hat geschrieben:meiner Ansicht nach reicht es nicht, etwas (mehrheitlich) zu vereinbaren, um das als richtig anzusehen, (ansehen zu müssen). Meiner Ansicht nach muss eine akzeptable Moral/Ethik darüber hinaus noch einige zusätzliche Kriterien erfüllen, z.B.: sie muss möglichst widerspruchsfrei sein, darf nicht grundlos Gleiches ungleich behandeln und Ungleiches sollte nicht gleich behandelt werden. (An der Stelle wird es unbestritten kompliziert.)
Mit dem Wort 'richtig' wäre ich vorsichtig, denn es könnte eine real existierende Moral implizieren. Was die Gleichbehandlung von Gleichem angeht, wäre das m.A.n. dem Vereinbarungsprozess zu überlassen. Wer soll denn bestimmen, was gleich oder ungleich ist? Gleiche Rechte für alle? Gleiches Einkommen für alle? Gleiche Schule für alle?


AgentProvocateur hat geschrieben:Ich sehe nicht, wie man aus diesem Dilemma herauskommen könnte. Und das ist nur das eine Horn des Dilemmas. Das andere Horn ist, dass a) zu definieren wäre, was ein 'realer freier Wille' überhaupt bedeuten soll, b) zu zeigen wäre, dass diese Definition eine landläufige/akzeptierte sei, c) alternativ zu b: dass diese Definition, auch wenn sie nicht geteilt wird, dennoch sinnvoll sei, d.h. dem kompatibilistischen freien Willen ("wir sind keine Marionetten") etwas ganz Entscheidendes fehle und d) begründet zu zeigen, was daraus folgt, (folgen müsse), dass es keinen 'realen freien Willen' nach Definition a gibt.
Ich behaupte ja nicht, dass die kompatibilistische Sicht, verbunden mit Determinismus, falsch ist. Sie ist meiner Ansicht nach bloß schlichtweg überflüssig. Wenn der im kompatibilistischen Sinne 'freie' Wille letztendlich determiniert ist, ist er nicht mehr 'real frei' im Sinner einer physikalischen 'freien Wirksamkeit' ohne rein physikalische Ursache, sondern schlicht eine Illusion des menschlichen Gehirns. Meiner Ansicht nach wäre es besser, von einem gefühlt freien Willen zu sprechen oder noch besser von gefühlter Entscheidungsfreiheit.

Was du beim Bild der Marionetten immer einbeziehst, ist die Gefühls- und Willenlosigkeit. Um die geht es aber gar nicht, denn beide sind auch ohne freien Willen vollständig vorhanden. Wille ist nicht gleich freier Wille. Und äußere Beeinflussung unseres Willens (bzw. Wollens) müssen wir nicht unbedingt wahrnehmen. Wir können also auch als 'Marionette' im 'großen, determinierten Theater des Schicksals' Wünsche und Gefühle haben und danach Entscheidungen treffen.
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Beitragvon AgentProvocateur » Do 24. Jan 2013, 23:54

fopa hat geschrieben:Bitte lesen
fopa hat geschrieben:Ich glaube, dass die meisten Menschen intuitiv für die meisten Punkte der Liste einen (wie auch immer gearteten) freien Willen voraussetzen. [...]

Aber das habe ich doch schon beantwortet. Natürlich setzen die meisten Menschen dafür einen freien Willen voraus, nehmen den an, nämlich einen freien Willen im kompatibilistischen Sinne. Siehe einfach noch mal die Punkte oben aus der Liste von Richard Carrier. Ich sehe das wie er: diese Punkt sind eminent wichtig für das Selbstverständnis der meisten Menschen. Daher sind sie auch wenig angetan, wenn jemand ankommt und sagt: "Ihr unterliegt aber einer Illusion, tatsächlich seid Ihr alle nur Marionetten, (d.h. komplett von außen gesteuert)". (Was auch selbstwidersprüchlich wäre - siehe oben.)

Siehe dazu auch: SEP - Arguments for Incompatibilism - Arguments bases on Intuition

Perhaps the most common kind of argument for incompatibilism is an argument that appeals primarily to our intuitions. There are many variations on this way of arguing for incompatibilism, but the basic structure of the argument is usually something along these lines:

If determinism is true, then we are like: billiard balls, windup toys, playthings of external forces, puppets, robots, victims of a nefarious neurosurgeon who controls us by directly manipulating the brain states that are the immediate causes of our actions. Billiard balls, … have no free will. Therefore if determinism is true, we don't have free will.

Intuition-based arguments are inconclusive. Even if determinism entails that there is something we have in common with things which lack free will, it doesn't follow that there are no relevant differences. Billiard balls, toys, puppets, and simple robots lack minds, and having a mind is a necessary condition of having free will.

Hervorhebungen von mir - gerade keine Lust, das zu übersetzen

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Wenn das erst mal geleistet werden könnte, müsstest Du zusätzlich noch zeigen können, dass aus einem "realen freien Willen" in Deinem Sinne eine 'übergeordnete Moral' abgeleitet werden könne und bei einem Fehlen eines "realen freien Willens" keine übergeordnete Moral abgeleitet werden könne.

Wo habe ich das behauptet?

Wenn ich Dich recht verstanden habe, dann hast Du behauptet, dass daraus, dass es keinen freien Willen in Deinem Sinne gäbe, folge, dass es deswegen keine übergeordnete Moral geben könne. Aber diese Behauptung ergibt mE nur dann einen Sinn, wenn Du auch dieser (gegenteiligen) Aussage: "wenn es einen freien Willen in meinem [fopas] Sinne geben könne, dann könnte es auch eine übergeordnete Moral geben" zustimmst. Wenn Du der aber nicht zustimmst, wenn Du meinstest, es könne so oder so keine übergeordnete Moral geben, dann wäre Dein Hinweis auf den "realen freien Willen" ein red herring, denn der wäre dann ja dafür völlig irrelevant.

fopa hat geschrieben:Du sprichst von einem 'positiven' Inkompatibilisten, der an einen realen freien Willen glaubt.
Ich bin der Ansicht, dass Determinismus einen freien Willen ausschließt, es demzufolge keinen freien Willen gibt. Das ist der 'harte Determinismus' im inkompatibilistischen Sinne.

Die Kategorien in der Diskussion um die Willensfreiheit sind mir bekannt. Mein Punkt war aber: Du hast bisher weder ein Argument dafür geliefert, dass Determinismus einen freien Willen (abseits von: "nach meiner [fopas] Definition, also per definitionem") ausschließen würde, noch hast Du ein Argument dafür gebracht, wieso Dein Verständnis des Begriffes "freier Wille" relevant sein solle.

fopa hat geschrieben:Ein realer freier Wille bzw. ein unbewegter Beweger wäre ein Phänomen, das ohne physikalische Ursache eine physikalische Wirkung hervorruft, also beispielsweise neuronale Aktivität im Gehirn.

Ein realer Mond wäre einer, der würfelförmig ist und aus grünem Ziegenkäse besteht.

fopa hat geschrieben:
Wikipedia hat geschrieben:[...] Einerseits vertreten z. B. Gerhard Roth, Henrik Walter, Wolf Singer, Wolfgang Prinz und Hans Markowitsch die Ansicht, der freie Wille sei eine Illusion. Nach ihrer Auffassung geht der Willensakt neuronalen Prozessen nicht voraus. [...]

Die Auffassung, der Willenakt ginge den neuronalen Prozessen voraus oder nicht voraus, ist eine substanz-dualistische, denn man muss dazu annehmen, dass Willenakt und neuronale Prozesse etwas grundsätzlich Verschiedenes seien, um sie derart voneineinder trennen zu können.

Man muss aber kein solcher Substanz-Dualist sein, wie es diese Gehirnforscher anscheinend sind. Man kann auch, so wie ich, Substanz-Monist sein, d.h. den Willensakt als neuronalen Prozess auffassen. Dann aber ergibt die Frage: "was war zuerst da: der neuronale Vorgang oder die Willensentscheidung?" schlicht keinen Sinn mehr, die Antwort muss dann immer lauten: "natürlich gleichzeitig, da ja ein- und dasselbe". Meiner Ansicht nach ist der Substanz-Dualismus zwar eine historisch gesehen philosophisch ehrenwerte, aber dennoch heute überholte Position.

Und X ist eine Illusion dann, wenn X tatsächlich Y ist, aber fälschlich als X wahrgenommen wird. Auf den freien Willen bezogen: Du (und Gerhard Roth, Henrik Walter, Wolf Singer, Wolfgang Prinz und Hans Markowitsch und whoever) müssten zeigen, dass es stimmt, dass mit Entscheidungen die Wahrnehmung einer Unabhängigkeit von neuronalen Vorgängen im Gehirn einhergeht, bzw. eine solche Annahme unweigerlich folgt/getroffen wird.

Das kann man doch nicht einfach mal eben schnell behaupten, ohne das aber empirisch belegen zu können. Das hier ist das Brights-Forum, in dem hoffentlich! empirische Belege vor unbelegten Behauptungen vorgezogen werden.

Ich habe nun derartige empirische Untersuchungen anzubieten, z.B. diese:

Is Incompatibilism Intuitive?
Surveying Freedon

Daraus folgt aber leider nicht Eure Behauptung, dass Leute mehrheitlich an einen freien Willen im Sinne von "Unabhängigkeit von neuronalen Vorgängen" bzw. "Indeterminiertheit" glauben würden. Es folgt vielmehr, dass den Leuten die von Richard Carrier genannten Punkte wichtig sind, nämlich dass sie keine Marionetten sind, sondern dass ihre Entscheidungen und Handlungen ihnen zugehörig sind, sie sich die berechtigt zuschreiben können und diese einen Einfluss auf die Welt haben.

fopa hat geschrieben:Wie kommst du auf die Idee, es ginge mir darum, den Glauben an die Nicht-Existenz eines freien Willens zu verbreiten?

Weil Du das hier in diesem Thread in mehreren Beiträgen so vertreten hast, deswegen.

fopa hat geschrieben:Meiner Ansicht nach wäre es besser, von einem gefühlt freien Willen zu sprechen oder noch besser von gefühlter Entscheidungsfreiheit.

Meiner Ansicht nach nicht. Es besteht mE ein gewaltiger Unterschied zwischen den beiden Fällen, dass jemand gehirngewaschen ist und fälschlich glaubt, er habe aus eigenen Gründen entschieden und gehandelt, tatsächlich aber war er manipuliert, ohne das zu merken und einem anderen, der nicht derart manipuliert ist, der bessere Erkenntnisfähigkeiten hat und besser unterscheiden kann zwischen seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen und denen anderer, die ihm - für ihn unerkannbar, nicht hinterfragbare und daher nicht revidierbar - implementiert wurden. Das mag zwar ein gradueller Unterschied sein, aber das macht ihn nicht gegenstandslos, d.h. ein persönliches Gefühl reicht hier nicht.

fopa hat geschrieben:Was du beim Bild der Marionetten immer einbeziehst, ist die Gefühls- und Willenlosigkeit. Um die geht es aber gar nicht, denn beide sind auch ohne freien Willen vollständig vorhanden.

Bei einer Marionette, einem Billiardball, einem Blatt im Wind eben nicht. Siehe ganz oben das Zitat aus der SEP. Daher ist dieser Appell an die Intuition schlicht falsch und muss einfach missverstanden werden.

fopa hat geschrieben:Wille ist nicht gleich freier Wille. Und äußere Beeinflussung unseres Willens (bzw. Wollens) müssen wir nicht unbedingt wahrnehmen. Wir können also auch als 'Marionette' im 'großen, determinierten Theater des Schicksals' Wünsche und Gefühle haben und danach Entscheidungen treffen.

Nö, eine Marionette kann nun mal keine Entscheidung treffen. Wir sind keine Marionetten, auch keine Marionetten in Anführungszeichen. Wir sind Menschen, wir haben Fähigkeiten, die Marionetten nicht haben, nämlich Erkenntnisfähigkeit, die Fähigkeit, Umstände zu erkennen und diese zu bewerten, die Fähigkeit, gute Gründe von schlechten Gründen unterscheiden zu können, die Fähigkeit, zumindest manchmal halbwegs zuverlässige Einschätzungen der Situation und der Zukunft abliefern zu können.

Stimmt zwar, was angeblich Niels Bohr sagte: "Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen", aber dennoch haben wir diese Fähigkeit - zumindest in Ansätzen. Daraus filgt mE, dass wir nicht lediglich Zuschauer in einem Theater sind, die keinen Einfluss auf das vorgetragene Theaterstück hätten. Beide Bilder, sowohl "Marionette" als auch "Theater" sind mE grundfalsch. Insbesondere übrigens dann, wenn man die Welt als determiniert ansieht, wenn man meint, dass alles eine Ursache wäre, die den weiteren Ablauf der Welt beeinflussen würde. Wie könnte es dann sein, dass ausgerechnet unsere Überlegungen, darauf basierenden Entscheidungen und Handlungen keinen Einfluss auf die Welt hätten, nur auswirkungslose Epiphänomene wären? Und zwar solche auswirkungslosen Epiphänomene, die absolut beispiellos in der Welt wären?

Daraus folgt nun mitnichten, dass wir fehlerlos wären, eine unendliche Erkennisfähigkeit besitzen würden. Das ist sicher nicht der Fall. Wir können uns in vielem irren, vieles falsch einschätzen. Auch kann es unzweifelhaft sein, dass wir Manipulationen nicht erkennen können. Aber daraus folgt nun mal schlicht nicht, dass wir Marionetten seien oder lediglich Zuschauer in einer Welt, in der unsere Entscheidungen und Handlungen keine Rolle spielten, keine Auswirkungen hätten.

Das ist mE erstens eine falsche Dichotomie, ("entweder können wir alles komplett kontrollieren oder aber wir können gar nichts kontrollieren") und zweitens ist das logisch selbstwidersprüchlich, d.h., wenn diese Aussage wahr ist, dann kann sie keine Geltung beanspruchen.

Es wäre für mich nun kein Problen, wenn jemand sagte: "Ihr (wir) habt (haben) weniger Willensfreiheit, weniger Kontrolle, als Ihr (wir) glaubt (glauben)." Dem würde ich zustimmen. Aber erst einen absurden Begriff von Willensfreiheit zu postulieren, dem (zumindest kaum jemand) anhängt und daraus schließen zu wollen, dass Menschen Marionetten seien, also überhaupt keine Kontrolle hätten: no way, weil non sequitur.
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Re: Naturalisierung der Ethik

Beitragvon AgentProvocateur » Fr 25. Jan 2013, 02:05

Nach meinen ziemlich auschweifenden Anmerkungen zur Willensfreiheit oben, die mE hier ziemlich OT sind, mal noch was dazu, was Du zum eigentlichen Thema gesagt hast:

fopa hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:[...] meiner Ansicht nach reicht es nicht, etwas (mehrheitlich) zu vereinbaren, um das als richtig anzusehen, (ansehen zu müssen). Meiner Ansicht nach muss eine akzeptable Moral/Ethik darüber hinaus noch einige zusätzliche Kriterien erfüllen, z.B.: sie muss möglichst widerspruchsfrei sein, darf nicht grundlos Gleiches ungleich behandeln und Ungleiches sollte nicht gleich behandelt werden. (An der Stelle wird es unbestritten kompliziert.)

Mit dem Wort 'richtig' wäre ich vorsichtig, denn es könnte eine real existierende Moral implizieren. Was die Gleichbehandlung von Gleichem angeht, wäre das m.A.n. dem Vereinbarungsprozess zu überlassen. Wer soll denn bestimmen, was gleich oder ungleich ist? Gleiche Rechte für alle? Gleiches Einkommen für alle? Gleiche Schule für alle?

Da ich explizit moralischer Relativist bin, möchte ich natürlich keine (einzig) richtige (übergeordnete, von allen vernünftigen Menschen unweigerlich als richtig ansehbare) Moral implizieren.

Dennoch aber sehe ich (evtl., das wäre erst zu klären) das ein bisschen anders als Du. Die Mehrheit, bzw. die Einigung/Vereinbarung der Mehrheit kann mE keinen Geltungsanspruch (in dem Sinne: "alle außer Dir sind dafür, also musst auch Du die als richtig anerkennen") begründen. Wie schon gesagt: das halte ich für komplizierter.

Mit "Mehrheit" meine ich hier nun nicht lediglich eine "50% + X (0,00001)"-Mehrheit. Es könnte auch sein, dass 99,999999% derselben Meinung sind und jemand, (ein einzelner), die (mE auch berechtigt) dennoch als falsch ansehen würde.

Du fragst: "wer soll etwas bestimmen?" Klar, das wird pragmatisch gesehen die Mehrheit sein müssen, einen andere Möglichkeit gibt es nicht, sehe ich zumindest nicht. Aber der Punkt ist hier, dass, auch wenn die Mehrheit etwas bestimmt, das von dem einzigen Individuum, das dagegen ist, nicht als richtig anerkannt werden muss. Nach den Kriterien und Bewertungen dieses einzelnen Individuums kann die Einigung aller anderen dennoch falsch sein. Und es gäbe dann mE keine Möglichkeit, dieses Individuum zu überzeugen, mE selbst dann nicht, wenn man annähme, dieses Individuum sei vollständig vernünftig, für alle Vernunftgründe zugänglich, auch meinetwegen von einem "god's point of view" heraus.

Das verstehe ich unter "moralischem Relativismus".

Nehmen wir zusätzlich an, das betreffende Individuum sagte: "ich befolge Eure Regel, weil ich es für gut und richtig halte, dass allgemeingültige, mit Mehrheit beschlossene Regeln für alle gelten, da will ich keine Ausnahme sein, dafür habe ich ja keinen Grund". Aber es sagte eben auch: "ich finde diese Regel dennoch falsch". Ich finde, das betreffende Individuum hätte dann recht, d.h. würde nichts falsches sagen. Zu meinen, dass es sinnvoll ist, von der Mehrheit beschlossene Regeln zu befolgen, ist etwas anderes, als so beschlossene Regeln jeweils als richtig ansehen zu müssen. Das eine folgt nicht aus dem anderen.
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Nun ja, eigentlich war aber mein Punkt ein anderer. Ich meine nämlich zusätzlich, dass es sehr wohl Kriterien geben kann, um eine schlechte Moral/Ethik von einer guten Moral/Ethik unterscheiden zu können. Diese Kriterien wären: Widerspruchsfreiheit und ein nachvollziehbares Universalisierungs-/ Verallgemeinerungsprinzip.

Das bedeutet nun nicht, dass es eine einzig richtige Moral/Ethik geben müsse, es kann auch sehr viele gleichwertige Kriterien geben, die diesen Kriterien genügen. Es bedeutet aber, dass man evtl. zwischen 2 Ethiken unterscheiden kann, die eine als schlechter als die andere bewerten kann.

Mal ein (ziemlich schlichtes) Beispiel: jemand sagte: "ich will nicht, dass Du mich tötest, weil mir an meinem Leben sehr viel liegt. Daher darfst Du mich nicht töten, weil ich es nicht will, das ungut fände. Aber an Deinem Leben liegt mir nichts, daher darf ich Dich töten, weil mir Dein Leben ja völlig egal ist und es mir egal ist, was Du willst".

Diese "Ethik" wäre mE falsch und zwar insofern falsch, als sie mit unterschiedlichen Maßstäben messen würde und daher nicht nachvollziehbar ist. Hier fehlte das Universalisierungsprinzip, hier würde Gleiches ungleich bewertet. Wieso sollte ich die Interessen eines Anderen berücksichtigen, wenn der nicht meine Interessen im Gegenzuge ebenso berücksichtigen will?

Und dann reichte es auch nicht, wenn 99,99999% der anderen Leute derselben Meinung wären: dass ich niemanden töten dürfte, aber alle anderen mich töten dürften. Völlig egal, wie ernsthaft sie der Meinung wären. Denn der nachvollziehbare Grund für diese Ungleichbehandlung fehlte. Und dann wäre es wohl eher nicht der Fall, dass ich hier dem o.g. Grundsatz "Regeln sind wichtig, egal, ob man denen im Einzelnen zustimmt oder nicht" zustimmen würde.
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